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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Rehbärbchen und Selbthan

In den Steinhöhlen des Haslitales hausten in uralter Zeit hilfreiche Zwerge, ein halb geisterhaftes, halb menschliches Zaubervölkchen, das längst verschwunden ist. Es hatte einen eigenen König, der sich Mückenstutz nannte; Selbthan hiess der Prinz und die Prinzessin Rehbärben. Der König thronte in der Höhe der Furrenfluh auf einem kristallenen Stuhle. Mit den Leuten von Guttannen verkehrten die Zwerge freundschaftlich, sie gaben und nahmen Geschenke und waren unermüdlich mit Dienstleistungen aller Art.

Unweit der Furrenfluh wohnte in einem Bauernhäuschen der Wildheuer Hans. Wie dem König Mückenstutz blühten ihm zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, beide schön und stark gleich Alpenrosen im Frühsommer. Eine gute Kuh und zwei tüchtige Geissen versorgten die zufriedenen Leute mit Milch. Nicht ein einziges Mal kam dem Wildheuer zu Sinn, wie seine Nachbarn es häufig taten, den König Mückenstutz um Gaben anzusprechen. Er fühlte, dass es nicht geraten sei, ohne Not



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mit grossen Herren Kirschen zu essen, weil sie einem gern Stein und Stiel an die Nase werfen. Darum lebte er doch in gutem Vernehmen mit Mückenstutz. Der König und die Königin kamen wohl zuweilen auf Abendsitz und brachten auch den Prinzen und die Prinzessin daher, die mit Vreneli und Benz, den Wildheuerkindem, vertraulich spielten.

Aber die Wildheuerkinder wuchsen rasch heran, wurden gross und stattlich, während sich die Königskinder gar nicht strecken wollten. Beide waren zwar zierlich gebaut, sie sahen fast aus wie gedrechselt; doch als Benz sechzehn Jahre zählte, reichte ihm die Zwergentochter Rehbärben kaum an den Gurt, und Selbthan, der Prinz, dem Vreneli nicht einmal bis an die Spitzen der herunterhangenden goldgelben Zöpfe) Dennoch zeigten Prinz und Prinzessin steigende Liebe zu Vreneli und Benz. Wünschte Vreneli einen Strauss Alpenrosen von jenen, die an ungangbaren Stellen glühten - sofort kletterte Selbthan durch die Klüfte, um das Begehren zu stillen. Wenn Benz am Morgen oder Abend in den Stall kam, war alle Arbeit schon getan; aus irgend einem finstern



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Winkel vernahm er das Händeklatschen und lustige Kichern Rehbärbens, die das Werk vollbracht hatte. Und trieb er zur Sommerszeit das Vieh an dunkeln Schrunden vorbei auf höhere Staffeln, voller Angst, es möchte das eine oder andere Stück ausgleiten und erfüllen - dann sah er der Prinzessin schlanke Gestalt lenkend zwischen den Hörnern der Kuh sitzen und die beiden Geissen an Bastfäden nachziehen. Wollte Vrenelis Spinnrädchen geflickt, der Flachs gehächelt und zurechtgelegt sein - solches geschah, ehe man nur recht daran dachte. Hatte es ein frisches Göller, Mäntelchen oder Kettchen nötig -frühmorgens fand es die Gegenstände zierlich auf seiner Lade. Bedurfte Benz einer neuen Küherkappe, flugs sass ihm eine prächtig mit kunstvollen Stickereien geschmückte, wie sie nur Rehbärben zu fertigen vermochte, auf dem Lockenkopf. Auch fühlte er manchmal eine leise, weiche, glühende Lippenberührung; gleich darauf hörte er jeweilen das bekannte silberne Kichern der lieben Elfe. Die beiden Zwergkinder nahmen das Spiel mit Vreneli und Benz für tiefen Ernst. Unter ihnen war abgemacht,



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dass Benz die Rehbärben und Selbthan das Vreneli heiraten sollte. Der Zwergenkönig war damit einverstanden.

