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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Das schöne Wassermädchen

Wenn in dem kleinen Fischerdörfchen Tracht, das heute den Mittelpunkt des Dorfes Brienz mit der Schifflände und dem Bahnhof bildet, die jungen Burschen auf die Alpen stiegen, um nach altem Brauch frühmorgens am ersten Maitag Fluhblumen vor die Türen ihrer Mädchen setzen zu können, blieb Wilhelm, der schmuckste Jüngling, allein im Dörfchen zurück. Er hatte keine Geliebte, für die er mitziehen mochte, und selbst am Maienabend, wenn die Jugend um die Linde tanzte, verharrte er einsam und in sich gekehrt.

Wieder tönten an einem Pfingsttag die Hirtenhörner und Schalmeien. Munter vergnügten sich Burschen und Mädchen mit Reigentänzen. Da trat plötzlich aus dem Gebüsch des Seeufers ein fremdes Menschenkind in die Reihe der Tanzenden. Niemand hatte die unbekannte Jungfrau je gesehen und doch flogen ihr, weil sie über alle Maßen lieblich war, die Herzen zu. Ihr Kleid unterschied sich nicht



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vom Putze der übrigen Mädchen, bloss dass es aus Seide war, mit Silberfäden geziert. Ihre goldgeflochtenen Haare wallten herab um Hals und Busen.

Jetzt erwachte Wilhelm aus seiner Verschlossenheit, ging auf die Fremde zu und bat sie zum Tanze. Die schöne Jungfrau legte ihre Hand lächelnd in die seinige. Des Jubels darüber war kein Ende. Doch ehe von der Turmglocke die elfte Abendstunde verkündet wurde, hüllte sich das Mädchen in seine wehenden Schleier, eilte dem Gebüsch zu und war augenblicklich verschwunden.

Am nächsten Sonntag kam die Liebliche wieder und von nun an immer, sooft die Hörner zum Tanze riefen. Herrlicher war sie jedesmal und auch stets köstlicher angetan. Wilhelm durfte sie führen, ja zuletzt vergönnte sie dem Jüngling, sie zu begleiten, wenn sich die elfte Stunde verkündete.

Ihren Namen wusste nur Wilhelm, denn er harrte oft lange an dem Orte, wo sie ihn verliess, und küssend hielten sie sich jedesmal umfangen. Ihr Vater, so offenbarte sie ihm, sei der Fürst des Wassers; die schaumweisse Kappe weit über seine trotzige



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Stirne herabgezogen, sitze er oft auf den Wellen des Brienzersees. Wundersam schön, erzählte die Liebende, doch totenstill und einsam sei es in der Tiefe; auf dem Grunde ständen hohe Türme, prächtige Paläste, zauberherrliche Gärten; bloss hören könne man nichts als ein dumpfes Rauschen, und den Gärten fehle der süsse Duft irdischer Blumen. Die Wassermenschen in den Gebäuden des Seegrundes seien von Schlangenschuppen bedeckt, Bärte und Haare der Männer mit Schilf und Muscheln verwachsen. Oefters lauerten und lauschten diese Wesen am Menschenstrande, unerwartet kämen sie an Land und raubten Jünglinge und Männer als Nahrung für die Wassertiere. Fingen sie jedoch Mädchen, so müssten sie des Wasserfürsten Frauen werden. So sei es auch ihrer Mutter ergangen. Sie habe am Strande Blumen gesammelt, als ihr Vater sie geraubt; doch da sie des Wasserfürsten Grausamkeit nicht zu ertragen vermochte, sei sie frühzeitig gestorben, nichts beweinend als das Schicksal ihres Kindes. Wenn der Vater erführe, dass seine Tochter sich zu den Menschen gesellte, so wäre der Tod ihre leichteste Strafe.



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Einst, als das Liebespaar in mondheller Nacht lange in traulicher Umarmung weilte, schlug vom Turme die zwölfte Stunde. Das Mädchen stürzte nieder, so gross war sein Erschrecken. «Leb' auf ewig wohl, mein Geliebter», sagte es, «bald siehst du mein Blut das Wasser röten!» Bleich vor Furcht und Schmerz sprang es alsbald in den nachtstillen See.

Erstarrt stand der Jüngling am Ufer. An einem Weidenzweig bückte er sich nieder und schaute in die Wellen, die goldschimmernd vorüberflossen. Auf einmal verdunkelte sich der helle Strom. Eine blutige Welle spielte heran und verschwand. Da liess Wilhelm die Weide seiner Hand entschlüpfen. Sein Körper sank hinunter ins nasse Grab. Nach drei Tagen fand man den Leichnam am Ufer liegen.

Es war an St. Johannes, als Wilhelm und das Mädchen den Tod gefunden. Lange mied an diesem Tage das Volk den opferheischenden See.


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