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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


21. Die Flucht vor Wuarssen und Teriel

Ein Mann hatte sieben Söhne und eine Tochter. Als die Tochter herangewachsen war, kam ein Mann und bewarb sich um sie. Der Vater gab sie ihm, ohne daß er wußte, wer der Mann eigentlich war. Der Mann war aber ein Wuarssen, der nach der Hochzeit seine Frau mit sich nahm und mit ihr weit fort zog in sein Gehöft. Danach hörte der Vater nichts mehr von der Tochter, und wenn seine Söhne ihn fragten: "Wo ist unsere Schwester," so sagte er: "Sie ist verheiratet und wohnt mit ihrem Manne weit fort von hier in jener Gegend." Als die ältesten vier Söhne nun herangewachsen waren, kamen sie eines Tages zu ihrem Vater und sagten: "Vater, wir wollen uns heute auf den Weg machen und in jene Gegend ziehen, um unsere Schwester, die mit dem fremden Manne verheiratet ist, zu besuchen." Der Vater stimmte zu. Die vier Söhne machten sich am andern Tage auf den Weg und wanderten weit fort, bis sie in die Gegend kamen, in der das Gehöft des Wuarssen gelegen war. In jener Gegend trafen sie den Wuarssen gerade, als er in sein Haus trat und seine Frau, die Schwester der vier Brüder,



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das Haus öffnete. Der Wuarssen aber sah und verschlang die vier Brüder.

Der Vater und seine jüngsten drei Söhne hörten nichts mehr von den vier ältesten Söhnen. Der Vater und seine jüngsten drei Söhne warteten lange auf eine Nachricht über die Rückkehr der vier Burschen. Es kamen aber weder Nachrichten noch die vier Burschen. Als nun so eine lange Zeit verstrichen war, waren auch die jüngsten drei Söhne des Vaters herangewachsen und traten eines Tages vor den Vater und sagten: "Seitdem unsere Schwester verheiratet ist, haben wir alle nichts mehr von ihr gehört. Nach langer Zeit sind unsere vier Brüder herausgezogen, unsere Schwester zu suchen und sind auch verschwunden, ohne daß wir wieder etwas von ihnen vernommen hätten. Nun wollen wir drei uns auf den Weg machen und wollen nach dem Schicksal unserer Schwester und unserer Brüder Ausschau halten. Wir bitten dich, uns dies zu erlauben." Der Vater war sehr betrübt darüber, daß seine letzten drei Kinder nun auch den Weg in jene Gegend antreten wollten. Zuletzt gab er aber mit trauriger Miene seine Zustimmung. Die drei Söhne brachen am andern Tage auf.



***
Diese drei Söhne hatten ihre besonderen Eigenschaften. Der jüngste hieß Chsaß. Er hörte so ausgezeichnet, daß er, wenn er sein Ohr anstrengte, vernehmen konnte, ob ein Mensch, der hinter ihm stand, seine Augenlider öffnete oder schloß. Der älteste der Brüder brauchte nur mit dem Fuße auf den Boden aufzustampfen, so öffnete sich sogleich unter ihm die Erde. Und der zweite war so geschickt, daß er imstande war, einem Huhn das Ei aus dem Leibe zu stehlen, ohne daß das Huhn es merkte.

Die drei Brüder machten sich auf den Weg, ihre verheiratete Schwester und ihre vier verschollenen Brüder zu suchen. Sie wanderten weit, sehr weit, bis sie eines Tages an das Gehöft kamen, in dem ihre Schwester als Frau des Wuarssen lebte. Sie klopften an die Tür und sogleich öffnete die Schwester. Sie erkannte auch sofort ihre Brüder und sagte: "Meine jüngsten drei Brüder, eilt so schnell ihr könnt von dannen. Mein Mann ist ein Wuarssen, der alle Menschen, die in seine Nähe kommen, verschlingt. Vor langer Zeit sind schon eure ältesten vier Brüder angekommen, und ich habe es selbst mit ansehen müssen, wie der Wuarssen, mein Mann, sie verschlungen hat. Eilt deshalb so schnell als möglich von dannen. Denn es ist bald Abend, und dann kommt mein Wuarssen



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nach Hause und wird euch, wenn er euch noch in der Nähe antrifft, sicherlich verschlingen. Ich bitte euch, meine jüngsten drei Brüder, lauft schnell von dannen."