Um den Menschen seine Macht und Güte zu zeigen, kam Mückenstutz auf den Gedanken, dem Wildheuer, als ein strenger Winter waltete und das Heu rar geworden war, die schöne Zeitkuh heimlich zu entführen. Darüber entstand grosser Jammer im Wildheuerhause, bis Mükkenstutz in die Stube trat und die Betrübten tröstete; dem Vater gab er ein gefülltes ledernes Geldsäckchen, der Mutter ein Geisskäslein. Von dem Käslein konnte man sich täglich sattessen, sofern man nur ein Stückchen übrig liess, und auf gleich wunderbare Weise liess sich das Geldtäschchen nicht erschöpfen. So schwand der Winter leidlich vorüber; wieder wurde es Frühling und die Alpen prangten voller Blumen. Da brüllte eines Tages die entführte Kuh vergnüglich vor der Haustüre; auch die Stimme eines Kalbes liess sich hören. Vor dem Häuschen stand Mückenstutz. Lächelnd erzählte er, wie er die Kuh durch den Winter gefüttert und der Geburt des Kälbleins beigewohnt habe. Jetzt sei die Kuh



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das milchreichste Tier des Haslitales, und das Kalb werde seiner Mutter nachschlagen, dafür bürge er.

Wegen des Dankes könnte wohl Rat werden, meinte König Mückenstutz, und er habe eine Bitte an den Wildheuer und seine Frau. Ehe er aber damit herausrücke, müsse er noch ein Unrecht ahnden. Die Feuermännchen, die im innersten Kern der Berge wohnten, seien mehrmals durch die Felsspalten der Furrenfluh heraufgestiegen und hätten mutwillig Zwergengehöfte und Höhlen versengt. Nun gedenke Mückenstutz seinerseits die Feuermännchen mit Wasser heimzusuchen. Zu diesem Ende habe er den hintern Teil der Furrenfluhhöhle in einen gewaltigen Weiher verwandelt, dessen Inhalt noch diese Nacht in die Felsspalten geleitet werde, als Abkühlung für den Hochmut des Gegners. Wenn es dabei etwas stürmisch hergehe, sollten der Wildheuer und die Seinen nicht erschrecken. in der Tat rauschte, brauste, krachte und donnerte es gegen Mitternacht gewaltiglich um die Furrenfluh. Das Häuschen, in dem sich Benz und Vreneli aufs Nachtlager begeben hatten, ward von unsichtbarer Macht hinund



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hergeschaukelt wie eine Wiege. Dann erstillte der Lärm nach und nach, der Mond brach wieder aus den Wolken hervor und die Gegend wurde friedlich wie vorher.

Vreneli hatte den Kampf der Zwerge und Feuermännchen mitangehört. Vor Schrecken und Angst fand es noch jetzt keine Ruhe. Da vernahm es auf einmal seinen Namen rufen. Unten vor der Scheiterbeige sah es den Prinzen Selbthan stehen. «Komm' herunter», bat der Zwerg fiehentlich. Abseits unter die nächste Baun zog Selbthan das Mädchen, weil er ihm etwas Wichtiges anzuvertrauen habe. In der Höhle fiel Selbthan zu Füssen Vrenelis nieder. Sein Vater Mückenstutz, so erzählte er, sei im Kampfe schwer verletzt worden. An seiner Statt werde er, der Prinz, als König regieren; Königin aber könne niemand anders als Vreneli sein!

«Warum nicht gar!» rief Vreneli, und es machte ein Paar Augen, in denen Schalkheit und Erstaunen miteinander wetteiferten. Es dachte nicht daran, sich den Zwerg als Geliebten zu nehmen. Zuerst legte sich Selbthan aufs Bitten, bald aufs Drängen. Vreneli fand das alles unendlich



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spassig; es lachte ausgelassen über den heftig aufsprudelnden Knirps, bis der ungestüme Liebhaber Gewalt anwendete. Auf sein Zeichen sprangen unversehens aus allen Winkeln Zwerge herbei, die das Mädchen blitzschnell mit feinen Fäden umspannen, gleich wie die Spinnen mit ihrem Raub es tun. Das Treiben und Kreisen der Zwerge ging so flink vonstatten, dass sich Vreneli der garstigen Umhüllung erst zu erwehren begann, als es zu spät war. Doch rief es laut um Hilfe. Schon den ersten Ruf hörte Benz. Die Laterne in der einen, den Farrenschwanz in der andern Hand, eilte er nach der Höhle. Wie räumte der Farrenschwanz unter dem keichenden, grölenden Völkchen auf!

