Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


22. Waldschrecken (Wahre Terielgeschichte*)

Ein Mann, dessen Beruf es war, in den Dörfern herumzuziehen und Burnusse zu verkaufen, baute sich ein Haus im Walde an einer Stelle, die von Bäumen umgeben und ein wenig von den Nachbarn entfernt war. Er hatte eine Frau, die webte seine Ware (Burnusse), und eine Tochter, die half der Mutter dabei. Meist war der Händler unterwegs auf Reisen, und dann schlossen die Frau und die Tochter die Tür mit Sonnenuntergang ab.

Eines Tages war der Mann wieder abwesend. Die Frau und das Mädchen webten. Es war kurz vor Sonnenuntergang und die Haustüre noch nicht geschlossen. Da trat eine Teriel in das Haus. Die Teriel aß an einem Menschenbein. Sie trat in den Raum, steckte das Menschenbein zwischen zwei Akufin, setzte sich am Webstuhl hin und begann zu weben. Die Teriel webte; sie webte, bis sie alle Wolle verbraucht hatte. Die Teriel sagte: "Gebt mir mehr Wolle." Die Frau sagte: "Wir haben keine Wolle mehr." Die Teriel sagte: "Dann gebt mir Diß (= Schilf)." Die Frau gab ihr Schilf. Die Teriel webte bis tief in die Nacht hinein.

Die Frau sagte endlich: "Ich will nun Essen bereiten." Die Frau begann den Teig zu kneten und sang dabei ganz laut: "Alle meine Nachbarn hört! Es ist ein Ungeheuer in meinem Haus; kommt und helft mir!" Die Nachbarn hörten die Frau aus der Ferne singen und sagten untereinander: "Die Frau arbeitet sogar bei Nacht." Die Nachbarn kamen aber nicht. Die kleine Tochter nahm inzwischen aus dem Feuerloch ein brennendes Scheit, löschte es, beiseite gehend, aus und bemalte sich mit Ruß das Gesicht schwarz.

Die Teriel sah es. Sie wollte das nachmachen. Sie nahm auch einen Scheit aus dem Feuer, löschte ihn aber nicht erst aus, sondern strich sich mit dem glühenden Ende über das Gesicht. Das Haar fing sogleich Funken. Das Haar begann in hellen Flammen zu brennen. Die Teriel schrie: "Mein Haar brennt und mein Kopf brennt auch." Die Teriel lief aus dem Hause und schrie immerfort:



Atlantis Bd_02-203 Flip arpa

"Mein Haar brennt und mein Kopf brennt auch." Die Schwester der Teriel hörte die Rufe im Wald. Sie rief ihrer Schwester zu: "Stürze dich in einen See!" Die brennende Teriel lief an ein Wasser und löschte die Flammen.

Mittlerweile schlossen die Frau und die Tochter die Tür. Als die Teriel nun das Feuer auf ihrem Kopfe gelöscht hatte, kam sie zurück, klopfte an die Tür und sagte: "Öffnet eurer Schwester die Tür, ich will euch helfen." Die Frau und ihre Tochter sagten: "Wir wollen jetzt nicht mehr arbeiten. Wir wollen schlafen." Die Teriel sagte: "So werft mir die Mannskeule heraus, die ich zwischen den Akufin gesteckt habe. Ich will sie aufessen." Die Tochter nahm die Mannskeule und warf sie zum Fenster heraus der Teriel zu. Die fing sie auf und lief damit in den Wald.

Am andern Morgen wachten die Leute auf. Die Frau sagte zu den Nachbarn: "Weshalb seid ihr in der vorigen Nacht nicht gekommen, als ich Euch rief?" Die Nachbarn sagten: "Wir dachten, du arbeitetest." Am Abend kam der Burnushändler von der Wanderung nach Hause. Seine Frau und seine Tochter erzählten ihm, was sie erlebt hatten. Der Burnushändler sagte: "Ihr müßt die Tür des Abends noch früher schließen." Am andern Tage reiste der Händler wieder ab. Eines Tages waren die Frau und ihre Tochter wieder allein zu Hause. Die Frau rieb gerade das Korn auf der Handmühle, um Mehl für den Abend zu haben. Da kam Athrajen (geschildert als wilder Mann mit vorstehenden Zähnen. Der Richter der Toten. Siehe in der Schöpfungsmythologie die Erzählung von Ferraun) herein. Athrajen begann sogleich an der Stelle der Frau das Korn zu mahlen. Die Frau sang in ihrer Angst: "Ihr Nachbarn hört mich! Bei mir ist ein menschliches Ungeheuer." Athrajen grunzte: "Sing nicht! Mach deine Arbeit! Mach deine Arbeit!"

Athrajen mahlte und mahlte. Er mahlte fünf Maß Weizen. Er sagte dann: "Nun gib mir mehr Weizen." Die Frau sagte: "Ich habe nicht mehr Weizen. Jetzt will ich aber das Essen bereiten. Was ißt du ?"Athrajen sagte: "Ich esse ein Maß Salz und ein halbes Maß Weizen." Die Frau sagte: "Ich habe nicht so viel Salz im Hause." Athrajen warf die Frau an die Wand und sagte: "Ich werde dir die Knochen zerbrechen." Die Frau sagte: "Ich habe nicht mehr." Athrajen sagte: "So koche, was du hast." Die Frau kochte alles, was sie hatte. Athrajen aß alles auf.

Athrajen sagte: "Ich habe Durst. Gib mir zu trinken!" Die Frau gab Athrajen alles, was sie im Hause hatte. Athrajen trank



Atlantis Bd_02-204 Flip arpa

alles aus. Er sagte: "Gib mehr!" Die Frau nahm einen Ziegensack und sagte: "Ich will zur Quelle gehen und schöpfen." Sie ging. Athrajen folgte ihr. Die Frau schöpfte. Athrajen trank den ganzen Ziegensack leer. Athrajen und die Frau gingen zurück. Im Hause packte Athrajen die Frau an der Schulter und sagte: "Wenn du mir nicht so viel Essen bereitest, als ich nötig habe, fresse ich dich." Die Frau sagte: "Sieh selbst zu, ob du etwas zu essen findest." Athrajen sah in alle Akufin, in die Speichergrube und alle Töpfe. Er sah, daß nichts mehr im Hause war. Darauf lief er aus dem Hause in den Wald.

Der Mann kam wieder von der Reise zurück. Die Frau erzählte ihm alles, was sich ereignet hatte. Sie zeigte ihm die Flecken auf der Schulter, die von den Griffen des Athrajen geblieben waren. Der Mann verkaufte das Haus im Walde und zog in einen Ort der Ebene.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt