Sagen aus dem Berner Oberland

Ausgewählt und herausgegeben von

Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal

Ursprung und Herkommen

Es war ein altes Königreich im fernen Lande gegen Mitternacht, im Lande der Schweden und Friesen; über dieses kam eine grosse Teuerung. In der Not versammelte sich die Gemeinde und durch die meisten Stimmen wurde beschlossen, dass jeder zehnte Mann das Land verlasse. So geschah der Auszug der alten Schwyzer und Hasler aus dem Reiche gegen Mitternacht mit Wehklagen. Wehklagend führten die Mütter ihre unmündigen Kinder. In drei Haufen unter drei Hauptleuten wanderte das Volk. Es waren sechstausend streitbare Männer, grosse Leute gleich Riesen, mit Weib und Kindern, Hab und Gut; sie schwuren, einander ewig nie zu verlassen. Bald wurden sie reich an fahrendem Gut und durch sieghaften Arm, da sie am Rheinstrom den Grafen Peter von Franken schlugen, der ihren Zug wehren wollte. Sie baten Gott um ein Land ähnlich dem Lande ihrer Altvordern, wo sie im Frieden ihr Vieh

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weiden lassen wollten, ohne Kränkung von böser Gewalt. Da führte sie Gott in die Gegend «Brochenbirg», daselbst bauten sie Schwyz. Das Volk mehrte sich und in dem Tal war nicht Raum genug, doch sie scheuten keinen schweren Tag, um den Wald auszuroden. Ein Teil der Menge zog weiter an den schwarzen Berg und bis ins Weissland, wie das Haslital damals hiess, dann nach Frutigen, ins Obersimmental und nach Saanen, nach Abläntschen und Jaun: jenseits Jaun wohnen andere Stämme.

Auch nach der schwedischen Geschichte geschah in sehr entfernten Zeiten eine Auswanderung aus Schweden wegen einer Hungersnot. Wahrscheinlich traf dieses Schicksal die Provinz West-Gotland und die Gegend von Hasleran. Dort liegt ein Tal zwischen dem Gebürgehalle und Hunnenberg, das eine grosse Aehnlichkeit mit dem Oberhasli hat. Die Frauen in jenem schwedischen Lande tragen Kopftücher wie die im Haslital; die Gesichtszüge haben viel Aehnlichkeit wie auch die Sprache. Die Häuser sind alle aus Holz erbaut und mit Steinen bedeckt, und mehrere Berge und Fluren tragen hier wie dort

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fast den gleichen Namen. In einem Edikt hat König Gustav Wasa im Jahre 1555 der Goten gedacht, die durch Deutschland gezogen seien, «bis dass sie kamen in das Swisserland, wo sie sich niederliessen und noch wohnhaftig sind».

Weit mehr als tausend, vielleicht anderthalbtausend Jahre mögen seit dem Zuge der Schweden oder Friesen, wie man das eingewanderte Volk der Ahnen nennt, verflossen sein. Doch nächtlicherweise erhebt es sich mit allen seinen Helden, Weibern und mit dem Tross aus den Gräbern, um heimzukehren ins uralte Heimatland. Nicht schrittbreit weicht es dabei von seiner ursprünglichen Strasse ab. Häuser oder Hütten, die zufällig im Friesenweg stehen, halten darum ihre Türen geöffnet. Sie dürfen den durchziehenden Geisterscharen nicht hinderlich sein.

Auf einer Saanenlandalp mahnte der talfahrende Küher seinen Meisterknecht: «Bschlüß d'Stalltür nit, i wollt 's nit han, la 's wit u wagen offen stahn!» denn: «Uens Stiefeli ist hie etwärist grad buwes ufen Friesenwäg. » Als der Küher weggeschritten war, verschwor sich der Meisterknecht, die Türe nun erst recht verriegeln

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zu wollen. Auch die übrigen Sennen waren damit einverstanden. Doch kaum dass sie nach Einbruch der Nacht zur Gastern gestiegen und eingeschlafen waren, ertönte auf einmal ein ungeheurer Lärm um die Hütte. Zuerst hörten die erschreckten Hirten ein Tosen wie von Wirbelwinden und fallenden Schlaglawinen; hernach klang Glockengeläute; Harsthörner gellten. Näher und näher kam der Heerzug und sein Waffengedröhn widerhallte von den Felsen ringsum. Drei Male rief nun eine Stimme: «Tüet uuf die Tür, tüet uuf den Stall, wann ds Friesenvelch wollt grad derdür!» Gleichzeitig wurde das ganze Hüttendach in die Luft gehoben. Die schlotternden Sennen sahen vom Lager aus die Sterne am Himmel leuchten. In dieser Not erhob sich der Meisterknecht und mutig sprach er: «I ds Herre Name, i tuen uuf!» So schob er den Riegel zurück. Alsbald begann das heimkehrende Volk durch die Hütte zu fluten. Das waren riesenstarke Männer in langem Trupp und Tross! Sie boten dem Meisterknecht einen guten Abend, doch rauschten sie vorbei wie Vogelflug. Weiber und Kinder folgten auf Wagen. Nicht aufhören wollte

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der gespenstische Zug; er dauerte bis in den Morgen hinein.

Dann begab sich der Meisterknecht frierend und fiebernd auf seine Ruhestatt. Seines Lebens wurde er nicht mehr froh. Er starb am Abend desselben Tages zur Strafe für sein Vergehen.

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