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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


18. Die Taubenfrauen (1. Form)

Ein Jäger jagte immer nur auf seinem eigenen Gebiet. Er erlegte anfangs viel Wildpret. Mit der Zeit aber wurde seine Beute immer geringer, denn er hatte alles abgejagt, und nun lebten keine Tiere mehr in seinem Gebiet, so daß er nichts mehr erlegen konnte. Darauf machte er sich eines Morgens auf und zog weiter, um ein neues Jagdrevier zu erreichen. Er wanderte weit in die Wildnis hinein und kam eines Tages an ein Haus, in dem wohnten zwei Mädchen. Der Jäger bat um Unterkunft. Er erzählte, daß er auf der Suche nach einem neuen Jagdgebiet sei, denn in seinem eigenen habe er alles getötet, so daß er da nichts mehr zu suchen habe. Die beiden Mädchen sagten: "Wir nehmen dich sehr gerne auf. Bleibe bei uns wohnen. Sei du unser Bruder, und wir wollen deine Schwestern sein. Wenn es dir recht ist, lehrst du uns das Jagen." Der Jäger war damit einverstanden.

Der Jäger blieb bei den Schwestern wohnen. Er ging tagsüber auf die Jagd und zeigte ihnen das Handwerk. Eines Tages ging die erste Schwester allein auf die Jagd und kam erfolgreich wieder heim. Am andern Tage ging die andere Schwester auf die Jagd und kehrte erfolgreich wieder heim. Am dritten Tage gingen beide Schwestern zur Jagd, und der Jäger blieb allein zu Haus.

Der Jäger saß beim Hause und sah zur Quelle, die nebenan hinter den Büschen gelegen war. Es kamen zwei Tauben. Sie flogen zur Quelle. Die beiden Tauben legten ihr Federkleid ab und wurden zwei schöne Mädchen. Das eine der Mädchen war so schön, daß er kein Auge von ihm wenden konnte. Die beiden Mädchen badeten sich. Der Jäger sah ihnen zu. Der Jäger schlich sich durch das



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Gebüsch. Er wollte das Schönere von den beiden Mädchen greifen. Als er aber gerade neben ihr war, bemerkte sie ihn. Das schöne Mädchen pfiff. Der Jäger wurde sogleich in einen Stein verwandelt. Die beiden Mädchen ergriffen ihre Federkleider, legten sie an und flogen als Tauben von dannen.

Kurze Zeit darauf kamen die beiden Schwestern mit Beute beladen von der Jagd zurück. Sie sahen verwundert, daß das Haus geschlossen war, sie riefen nach ihrem Bruder. Sie riefen ihn, sie suchten ihn und stiegen zuletzt in das Fenster, ohne ihn finden zu können. Die Schwestern sagten: "Es muß sich etwas ereignet haben. Wir wollen uns morgen im Gebüsch verstecken und sehen, ob wir es nicht finden können." Sie versteckten sich am andern Tage im Gebüsch und saßen da noch nicht lange, als die beiden Tauben wiederkamen, um sich zu baden.

Die beiden Tauben flogen herab auf die Quelle, sie legten ihr Federkleid ab, es waren zwei sehr schöne Mädchen, von denen die eine die andere aber noch weit an Schönheit übertraf. Die beiden Taubenmädchen badeten. Eine der zwei Schwestern schlich sich hin und nahm das Federkleid der schöneren fort und versteckte es. Nach einiger Zeit stiegen die beiden Mädchen aus dem Bade. Die eine nahm ihr Federkleid, legte es an und flog als Taube von dannen. Die Schönere sah aber überall nach ihrem Federkleide, suchte und suchte und sagte zuletzt weinend: "Wer hat mein Federkleid genommen ?" Die eine Schwester sagte leise zur anderen: "Du kannst getrost hervortreten. Diese Taubenfrauen tun nur den Männern etwas, nie aber den Frauen." Die Schwester, die das Federkleid genommen und versteckt hatte, trat also hervor und sagte: "Dein Federkleid habe ich dir genommen. Gib du mir erst meinen Bruder wieder, dann können wir weiter über das Federkleid sprechen." Das schöne Mädchen legte ihre Hand auf den Stein, in den sie den jungen Jäger gestern verwandelt hatte, und sogleich stand er wieder als Mann da.

