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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


19. Die Taubenfrauen (Kurze Inhaltsangabe)

IVI an spricht von einem Alten, der außerordentlich reich ist. Er hat mehrere Häuser mit verschiedenen Sorten von Geld (=itherinnen). Sein Sohn ist aber ein Verschwender, der mit dem Gelde nichts anzufangen weiß, als es unnütz auszugeben. Der Vater hat einen Freund, der ist auch sehr reich; er hat sieben Häuser voll Reichtum und dazu noch sieben Töchter.

Eines Tages beschließen die beiden Alten eine Pilgerfahrt (=laheidj) anzutreten. Sie geben ihren Kindern gute Ratschläge. Sie sagen, daß sie ein Jahr lang unterwegs und fortbleiben werden. Der Vater des Burschen läßt seine Frau und seinen Sohn in besten Umständen zurück. Beide reisen ab.

Der Bursche verkehrt nun nur mit Verschwendern. Er verbringt sehr schnell in dieser schlechten Gesellschaft, was sein Vater im Laufe des Lebens gesammelt und dem Sohn zur Verwaltung zurückgelassen hat. Zuletzt verkauft er das Haus des Vaters und lebt nun in einer elenden Hütte (= taaschiuth).

Es ist vor allem ein Jude, der die Torheit des Burschen ausgenutzt und sich an ihr bereichert hat. Der Jude hat sich hinter die schöne Mutter des Burschen gemacht und lebt mit ihr zusammen. Er gibt dem Burschen jeden Tag so viel Geld, als er braucht, bis eines Tages seine anständigen Freunde zu ihm sagen: "Was, du verbringst erst dein Geld, und dann leihst du von einem Juden, der mit deiner Mutter in Abwesenheit deines Vaters zusammenlebt, noch Geld?" Der Bursche schämt sich nun. Als die Mutter ihm am andern Tage wieder Geld schickt, das sie für ihn vom Juden geliehen hat, weist der Bursche es zurück.

Der Bursche geht nun auf den Markt und beginnt einen Handel mit Bohnen. Damit verdient er jeden Tag vier bis fünf Kupferstücke (=legirsch; Plural: gerusch; sind 10 Centesimestücke, alte westliche Mittelmeerwährung). Für das Geld kaufte er sich Mehl und alles, was er zur Nahrung nötig hat.

Eines Tages hört nun der Jude, daß die Pilgerfahrer auf dem Heimweg und nicht mehr weit fort sind. Er bekommt es mit der Angst und sendet dem Vater des Burschen einen Boten mit folgender Mitteilung entgegen: "Dein Sohn hat all dein Besitztum verschwendet, so daß nichts mehr vorhanden ist; der Jude heiratete deine Frau. Bleibe du fort, denn es ist für dich nichts mehr am



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Orte als die Schande." Der Bote geht ab. Er trifft den Vater und seinen Freund unterwegs. Er sagt alles, was ihm aufgetragen ist und fügt hinzu, daß alles das wahr ist, und daß der Vater daheim nicht einmal etwas zu essen und zu trinken vorfinden werde.

Der Vater bespricht sich mit seinem Freund, dem Vater der sieben Töchter, und sagt: "Kehre du allein nach Haus zurück. Sage meinem Sohn, daß ich unterwegs gestorben sei. Ich will allein an diesem Ort bleiben, wo mich niemand kennt. Ich will meine Schande nicht sehen." Der Vater der sieben Töchter macht sich auf den Heimweg.

Der Vater der sieben Töchter kommt nach Hause. An dem Tag hat der Bursche gerade den Beruf gewechselt und ist Fischer geworden. Der Alte kommt an ihm vorüber und erkennt den Burschen, dieser aber den Alten nicht. Der Alte sagt zudem Burschen: "Bursche, nimm meinen Reisesack auf und trage ihn mir nach Hause. Da werde ich dir dann etwas dafür bezahlen." Der Bursche trägt dem Alten das Gepäck ins Haus. Im Hause frägt der Alte: "Bursche, kennst du mich nicht?" Der Bursche sagt: "Nein, ich kenne dich nicht." Der Alte sagt: "Ich bin der Freund, der mit deinem Vater zusammen auf die Pilgerfahrt auszog. Nun sage mir, wie es kommt, daß ich dich als armen Fischer treffe? Hat dein Vater dir nicht Geld hinterlassen?" Der Bursche sagt: "So ist es." Der Alte fragt: "Wo ist das Geld?" Der Bursche sagt: "Meine Mutter ist die Geliebte des Juden geworden, und ich habe all mein Geld in schlechter Freundschaft ausgegeben, so daß heute alles das, was vorher meinem Vater gehörte, Eigentum des Juden ist."