Selbthan liess sich von nun an lange nicht mehr sehen. Das zierliche Rehbärbchen dagegen erschien an einsamen Orten und lugte Benz verweinten Auges wehmütig an. Einmal belauschte er Rehbärbchen beim Bade; wundersam wurde es von den Schaumwellen des nahen Wasserfalles umspielt. Doch der Bergsohn verstand ihre Tränen nicht.

Monate vergingen darauf. Vreneli glaubte,



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Selbthan bereue seine arge Tat. Es fürchtete sich bereits nicht mehr, allein in der Kammer zu schlafen. Nur Benz traute dem Landfrieden nicht, und das war wohlgetan. Denn in einer schwülen Sommernacht ward er durch einen gellenden Schrei aus seinem unruhigen Schlummer geschreckt. Im Hui war Benz drüben beim Gaden der Schwester. Vreneli war aus dem Bette gesprungen, bleich vor Grausen und Zorn. Siehe, in Vrenelis Bett lag am Fussende, zusammengerollt wie ein Igel, der Zwergenkönig Selbthan. Benz packte den heulenden Fant säuberlich und hob ihn aus dem Lager. Drüben an der Wand streckte eine Flachshechel ihre langen, spitzigen Eisenzähne empor. Auf die Flachshechel zu schritt Benz, den schreienden Zwerg in den gewaltigen Händen; mitten in die Spitzen setzte er ihn wie auf einen gewöhnlichen Stuhl. «Selbthan, Selbthan! antwortete Benz auf das Jammern des Zwerges. Zuletzt warf er ihn zum Fenster hinaus und der gezüchtigte König entfloh.

So grosse Scham herrschte auf der Furrenfluh über dieses Unglück, dass Seibthan den Hofstaat der Zwerge nach der



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Handeck am Grimselpasse verlegte. Der lustige Selbthan wandelte sich zum traurigen Männchen, das sich vor Reue schattenhaft abhärmte. Als Büssender wollte er seine Sünde durch verdoppelte Dienstfertigkeit an den Menschen sühnen, doch



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das Unglück verfolgte ihn auch hier. Ein piemontesischer Säumer, der mit Rossen und Mauleseln italienischen Wein nach den Nordlanden säumte, misshandelte ihn auf schmähliche Weise. Darüber weinte Selbthan, dass es einen Stein hätte erbarmen mögen. Zur Hölle waren ihm die einst so lieben Berge und Schrunde des Berner Oberlandes geworden. So zog er mit seinem Volk aus nach unbekannten Gegenden. Der Zug der Bergmännchen über die Grimsel dauerte drei Tage und Nächte fort und fort. Man hörte die Wandernden laut schluchzen vor Abschiedsweh. Freilich erreichte auch den Säumer die Vergeltung seines ruchlosen Tuns. Vom Ufer des Brienzersees warf er sich, seinen stürzenden Tieren nach, in den felsigen Abgrund der Wasser. Zur Strafe muss seine Seele säumen bis an den jüngsten Tag. Die Aelpler am Ritzlihorn, an der Handeck und Grimsel kennen den unsichtbaren Säumerzug wohl.

Wenige Jahre später heiratete Vreneli einen hablichen Guttanner Jüngling. Benz, nach dem die Mädchen des ganzen Haslitales verlangend ausschauten, erwuchs zum besten Manne zwischen Meiringen



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und dem Wallis, doch blieb er zeitlebens unbeweibt. Ein stilifreudiges Wesen besonderer Art, das sich niemand erklären konnte, war über ihn gekommen. Manche wollten ihn gesehen haben, wie er in mondsilbernen Nächten die Furrenfluh erstieg, wo nach der Sage Rehbärbchen allein vom ausgewanderten Zwergenvolke verblieben war.

Das Geheimnis des glücklichen Benz wurde erst enthüllt, nachdem er als steinalter Mann sterbend die Augen geschlossen. In der Nacht nach seinem Tode wachte Vreneli, nun selbst ein eisgraues Mütterchen, an der Bahre des Bruders. Da öffnete sich die Kammertüre leise und herein trat Rehbärbchen, unverwelkt schön und jung geblieben. Einen Alpenrosenkranz wand Rehbärbchen ums Haupt des Toten, dann hauchte es einen Kuss auf die kalte Stirn, und mit der schmerzlichen Klage:

Ach könnte Rehbärben
Auch sterben!
verschwand es und wurde fortan von keinem
Menschen wieder gesehen.


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