Die Taubenfrau sagte: "Nun gebt mir aber mein Federkleid wieder." Die Schwestern sahen aber, daß der Jäger immer noch wie ein Stein dastand und die Schönheit des Mädchens anstarrte. Die Schwestern sagten: "Du siehst, wie unser Bruder dich ansieht. Wir bitten dich, werde seine Frau und bleibe als unsere Schwester bei uns." Die Taubenfrau sagte: "Die Frauen in meinem Dorfe heiraten nie. Sie wollen keine Männer unter sich nehmen. Wenn ein Mann in unser Dorf kommt, wird er gefressen. Ich kann also euern



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Wunsch nicht erfüllen." Die Schwestern sagten: "Du kannst ja unter uns bleiben und brauchst deinen Mann nicht solcher Gefahr auszusetzen." Zuletzt willigte die Taubenfrau in die Ehe ein.

Der Jäger heiratete die Taubenfrau. Er hielt aber sorgfältig das Federkleid verborgen, denn von Zeit zu Zeit bekam die junge Frau Heimweh nach dem Dorfe ihrer Schwestern. Die junge Frau wurde Mutter und schenkte dem Jäger einen Sohn. Darauf wurde die junge Frau ruhiger und verlangte nicht mehr so oft ihr Federkleid. Nachdem der kleine Junge schon einige Monate alt war, bekam der Jäger Heimweh nach seiner Mutter und sagte zu den Schwestern: "Hütet ihr, meine Schwestern, meine Frau und meinen kleinen Sohn wohl. Ich will auf einige Tage nach Hause wandern und meine Mutter besuchen." Der Jäger machte sich auf den Heimweg. Er traf seine Mutter sehr wohl an und sagte: "Ich habe mich auch verheiratet, habe eine sehr schöne junge Frau und einen kleinen Sohn." Die Mutter schalt aber und sagte: "Was, du bist verheiratet und hast einen Sohn und kommst allein, ohne Frau und Kind? Schnell, kehre zurück und zeige sie mir, damit wir uns über dein Glück freuen können. Nachher lasse sie aber auch einige Zeit bei mir, denn ich will die Frau meines Sohnes näher kennen lernen."

So kehrte denn der Jäger zurück, um seine Frau und sein Kind auch zu holen. Er nahm außerdem das Federkleid heimlich mit, weil seine Frau ihn einmal gebeten hatte, es ja stets in ihrer Nähe zu halten, damit sie es zur Hand habe, wenn ihr einmal etwas zustieße. Der Jäger brachte Frau und Kind und Federkleid zu seiner Mutter und sagte: "Halte das Federkleid ja gut verborgen und laß es meine Frau nie wissen, wo es ist. Halte meine Frau stets im Gehöft und laß sie nie ausgehen, denn sie ist so schön, daß es sicher ein Unglück gibt, wenn andere Männer sie sehen." Die Mutter versprach es, und der Jäger nahm Abschied, um wieder in den Wald zu den Schwestern auf die Jagd zu gehen.

Am andern Tage hatte die Mutter die Befehle ihres Sohnes schon vergessen. Als es Morgen war, sagte sie zu der jungen Frau: "Komm, wir wollen zusammen aufs Feld zur Arbeit gehen." Sie nahm ihre Harke und folgte der Alten durch den Ort. Alle Leute im Orte blieben erstaunt über solche Schönheit stehen. Niemand, der einmal die Augen zu ihr gewandt hatte, konnte sie wieder abwenden. Ein Barbier, der auf der Straße einem Mann den Kopf rasierte,



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schnitt diesem aus Versehen und ohne es beim Hinsehen auf die schöne Frau zu merken, ein Ohr ab, und der, dem das widerfuhr, merkte nicht einmal, daß ein Ohr abgeschnitten war, so war er durch den Anblick dieser Schönheit gefangen genommen. Am Ende des Ortes trafen sie den Amin. Der sah die schöne junge Frau auch, blieb stehen, sah ihr nach, bis sie auf den Feldern verschwunden war und sagte für sich: "Die schöne junge Frau muß ich heiraten."