Der Alte sagt: "Bringe zunächst einmal deine Mutter zu mir. Dann bleibe auch du in meinem Hause. Ich will alles wieder in Ordnung bringen und dann deinem Vater eine Nachricht senden, daß er nach Hause zurückkehren soll, daß ich alles, was er besaß, in deinen Händen vorgefunden habe und daß du sein Besitztum noch vermehrt hast." So siedeln die Mutter des Burschen und der Bursche in das Haus des Alten über.

Der Alte stellt nun eine goldene Ziege auf einem goldenen Kasten her. Er läßt diese durch die Straßen tragen und ausrufen, wer sie kaufen wolle. Im ganzen Orte sind aber nur zwei Männer, die wohlhabend genug sind, ein so wertvolles Stück zu kaufen, nämlich der Vater der sieben Töchter und der Jude. Der junge Mann zieht mit der goldenen Ziege durch die Straßen. Der Jude kommt. Er sieht das Stück und bietet lautschreiend 1000 Goldstücke. Der Vater der



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sieben Töchter kommt des Wegs; hört das und bietet laut 2000 Goldstücke. Der Jude bietet höher. Der Alte treibt ihn herauf, so daß der Jude zuletzt eine ganz ungeheure Summe bietet, eine Summe, die seinen Besitz weit übersteigt. Er bekommt die goldene Ziege auf dem goldenen Kasten.

Der Jude soll nun bis zum andern Tage zahlen; nur dann bekommt er die Ziege. Kann er nicht zahlen, so bekommt er die goldne Ziege nicht und wird außerdem um den Betrag, den er geboten hat, gepfändet. Der Jude verkauft nun umgehend alles, was er hat. Der Alte kauft es auf. Der Jude will nun noch bei andern Leuten leihen. Niemand leiht ihm etwas. Am andern Morgen kann er nicht zahlen. Er wird zum Richter gebracht. Der entscheidet im Sinne des alten Gesetzes. Der Jude muß alles, was er hat, herausgeben und bekommt auch die Ziege nicht, da er sie nicht zahlen kann. Der Jude ist nun ganz arm.

Der Jude will nun nicht aus dem Hause des Pilgerfahrers. Der Agelith wird gerufen. Der Agelith hört alles, hört auch die Schande der Mutter. Der Agelith läßt den Juden töten, und der Bursche tötet seine schändliche Mutter.

Der vom Vater der sieben Töchter durch Botschaft herbeigerufene Vater des Burschen kommt inzwischen an. Der Vater des Burschen sieht, daß sein Haus und all sein Besitz, sogar noch mehr, vorhanden ist. Der Vater ist entzückt und fragt nach seinem Sohn. Der Sohn ist aber, von Scham getrieben, in den Wald gelaufen.



***
Im Walde trifft der Bursche einen Wuarssen. Der Bursche erschrickt. Der Wuarssen hat aber den Burschen sogleich sehr gern. Er fragt ihn, wo er herkommt und wo er hin wolle. Der Wuarssen mag den Burschen gut leiden und sagt ihm, daß, wenn er, der Bursche, ihn, den Wuarssen, von Zeit zu Zeit besuchen wolle, so würde er sich darüber sehr freuen. Er werde ihm außerdem jedesmal etwas schenken.

Der Wuarssen sagt zum Burschen: "Komm!" Er führt ihn an einen Berg, den er öffnet und zeigt, was darin ist. Da ist nun alles Silber, Gold und Edelstein. Der Wuarssen sagt: "Nimm, was dir Freude macht." Der Bursche wählt zwei Diamanten (=liakuth). Zum Abschied sagt der Wuarssen zum Burschen: "Schwöre mir, daß du in einem Jahr mit bloßen Füßen hierher zurückkehrst." Der Bursche sagt: "Ich schwöre dir, daß ich im nächsten Jahr mit



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nackten Füßen hierher zurückkommen will, auch wenn es einen Wuarssen hier gibt, der mich verschlingen will."