Die drei Brüder sagten: "Liebe Schwester, wir sind froh, daß wir dich endlich gefunden haben und nun etwas über dein und unserer Brüder Schicksal erfahren. Wir wollen nicht gleich wieder von dannen laufen, sondern wollen uns deine Art zu leben und deinen Mann ansehen. Verstecke uns also bis morgens und sorge dich im übrigen nicht so sehr." Die Schwester versuchte es, die Brüder zur Änderung ihrer Absicht zu bewegen. Die Brüder ließen sich aber nicht einschüchtern, sondern bestanden auf ihrem Vorhaben. Es blieb der Schwester also nichts übrig, als dem Wunsche der Brüder nachzugeben. Sie hieß sie in eine Grube in der Kammer steigen, die sie leicht bedeckte.

Als es Abend war, kam der Wuarssen vom Felde nach Hause. Der Wuarssen setzte sich mit seiner Frau zum Essen nieder, und nachdem er alles, was sie ihm auftischte, verschlungen hatte, streckte er sich mit ihr auf seinem Lager aus, um der Nachtruhe zu pflegen. Ehe er jedoch einschlief, nahm er die Haare seiner neben ihm liegenden Frau und schlang sie mehrfach so fest wie nur möglich um seinen eigenen Arm, so daß sie sich nicht, ohne ihn zu wecken, von ihrer Schlafstatt erheben konnte.

Bald darauf erhob Chsaß seinen Kopf und strengte sein Ohr an. Nachdem er einige Zeit lang zu dem Wuarssen hingehört hatte, sagte er bei sich: "Der Wuarssen schläft bis jetzt nur ganz leicht." Er zog den Kopf wieder zurück. Nachdem wieder einige Zeit verstrichen war, erhob Chsaß den Kopf abermals und strengte sein Ohr an. Nachdem er einige Zeit gehorcht hatte, weckte er den zweiten Bruder und sagte: "Der Wuarssen schläft jetzt ganz fest, gehe hin und löse die Haare unserer Schwester so von dem Arm des Wuarssen, daß weder unsere Schwester noch der Wuarssen etwas davon merken." Der zweite Bruder stieg aus der Grube, schlich hin und begann ein Haar nach dem andern von dem Arm des Wuarssen zu lösen. Nachdem dies geschehen war, sagte er es Chsaß.

Chsaß weckte nun den ältesten Bruder und die Schwester, hieß den zweiten Bruder geräuschlos die Tür öffnen und lief dann mit der Schwester und den beiden Brüdern so schnell als möglich von dannen.



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Die Schwester und die drei Brüder eilten so schnell wie möglich in der Richtung auf das Haus ihres Vaters von dannen. Nachdem sie ein gutes Stück weit gelaufen waren, sagte Chsaß: "Wartet ein wenig!" Die Brüder und die Schwester standen still. Chsaß strengte sein Ohr an und horchte in der Richtung auf das Haus des Wuarssen. Nach einiger Zeit sagte er: "Der Wuarssen ist erwacht und sucht das ganze Haus nach uns ab. Laßt uns weiterlaufen."