Nachdem sie den Tag über gearbeitet hatten, kamen die alte und die junge Frau abends vom Felde heim. Kaum waren sie in ihr Haus getreten, so kam der Amin herein und sagte zu der alten Frau: "Entweder du gibst mir die Frau deines Sohnes oder ich töte dich." Die alte Frau sagte: "Wie kann ich dir denn die Frau meines Sohnes geben?" Der Amin sagte: "Ich sage dir noch einmal, ich will diese junge Frau hier heiraten; entweder du gibst sie mir oder ich werde dich töten." Die alte Frau wußte vor Angst nicht, was sie sagen sollte. Die alte Frau schwieg. Die junge Frau sah, daß ihre Schwiegermutter schwieg. Da sagte sie zu der alten Frau: "Dieses soll kein schlimmes Ende nehmen. Ich will nicht, daß der Amin dich tötet. Deshalb rate ich dir, gib mir meine Goldsachen und mein Federkleid. Wenn ich das habe, kannst du dem Amin sagen, er solle mich nehmen." Die alte Frau lief in ihrer Angst hin und holte das Federkleid und den Goldschmuck der jungen Frau. Die junge Frau sagte zum Amin: "Warte einen Augenblick draußen. Du wirst mich gleich herauskommen sehen." Der Amin ging hinaus.

Die junge Frau nahm ihren kleinen Sohn auf den Arm. Sie hängte den Goldschmuck um. Sie nahm das Federkleid um und flog gleich darauf als Taube mit dem Kinde zum Fenster hinaus. Die Taube setzte sich auf das nächste Dach und rief von da aus: "Du, Mutter meines Gatten, höre mich. Sage meinem Mann, wenn er wiederkommt und nach mir fragt, —sage ihm, wenn er dann über meinen Verlust unglücklich ist: ,Deine Frau ist im Dorfe Wuak-Wuak. Im Dorfe Wuak-Wuak kannst du sie abholen'." Dann flog die Taube mit dem Kinde von dannen.

Wenige Tage später kam der Jäger aus dem Jagdgebiet zurück zu seiner Mutter. Er trat in das Haus und fragte nach seiner Frau. Er sah seiner Mutter sogleich an, daß seine Frau fort war. Er sagte: "Meine Mutter, habe ich dir nicht gesagt, du solltest meine Frau nie auf die Straße gehen lassen, da sie zu schön ist? Meine Mutter, habe ich dir nicht gesagt, du solltest das Federkleid sorgfältig verborgen halten, damit sie es nie sähe?" Die Mutter sagte: "Mein



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Sohn, habe ich es gewußt, daß du eine Taube geheiratet hast? Ich habe nicht gewußt, daß sie eine Taube war. Ich dachte, sie sei eine Frau wie andere. Deine Taube hat dir hinterlassen, daß, wenn du ihren Verlust nicht verschmerzen könntest, du sie im Dorfe Wuak-Wuak wiederfinden würdest. Nun schilt deine alte Mutter nicht ob einer Torheit, die du begangen hast, denn ich habe noch nicht gehört, daß ein vernünftiger Mann eine Taube aus einem Orte namens Wuak-Wuak geheiratet hat."

Der Jäger machte sich auf und begab sich sogleich auf die Suche nach dem Dorfe Wuak-Wuak. Der Jäger wanderte sehr weit, er fragte überall nach dem Dorfe Wuak-Wuak, er konnte aber nirgends jemand finden, der das Dorf Wuak-Wuak kannte.