Der Bursche kommt heim. Er findet den Vater wieder im Besitze alles dessen, was er früher hatte und was er durch die Güte des Freundes, des Vaters der sieben Töchter, zurückgewonnen. Ja, statt der sieben Goldhaufen von früher sind es jetzt zehn Goldhaufen. Der Bursche zeigt dem Vater alles und zuletzt die Diamanten. Er sagt: "Das ist das Wertvollste. Die Diamanten haben nämlich die Eigenschaft, daß sie alles Wasser, das in einem Gefäß ist, in das man sie wirft, in Gold verwandeln." Der Vater ist tief beglückt.

Der Vater heiratet nun eine junge hübsche Frau. Er redet dem Sohn zu, auch zu heiraten. Der Sohn will dieses aber nicht. Er will nicht heiraten, ehe er nicht den versprochenen Besuch beim Wuarssen abgestattet hat. Nach einem Jahr sagt er dann auch zu seinem Vater: "Nun behalte du alles hier; ich werde eine kleine Wanderung antreten." Der Vater sagt: "Du hast ja aber keine Schuhe an." Der Bursche sagt: "Ich gehe lieber so." Der Bursche sagt sonst nichts und geht.

Der Bursche wandert nun durch den Wald. Der Wuarssen sieht ihn, verwandelt sich in eine alte Frau, tritt ihm unterwegs entgegen und bietet dem Burschen Schuhe an. Der Bursche hat zwar Fußschmerzen, er schlägt die Schuhe aber mannhaft ab. Er sagt: "Ich habe geschworen, mit nackten Füßen zu kommen." Die alte Frau geht. Der Wuarssen nimmt eine andere Gestalt an und tritt dem Burschen an einer andern Stelle wieder unkenntlich und mit dem Schuhangebot entgegen. Er wiederholt dies ein drittes Mal. Der Bursche bleibt standhaft.

Der Bursche kommt wie beschworen mit nackten Füßen am Berg an. Am Berg lauert der siebenköpfige Drachen (=leph'ha) auf ihn und schleudert ihm Feuer entgegen. Der Bursche bleibt unerschrocken und sagt: "Du willst mich erschrecken." Leph'ha kommt ganz nahe an den Burschen; da tritt aber auch der Wuarssen, für den Burschen unsichtbar, heran und schlägt Leph'ha hinter die sieben Köpfe, daß Leph'ha betäubt zur Seite fliegt. Der Bursche ist aber auch in Ohnmacht gefallen.

Er erwacht und geht weiter. Nun kommt ihm die Frau des Wuarssen, eine gutmütige Teriel, entgegen. Der Bursche sieht sie und sagt: "Ich erkenne deine Absicht. Du willst mich hindern, in den Berg zu kommen. Ich werde aber doch hineingelangen." Die



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Teriel fragt: "Weshalb bist du gekommen?" Der Bursche sagt: "Des Berges wegen." Der Bursche kommt an der Stelle an, an der er vor einem Jahr den Wuarssen verließ.

Am Berge ist es sehr kalt. Der Bursche findet aber einen Korb voll Federn. Dahinein legt er sich und schläft nun ganz fest. Während er schläft, kommen der Wuarssen und seine Frau, schließen den Berg auf, setzen den Burschen hinein und machen wieder zu. Als der Bursche erwacht, ist er im dunkeln Berg. Nur in weiter Ferne sieht er ein wenig Licht; dahin führt ein dunkler Gang. Er geht den Gang entlang und kommt am Ende in das Haus des Wuarssen.

Der Bursche wird vom Wuarssen sehr herzlich aufgenommen. Er erhält zum Schutz gegen alle schlechten Wuarssen und Teriel im Lande ein Stück Leder mit Zeichen darauf. Er kann im Gehöft schalten und walten wie er will. Er darf alles öffnen und schließen. Nur ein kleines Häuschen ist da. Das zu öffnen verbietet ihm der Wuarssen. In dem Hause ist nämlich ein Bad. Dieses Bad suchen von Zeit zu Zeit die Tochter eines Agelith mit ihrer Dienerin auf. Die kommen dahin in Taubenkleidern, legen sie ab, baden als Menschen und fliegen, nachdem sie die Federkleider übergenommen haben, als Tauben wieder von dannen.

Der Bursche öffnet, als der Wuarssen einmal abwesend ist, aber doch das Badehäuschen und sieht die beiden bildschönen Frauen. Die Agelithtochter nimmt schnell ihr Federkleid und fliegt fort (Taube =tithebi[a]th). Das Kleid der Dienerin erwischt der Bursche aber gerade noch schnell genug und behält es trotz alles Bettelns. Der Bursche heiratet die schöne Frau und ist zunächst sehr glücklich. Dann aber wird er unglücklich und traurig, weil er mit seiner insgeheim verheirateten Frau heimkehren möchte. Der Wuarssen begreift erst die Traurigkeit des Burschen nicht, kommt dann aber hinter die Geschichte.