Die Schwester und die drei Brüder eilten wieder so schnell wie nur möglich von dannen, immer in der Richtung auf das Haus ihres Vaters. Sie waren wieder ein gutes Stück weit gekommen, da sagte Chsaß: "Wartet wieder ein wenig. Ich will hören, was der Wuarssen macht!" Die Schwester und die Brüder hielten im Laufen an. Chsaß strengte sein Ohr an und horchte nach rückwärts. Nach einiger Zeit sagte er: "Soeben verläßt der Wuarssen sein Haus und beginnt hinter uns herzulaufen. Er kann anscheinend sehr schnell laufen, und wir müssen eilen, noch ein Stück weiterzukommen." Die drei Brüder und die Schwester rannten nun mit aller Kraft und so schnell es nur möglich war, immer in der Richtung auf das Haus ihres Vaters.

So kamen sie denn wieder ein gutes Stück weiter und hatten eine lange Wegstrecke zurückgelegt, als der jüngste Bruder sagte: "Meine Schwester, meine Brüder, haltet ein wenig im Laufen an, damit ich horchen kann, ob wir nicht etwa plötzlich von dem Wuarssen überrascht werden können." Die Brüder und Schwester hielten an. Chsaß strengte sein Ohr an. Er hatte aber noch nicht lange hingehört, als er sagte: "Ho! Der Wuarssen ist schon ganz nahe und wird gleich hier sein. Mein ältester Bruder, öffne nur schnell die Erde, so daß wir hineinkriechen können."

Der älteste Bruder stampfte mit aller Gewalt auf den Boden, und sogleich spaltete sich die Erde so weit, daß die drei Brüder mit ihrer Schwester hinabsteigen konnten. Über ihnen schloß sich die Erde wieder. Sie waren noch nicht lange unter die Erde geschlüpft, da kam auch schon der zornige Wuarssen angerast. Der Wuarssen lief immer auf der Spur der Brüder und der Schwester. Er sah immer auf die Erde, um die Spur nicht zu verlieren. Er kam bis dahin, wo die Schwester mit den Brüdern in die Erde gestiegen war. Er blickte rund umher. Er konnte die Fortsetzung der Spur nicht finden. Er lief ein Stück vorwärts; er fand die Spur nicht. Er lief ein Stück nach links; er fand die Spur nicht. Er lief ein Stück nach rechts; er fand die Spur nicht. Er lief im Kreise herum durch das



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Gebüsch. Er fand nirgends die Spur. Da machte er sich denn auf den Heimweg und lief durch den Wald wieder seinem Gehöft zu.

Chsaß strengte unter der Erde sein Ohr an. Chsaß sagte: "Soeben hat der Wuarssen den Rückweg angetreten." Sie blieben noch eine gute Weile unter der Erde. Dann strengte Chsaß wieder sein Ohr an. Er horchte lange hin und sagte dann: "Soeben ist der Wuarssen wieder in sein Gehöft zurückgekehrt. Kommt, wir wollen wieder aufbrechen."

Die drei Brüder und die Schwester stiegen wieder aus der Erde herauf und gingen weiter in der Richtung auf das Haus ihres Vaters zu. Sie waren ein langes Stück weitergegangen, da begegneten sie einer Teriel. Die Teriel begrüßte die drei Brüder und die Schwester und sagte: "Seht, ich habe keine Kinder und liebe doch die jungen Leute so sehr. Seid meine Kinder, ich will euch eine Mutter sein; kommt mit zu mir, eßt bei mir, schlaft bei mir, seid meine Kinder! Kommt mit in mein Haus!" Die drei Burschen und das Mädchen sahen, daß es eine Teriel war. Sie fürchteten aber, die Teriel möchte sie gleich verschlingen, deshalb nahmen sie die Einladung an und folgten der Teriel in ihr Haus. Die Teriel holte sogleich Aghertum (= Brot) und setzte es ihnen vor.

Chsaß schaute indessen überall herum und sagte zur Teriel: "Meine Geschwister haben großen Durst. Bei uns ißt man nicht, ehe man nicht etwas getrunken hat. Ich sehe, es ist aber kein Wasser hier. Bring uns doch etwas Wasser!" Die Teriel nahm einen Krug auf und lief damit zur Quelle. Als sie fort war, sagte Chsaß zu seinen Brüdern und zu seiner Schwester: "Die Quelle der Teriel ist ein gutes Stück entfernt. Deshalb habe ich sie um Wasser gebeten. Lauft ihr zwei Brüder und du meine Schwester nur schnell von dannen. Ich selbst werde noch hierbleiben, um sie festzuhalten und werde dann schon wissen, wie ich mich nachher aus der Angelegenheit herausfinde. Macht ihr nur, daß ihr fortkommt." So machten sich denn die Schwester und die beiden ältesten unter den drei Brüdern auf den Weg und liefen fort, während Chsaß, der jüngste, noch im Hause der Teriel blieb.

Die Teriel kam mit dem Wasser zurück. Der Jüngste sagte: "Meine zwei Brüder und meine Schwester sind drüben auf den Hügel gegangen. Es fiel uns ein, daß die große Herde von Rindvieh, die wir dort haben, ohne Hirt und Treiber ist, wenn wir solange bei dir sitzen. Deshalb sind sie hinübergelaufen und treiben



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das Vieh hierher, um es bei dir unterzustellen. Denn wenn du uns als deine Kinder aufnimmst, wollen wir dich auch als unsere Mutter ansehen und unser schönes Vieh bei dir unterstellen."

Die Teriel war in dem Gedanken an eine neue schöne Rinderherde sehr erfreut und sagte: "Es ist recht, daß ihr mir soviel Vertrauen zeigt. Ihr sollt mitsamt eurem Vieh bei mir gut aufgehoben sein. Wann denkst du denn, daß deine Brüder, deine Schwester und die Viehherde hier sein können?" Chsaß sagte: "Das kommt darauf an, wie leicht sich das Vieh treiben läßt. Aber ich denke, sie werden sicher morgen kommen."

Am andern Tage sagte Chsaß zur Teriel: "Wir wollen noch einige Stangen brechen und ein Gatter bauen, in das wir das Vieh hineintreiben, wenn es ankommt, denn in deinem kleinen Viehstall kann nur ein kleiner Bruchteil unterkommen. Komm, Mutter, hilf mir!" Er ging mit der Teriel zusammen in den Busch, brach Stangen, trug sie mit der Teriel nach Hause und baute mit ihr zusammen ein großes Viehgatter. Als es am Abend fertig war, sagte er zur Teriel: "So, jetzt könnte das Vieh kommen. Die Unterkunft ist bereitet. Das Vieh wird sich durch den Busch aber nicht so schnell treiben lassen!"

Am zweiten Tage sagte die Teriel: "Wo bleiben nur deine Schwester, deine Brüder und die Viehherde?" Chsaß sagte: "Ich will dir einen Vorschlag machen. Ich glaube sicher, für die Armen ist der Hin- und Herlauf beim Treiben der großen Herde durch den Busch sehr schwer. Sie werden vielleicht, wenn wir sie allein lassen, erst zur Nacht ankommen. Ich schlage dir also vor, daß wir beide ihnen entgegengehen und ihnen beim Treiben helfen. Wenn fünf treiben, geht es schneller, als wenn nur drei hin und her laufen. Komm, Mutter, wir gehen ihnen entgegen. Dann kommen sie sicher vor Nacht an."

Die Teriel sagte: "Es ist besser, wenn ich hierbleibe und die Hausarbeit verrichte. Geh du deinen Geschwistern und der Herde entgegen und hilf ihnen, inzwischen will ich einen Hammel schlachten und euch als Abendgericht kochen. Lauf aber, daß ihr mir nicht zu spät wiederkommt." Chsaß sagte: "Ich will es machen, wie du denkst, meine Mutter!"

Chsaß ging hinaus. Er lief bis dahin, wo er seine Geschwister fand, die sich versteckt hatten und auf ihn warteten. Er kam mit seinen Brüdern und seiner Schwester heim, und der Vater war sehr glücklich.


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