Eines Tages wanderte er wieder des Weges dahin, da traf er zwei Leute, die sich sehr stritten. Die beiden Leute hatten eine Mütze und zwei Stöcke neben sich liegen. Der Jäger trat heran und sagte: "Was ist die Ursache eures Streites? Kann ich euch behilflich sein ihn zu schlichten?" Der eine der beiden Streitenden sagte: "Die Sache ist folgende: Hier haben wir eine Mütze, wer diese Mütze aufsetzt, den kann niemand sehen. Er kann ungesehen durch das Dorf Wuak-Wuak gehen, das dort hinten liegt. Dann haben wir hier zwei Stöcke. Wenn man diese beiden Stöcke gegeneinanderschlägt, so entsteht aus der Erde ein Kriegshaufe, der kämpft jeden nieder, der sich feindlich in den Weg stellt. — Wir beide streiten uns nun um den Besitz dieser beiden Sachen. Sage uns, ob einer von uns beide Sachen haben soll und welcher von uns beiden, oder welcher von uns den einen und welcher den anderen Gegenstand haben soll. Wir werden dir dankbar sein, wenn du den Streit schlichtest, daß keiner dabei besser wegkommt als der andere." Der zweite sagte: "So ist es, wir möchten, daß keiner von uns beiden besser aus der Trennung hervorgeht als der andere." Der Jäger sagte: "Wenn es euch darauf ankommt, daß keiner von euch beiden bei der Teilung besser wegkommt als der andere, so kann euch geholfen werden. Legt beide Sachen hier auf den Boden und geht dann bis auf die Spitze jenes Hügels. Wenn ihr dort angelangt seid, wendet euch um und fangt beide an zu laufen. Dann werden wir sehen, wer von euch zuerst hier ankommt."

Die beiden Leute waren einverstanden. Sie gingen in der Richtung auf den Hügel fort. Kaum aber waren sie fortgegangen, so setzte der Jäger die Mütze auf, nahm die beiden Stöcke in die Hand



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und ging mit großen Schritten nach der Gegend zu, in der nach Angabe der Burschen das Dorf Wuak-Wuak liegen sollte.

Der Jäger erreichte das Dorf Wuak-Wuak. Er begegnete nur Frauen. Da er seine Mütze auf hatte, konnte keine Frau ihn sehen. Der Jäger ging im Dorfe Wuak-Wuak umher. Keine Frau sah ihn. Er trat endlich in eine Hütte. In der Hütte war seine Frau mit seinem Kinde. Der Jäger setzte sich neben ihr nieder und nahm seine Mütze ab. Seine Frau erkannte ihn, sie erschrak. Sie sagte: "Mein Gatte, wenn meine Schwestern dich sehen, werden sie dich töten und essen. Denn meine Schwestern wollen keine Männer in ihrem Dorfe haben. Fliehe daher sogleich wieder, wie du gekommen bist."

Der Jäger blieb sitzen. Der Jäger sagte: "Ich bin weit gegangen, um dich zu finden, ich bin so weit gegangen, wie du geflogen bist. Nun kehre ich nicht wieder ohne dich und mein Kind zurück. Wenn es dir recht ist, gehen wir morgen ganz früh zusammen zurück. Wenn du es nicht willst, will ich mich lieber von deinen Schwestern töten und essen lassen. Allein kehre ich nicht zurück." Als die Frau das hörte, sagte sie: "So bleibe heute nacht hier. Morgen früh wollen wir dann gemeinsam mit unserm Kinde zurückgehen."

Am andern Morgen brach der Jäger mit seiner Frau und seinem Kinde so früh auf, daß noch keine der Bewohnerinnen Wuak-Wuaks auf war. Eine der Frauen von Wuak-Wuak wachte auf und schnupperte umher. Sie schrie laut: "Meine Schwestern! Meine Schwestern! Ich rieche einen Mann! Kommt schnell, wir wollen ihn töten und verschlingen." Alle Frauen von Wuak-Wuak sprangen auf. Alle Frauen von Wuak-Wuak eilten aus den Häusern. Alle Frauen eilten auf die Straße und stürzten sich hinter dem Jäger her. Die junge Frau weinte und sagte: "Mein Gatte, jetzt werden dich meine Schwestern töten und essen." Der Jäger sagte: "Habe keine Sorge."

Der Jäger ging mit seiner Frau und seinem Kinde gelassen seine Straße. Die Frauen von Wuak-Wuak waren ganz dicht hinter ihm. Da nahm der Jäger die beiden Stöcke und schlug sie gegeneinander. Sofort stieg aus dem Boden ein ganzer Haufe von Kriegern auf, die wandten sich gegen die Frauen von Wuak-Wuak. Die Frauen von Wuak-Wuak mußten mit den Männern kämpfen und konnten nicht an ihnen vorbei zu dem Jäger und seiner Frau gelangen.

Der Jäger aber ging mit seiner Frau und seinem Kinde wieder in den Wald zu den Schwestern und blieb da wohnen.


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