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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


23. Die Tapfere (Wahre Terielgeschichte)

E in Mann, der sehr reich war, hatte eine Tochter, die an einen Mann im benachbarten Duar (=thedärth; Plural: thüdär) verheiratet war. Im Sommer wohnte der Mann in einer Farm (=la[ha]thib). Im Herbst zog er in den Ort.

Eines Tages hatte die Tochter mit ihrem Manne Streit. Sie lief aus dem Hause. Sie wollte zu ihrem Vater laufen und seinen Rechtsspruch erbitten. Sie lief nach der Farm, weil sie nicht wußte, daß ihr Vater in diesem Jahr schon früh in den Ort gezogen war. Unterwegs kam sie über einen Bach. Am Bache streiften ein Löwe und eine Teriel umher. Die Teriel sah die junge Frau und rief: "Meine Tochter! Komm!" Die Tochter wußte aber sogleich, daß dies eine Teriel war. Sie lief so schnell sie konnte zur Farm des Vaters. Die Teriel und der Löwe folgten ihr in einiger Entfernung.

Die junge Frau kam an die Farm. Sie fand das Farmhaus geschlossen. Sie holte den Schlüssel aus dem Versteck, öffnete, ging hinein, schloß hinter sich die Tür und machte sogleich ein starkes Feuer. Sie legte eine Eisenstange in das Feuer und machte sie am spitzen Ende glühend. Dann nahm sie die Debus ihres Vaters.

Inzwischen strich der Löwe mehrmals um das Haus. Als er sah, daß er nirgends hereinkam, sprang er auf das flache Dach, um von da aus in den Hof zu gelangen. Die junge Frau kam mit der heißen



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Eisenstange heraus. Als der Löwe herabspringen wollte, stieß sie ihm die Stange in den Leib. Der Löwe stürzte auf dem Hofe nieder. Die junge Frau schlug ihm mit der Debus (die Keule) den Kopf entzwei. Danach zog sie die spitze Eisenstange aus dem Leib des Löwen und legte sie wieder in das Feuer, so daß die Spitze wieder glühend heiß wurde.

Die Teriel kam mittlerweile an die Tür, klopfte und rief: "Meine Tochter, öffne! Ich bin deine Mutter!" Die junge Frau rief: "Zeige deinen Kopf am Fenster, damit ich sehe, ob du eine Frau bist." Die Teriel richtete sich auf und zeigte ihren Kopf am Fenster. Die junge Frau ergriff die glühende Eisenstange und sagte: "Wende ihn so, daß ich dein Gesicht von der Seite sehe." Die Teriel wandte den Kopf zur Seite. Die junge Frau stieß die glühende Eisenstange durch das Ohr in den Kopf der Teriel. Sie stieß mit solcher Gewalt, daß die Spitze der Eisenstange am andern Ohr wieder herauskam. Die Teriel starb sogleich.

Inzwischen war der Mann der jungen Frau nach Hause gekommen. Er fand seine Frau nicht daheim. Er lief sogleich in den benachbarten Ort zu seinem Schwiegervater und sagte: "Deine Tochter ist mir weggelaufen. Ist sie nicht bei dir?" Der Vater sagte: "Nein, meine Tochter ist nicht hier; ich will dir aber helfen, sie zu suchen. Ich werde sie verfolgen und totschlagen, weil sie dir nachts entlaufen ist." Der Vater und der Mann der jungen Frau machten sich auf den Weg. Sie kamen, als es Morgen war, zu der Farm. Als sie nahe herankamen, sahen sie, daß am Fenster die Teriel stand. Sie sahen in der Eile nicht, daß die Teriel an der Eisenstange aufgespießt und tot war. Sie erschraken. Sie erschraken so, daß sie gleich zurück in den Ort liefen.

Im Orte riefen sie andere Leute zur Hilfe. Viele Männer machten sich auf den Weg. Sie hatten Waffen und wollten gemeinsam mit der Teriel kämpfen und sie töten. Der Vater und der junge Mann kamen mit den Leuten zurück zur Farm. Nun sahen sie, daß die Teriel getötet war. Sie öffneten die Tür der Farm und kamen auf den Hof. Auf dem Hofe lag der getötete Löwe. Alle Leute staunten und riefen: "Wer hat dies alles getan? Wer hat dies alles getan?" Die Leute kamen in den Wohnraum. Sie fanden die junge Frau auf dem Lager, mit der Hand unter dem Kopfe. Die Leute fragten: "Was ist geschehen?" Die junge Frau gähnte und sagte: "Die Teriel und den Löwen habe ich getötet." Die junge Frau erzählte alles. Die Leute brachen in Jubeirufe aus und riefen: "Eine solche



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Frau ist noch nicht dagewesen!" Alle Leute rühmten die junge Frau. Ihr Mann war sehr stolz auf sie und sagte: "Nun komm aber wieder mit mir nach Hause." Die junge Frau sagte: "Hast du noch nicht begriffen, daß ich von dir weggegangen bin? Lieber schlage ich mich allein mit Löwe und Teriel herum, als daß ich mich wieder mit dir streite." Die Leute aus dem Orte des Vaters riefen: "Die junge Frau hat recht, sie soll nicht wieder zu dem Manne zurückkehren. Wir wollen sie in unserm Ort behalten." Der Vater sagte (barsch) zu seinem Schwiegersohn: "Du siehst, was diese meine Tochter für eine Frau ist. Sie ist zu gut für dich." Der Schwiegersohn mußte allein nach Hause zurückkehren.

Der Vater und die Leute seines Ortes führten die junge Frau jubelnd in den Ort und nach Hause. Der Vater gab seine Tochter einem angesehenen Manne seines Ortes zur Frau. Nach einiger Zeit kam der erste Schwiegersohn mit den Männern seines Ortes und mit Waffen. Er forderte seine Frau. Er erhielt sie nicht. Es entstand ein langer Kampf. Viele Männer wurden getötet. Der Schwiegersohn und die Leute seines Dorfes waren die Schwächeren. Sie wurden geschlagen und mußten ohne die junge Frau wieder zurückkehren.


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