Der Wuarssen sagt: "Dann weiß ich, was geschehen ist. Du warst in dem Hause, das ich vor dir verschloß. Kehre also heim. Merke dir aber, daß, wenn du irgendeine Sache vorhast, die schwer ist, du dich immer am besten an mich wendest." Der Bursche bedankte sich und kehrt mit seiner jungen Frau und deren Federkleid heim.

Der Bursche stellt seine Frau seinem Vater vor. Dann zeigt er ihm insgeheim das Federkleid und sagt, daß dieses der jungen Frau nie wieder zu Gesicht kommen darf. Nach einiger Zeit schenkt die



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junge Frau ihrem Manne zwei Knaben; sie weint aber immer, da sie sich in das Land der Heimat zurücksehnt.

Eines Tages ist Tanz. Die junge Frau des Burschen tanzt wunderschön. Der Agelith sieht es und sagt: "Noch einmal! Noch einmal! Diese junge Frau tanzt am schönsten von allen." Die junge Frau sagt: "Du sollst nun aber erst einmal sehen, wie schön es aussieht, wenn ich in meinem Federkleid tanze!" Das muß der Agelith sehen. Er fragt: "Wo ist das Kleid? Wer weiß, wo das Kleid ist?" Die junge Frau, die den Vater des Burschen geheiratet hat, weiß, wo ihr Mann es versteckt hat. Die beiden Frauen gehen, das Kleid zu holen. Die junge Frau des Vaters gibt das Kleid heraus. Die junge Frau des Burschen zieht es an, nimmt ein Kind auf den linken, eines auf den rechten Arm und sagt, Abschied nehmend: "Wenn mein Mann um mich weint, sagt ihm, ich sei im Lande Wakwak!" Dann fliegt sie als Taube mit den beiden Kindern fort.

Der Bursche kommt heim, hört die Geschichte, weint und macht sich auf die Suche nach dem Lande Wakwak. Er sucht den Wuarssen und erzählt dem, was sich ereignet hat. Der Bursche hört nun vom Wuarssen: "Es gibt einen See, der liegt dort. An den See kommen die beiden Tauben alle Tage ans Ufer, legen ihre Federkleider ab und baden als schöne Frauen. Dort gehe hin und nimm die Federkleider."

Der Bursche kam zum See. Er wartet. Die beiden Frauen kommen. Sie legen ihre Federkleider ab und baden als schöne Frauen. Der Bursche schleicht sich heran und stiehlt die beiden Federkleider. Die beiden Frauen betteln und betteln um ihre Kleider. Der Bursche gibt sie nicht. Sie sind zuletzt bereit, seine Frauen zu werden. So kehrt er dann also mit der ersten Frau, die die Dienerin war, und mit der zweiten, noch schöneren, die die Tochter eines Agelith im Lande Wakwak ist, heim.

Als er abends in den Ort seiner Eltern kommt, zaubert die Tochter des Agelith in Wakwak ein Haus hervor, das von Gold und Edelsteinen glänzt und strahlt und am nächsten Morgen das Erstaunen aller Leute des Ortes ist. Der Agelith des Ortes erschrickt über den Anblick des Bauwerkes so, daß er flieht.

Der Bursche mit den zwei schönen Frauen wohnt nun als Agelith in dem herrlichen Hause.

NB.: Den Schlußteil erachte ich für falsch. Die Reise in das Land Wakwak, die mir die Leute von Ait bou Mahdi so schön erzählt



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haben (vorige Geschichte), fehlt hier. Der zweite Taubenfang am See scheint eine junge Version. — Dagegen ist es ausgeschlossen, daß diese zweite Seefangversion etwa ganz neu interpretiert ist, denn ich habe sie 1914 schon in Beni Yenni gehört.

Ferner ist beachtenswert, daß der Wuarssen und seine Frau hier eine so sehr gutartige Rolle spielen. Es sind augenscheinlich unter dem Begriff Wuarssen verschiedene Typen zusammengeflossen. Bei den nomadischen Berbern ist dies noch ausgesprochener. Bei diesen sind unter der Bezeichnung Ghul oder Chul (arabischen Ursprungs) alle Wuarssen, Teriel, Tarochenin (oder Trochannin) usw. zu einem Begriff verschmolzen.


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