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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Kühreihen und Alphorn

Der Senn auf Bahlisalp hatte seine Kühe gemolken und sie wieder hinausgetrieben auf die Weiden; er durfte es wohl wagen, denn am Himmel war kein Wölkchen zu sehen und eine milde, sternenhelle Sommernacht stand bevor.

Res, so hiess der Bahlisaiphirt, schaute vor der Sennhütte noch dem Scheiden der



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Sonne zu, dann rief er über die tiefe Schlucht hinweg seiner Liebsten den Abendgruss und Aelplersegen zur Seealp hinüber. Gellend und schrill tönte sein rauhes Jauchzen durch die Lüfte und markdurchdringend hallten die ungeschlachten Töne seines kunstlos gearbeiteten Hirtenhorns in die Stille der Berge hinaus. Noch kannten die Menschen die weiche, sehnsuchtsvolle und wundersame Melodie des Kuhreihens nicht. Umsonst harrte der Senn auf einen Gegengruss. Das Seealprösli wies seine Liebe spröde zurück. So begab er sich, als das Abendglühen auch von den höchsten Schneebergen gewichen war, traurig in seine Hütte und hinauf zur Gastern, wo weiches Bergheu das gewohnte Lager bot.

Res wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als ihn ein lautes Prasseln wach werden liess. Erschreckt hob er sich vom Lager empor, und was er da sehen musste, war wohl geeignet, ihm das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Drunten auf dem Herde loderte ein lustiges Feuer; ein riesiger Senn und ein munterer Knecht trugen aus dem Gaden die Gepsen voll blanker Milch herbei und drehten unter



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lautem Knarren und Aechzen des Drehbaumes das Käskessi über den hellen Flammen. An der Feuerplatte sass ein grüngekleideter Jägersmann, der düster in die Glut blickte und sie dann und wann schürte. Schweigend walteten die drei unheimlichen Gesellen, denen Res von der Gastern herunter entsetzt lauschte und zusah, ihrer Obliegenheiten. Als es Zeit war, das Lab zuzusetzen, winkte der geheimnisvolle Senn dem Grünen, und dieser goss aus seiner bauchigen Jagdflasche eine blutrote Flüssigkeit in die Milch.

Mittlerweile trat der junge, blondhaarige Knecht vor die Hütte hinaus. Ihm hatte sich die Türe von selbst geöffnet. Gar bald liessen sich nun Liederklänge vernehmen, wie Res sein Leben lang noch keine gehört hatte. Von langen, gedehnten, tiefen, schwermütigen Tönen bewegte sich die Singweise ohne Worte fast unmerklich hinauf und hinüber zu hellem Gejohle, dann stieg sie wiederum herunter zu ergreifenden, langsam in den fernen Schluchten ersterbenden Klängen. Res hörte deutlich, wie seine Herde, von dem wundersamen Reigen angezogen, sich



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dem Staffel näherte. Hernach ergriff der Sänger ein langes hölzernes, mit Weiden und Wurzeln umwundenes Horn, durch das er die gesungene Melodie in die schweigende Nacht hinaus erklingen liess, nur langsamer und gedehnter als vorher. Rings im Gebirge wurde alles lebendig. Geisterstimmen gaben die Töne von den Fluhwänden zurück, leiser klangen sie nach vom dichten Tann her, ja selbst aus den Lüften herab schienen sie schwebend widerzuhallen.

Der riesige Senn war mit seiner Arbeit fertig geworden und schöpfte die Schotte in die drei bereitstehenden Gepsen heraus. In der ersten erschien sie blutig rot, in der zweiten grün, in der dritten weiss wie frischgefallener Schnee. Res blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn eben rief der Käser mit tieftönender Stimme: «Steig' jetzt herunter, Menschenkind, um eine der Gaben zu wählen!» Furchtbar erschrak Res über diese Aufforderung, doch da auch der Sänger wieder in die Hütte getreten war und ihm ermutigend zuwinkte, fasste er sich und stieg hinab zu den drei Geistermännern. Vor den Gepsen nahm zuerst der Grüne



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das Wort: «Aus einem dieser Gefässe musst du trinken; überlege dir wohl, welches du wählen willst! » Darauf begann der riesige Senn: «Schau her, Büblein! Die mit Rot gefüllte Gepse ist meine Gabe. Nimmst du sie an, so verleiht sie dir die Kraft eines Riesen und beherzten Mut; kein Mensch wird dir widerstehen können. Obendrein gebe ich dir hundert schöne, rote Kühe. Trink darum von meiner Milch, Bübchen!»

«Das wäre nicht schlecht!» überlegte Res; doch kaum gedacht, trat der Grüne hervor: «Nimm lieber einen Zug aus meiner Gepse! Stark genug bist du bereits, um deine Händel selbst auszutragen und einen frischen Hosenlupf ehrenhaft zu bestehen. Wer weiss dazu, wie lange dir die hundert roten Kühe gesund bleiben würden. Ich biete dir bleibendes Gut, harte, runde, blanke Silbertaler und klingendes Gold. Hör' einmal, welch lieblichen Klang es hat!» Damit schüttete der Grüne einen gewaltigen Haufen funkelnder Gold- und Silberstücke vor die Füsse des Hirten. «Was alles könnte man kaufen um dieses Geld!» fuhr der Gedanke durch Res, «wie manche Matte im Tal,



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wie manches Rind, der Liebsten von der Seealp was für ein schönes Haus!» Beinahe hätte er die Gepse des Grünen ergriffen. Aber zur rechten Zeit sah er sich nach dem Sänger um, der schweigend auf sein Alphorn gelehnt im Dunkel der Hütte stand. «Was hast du mir zu bieten, wenn ich aus deiner weissen Gepse trinke? » redete Res, mutig geworden, ihn an.

Der Sänger erhob das Haupt und forschend ruhten seine sanften Augen eine Weile auf Res. Erst dann trat er zu den Gepsen: «Weder übermenschliche Kraft und Wohlstand noch die Schätze irdischen Reichtums stehen in meiner Hand. Meine Gabe besteht in den Klängen und Liedern, die du vernommen hast. Wählst du sie, so ist der Menschenbrust fortan die Macht gegeben, zu verwandten Herzen mit ergreifenden Tönen zu dringen; sogar die Tiere werden auf diese Klänge horchen und ihnen folgen, die Waldbäume lispeln sie nach, die harten Felsen werden sie ans Ohr des Sängers zurückflüstern. Den Kühreihen und das Alphorn biete ich dir, und wenn du sie wählst, wird dir auch jener wundersame Friede, den meine Gabe verleiht. Trinkst



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du aus der dritten Gepse, der reinen, so wirst du am Morgen früh singen und jodeln und das Alphorn blasen können, so schön wie ich es getan habe. Wer dich vernimmt, hat seine Freude an dir; Gott und die Menschen werden dich lieben!»

Regungslos hörte Res das Versprechen des Jünglings und mächtig kämpften die Wünsche in seiner Brust. Bald blickte er auf den riesigen Sennen, dessen Kraft ihm versprochen war, bald auf den Goldhaufen des grünen Jägers, bald in des Sängers lichtblaues Auge. Endlich erhellte ein Sonnenstrahl seine dunkle Ratlosigkeit: «Auch das Herz des Seealpröschens wird mich dann lieben!» «Nun denn», rief er, «ich verzichte auf Kraft und Gewalt und goldene Schätze; ich will arbeiten, lieben und singen solang ich lebe. Der Kühreihen und das Alphorn, sie seien mein!» Damit hob er die dritte Gepse leicht an den Mund. Siehe, der Trunk mundete köstlich, er war nichts anderes als gesunde, würzige Milch.

Als der Bahlisalpsenn die Gepse niedersetzte, waren die Drei verschwunden. Unsichtbar fühlte sich Res auf sein weiches Lager getragen, wo er schlief, bis das



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Vogelgezwitscher die nahende Sonne verkündete. Wie schnell stand er beim ersten Morgenschimmer mit dem Horn vor der Hütte! Dort hob er zu singen an, laut und leise, hell und dunkel und so fein, wie der Blauäugige es diese Nacht gekonnt hatte. Durch Berg und Tal und besonders zur Seealp hinüber tönten die prächtigen Weisen; zweistimmig sangen Res und das Röslein bald und lieblich mischten sich die Herdenglocken mit dem Klang des wortlosen Liedes.

So ist der Kühreihen entstanden. Die traumhafte Weise vererbte sich von Res und Röschen auf ihre Kinder und Kindeskinder. Nie mehr ging das Geschenk, für das sich der Bahlisalpsenn damals entschlossen, den Menschen verloren.


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