Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


17. M'hamd Laschälschis Brautwerbung

Ein Agelith (Fürst) hatte sieben Töchter. Alle sieben waren sehr schön. Die Jüngste übertraf sie aber alle an Schönheit. Sie waren alle sieben klug. Die Siebente war aber klüger als alle andern. Der Agelith liebte alle seine Töchter. Die Jüngste aber liebte (lieben thamthient) er mehr als alle andern. Der Agelith sagte: "Wer es wagt, meine Tochter heiraten zu wollen, der mag kommen. Ich will sie dem zur Frau geben, dem es gelingt, sie zum Sprechen zu bringen. Jedem aber, der sich um meine Tochter bemüht und dem dies nicht gelingt, werde ich den Kopf abschlagen lassen."

Alle Leute in diesem wie in den andern Ländern wußten von der Schönheit und Klugheit der jüngsten Tochter des Agelith. Deshalb kamen viele von allen Seiten und ließen sich in die Kammern der jüngsten Tochter des Agelith führen. Da sprachen sie denn das Klügste und Lustigste, was sie nur wußten. Es wurde nirgends im Lande so viel Kluges und Lustiges erzählt, als in der Kammer der jüngsten Tochter des Agelith. Aber die jüngste Tochter des Agelith hörte all das Kluge und Lustige an und sagte gar nichts dazu. Sie lachte nicht und sprach nicht. Wenn sie nicht die Augen und die Hände bewegt und dazu von Zeit zu Zeit gegähnt hätte, hätte man



Atlantis Bd_02-166 Flip arpa

meinen können, es sei kein menschliches Wesen. Sie aber war ein Mensch wie alle andern. Nur wurde ihr das Kluge und das Lustige allmählich so fade, wie eine Speise ohne Salz.

Zuletzt glaubten alle Leute, es werde nicht mehr gelingen, das schöne Mädchen zum Sprechen zu bringen. Auch die, die sich um das Mädchen bewarben und die doch nachher getötet wurden, glaubten nicht mehr an den Erfolg. Aber es war nun einmal wie eine Krankheit über die Leute gekommen. Sie liefen ohne Hoffnung hin, erzählten das Klügste, was sie wußten und ließen sich dann köpfen. Die schöne Tochter des Agelith selbst wurde dabei aber immer müder und müder. Zuletzt sah sie die Leute, die zu ihr kamen und ihr Klügstes und Lustigstes sagten, gar nicht mehr an, sondern schlief über all der Klugheit und Lustigkeit ein.

Im Lande lebte aber ein Mann, der hieß M'hamd Laschäischi (Laschäischi der Lustige). M'hamd Laschäischi hörte viel von der jüngsten Tochter des Agelith reden. Seine klügsten und besten Freunde machten den Versuch, sie zum Sprechen zu bringen und verloren den Kopf. Da machte sich M'hamd Laschäischi eines Tages selbst auf den Weg, ging zum Agelith und sagte: "Ich möchte deine jüngste Tochter heiraten." Der Agelith sagte: "Gut, M'hamd Laschäischi, gehe in die Kammern meiner jüngsten Tochter und versuche sie zum Sprechen zu bringen. Gelingt es dir, so sollst du sie zur Frau haben. Gelingt es dir nicht, so lasse ich dir den Kopf abschlagen." M'hamd Laschäischi sagte: "Ich bin damit ebenso einverstanden wie soundsoviele andere vor mir."

M'hamd Laschäischi wurde nun in die Kammern der jüngsten, schönsten Tochter des Agelith geführt. Das schönste Mädchen saß auf einem Stuhl von Gold. Daneben stand ein leerer Stuhl, der war nur von Silber. M'hamd Laschäischi ging auf das schönste Mädchen zu und sagte: "Es gehört sich nicht, daß meine zukünftige Frau auf einem Stuhl von Gold sitzt und mir, ihrem zukünftigen Gatten, nur einen Stuhl von Silber anbietet." Damit ergriff er das schönste Mädchen, hob sie von dem goldenen Stuhle auf und setzte sie auf den silbernen Stuhl. Dann setzte er sich auf den goldenen Stuhl und sagte: "Dieses ist nur, damit es uns nicht etwa einfällt, zu gähnen."

Das schönste Mädchen besah den M'hamd Laschäischi. M'hamd Laschäischi sagte nichts. Das schönste Mädchen wünschte sich in Gedanken (tzathim = mit heimlichen Gedanken) eine Tasse Kaffee. Die Tasse kam sogleich in ihre Hand. Das schönste Mädchen trank



Atlantis Bd_02-167 Flip arpa

den Kaffee. M'hamd Laschäischi fuhr die Tasse aber an und sagte: "Was, du Tasse, bist du so wenig höflich (=l'mana), daß du mir, als dem zukünftigen Manne deiner Herrin, nicht einmal einen Gruß sagen kannst, wenn du in das Zimmer kommst?" Die Tasse erschrak und sagte: "Sei gegrüßt, M'hamd Laschäischi." M'hamd Laschäischi sagte: "Sei gegrüßt, meine Tasse!"

Das schöne Mädchen besah M'hamd Laschäischi. M'hamd Laschäischi sagte nichts. Das schönste Mädchen wünschte sich in Gedanken einen Schleier (=thimhärnd), um sich den Mund zu wischen. Der Schleier kam in ihre Hand. Das schönste Mädchen strich sich mit ihm über den Mund. M'hamd Laschäischi sagte zu dem Schleier: "Ho, Schleier! Du bist ebensowenig höflich wie die Tasse! Weißt du nicht, daß du den zukünftigen Gatten deiner Herrin zu grüßen hast, wenn du in das Zimmer kommst?" Der Schleier erschrak und sagte: "Sei gegrüßt, M'hamd Laschäischi!" M'hamd Laschäischi sagte: "Sei gegrüßt, mein Schleier! Mein Schleier erzähle mir etwas Kluges!"

Der Schleier sagte: "Ich verstehe nur (=am) die Orakelsprache (l'charuf lechales = die versteckte Sprache) der Frauen. Diese Sprache ist sehr teuer (weil schwer verständlich). Wirst du mich denn verstehen und meine Fragen beantworten können?" M'hamd Laschäischi sagte: "Versuche es doch. Wenn es etwas Kluges ist, kann ich vielleicht antworten."

Der Schleier sagte: "Es waren vier geschickte Männer. Der eine konnte ein Ei unter einem Huhn wegnehmen, ohne daß das Huhn es merkte. Der zweite konnte es hören, wenn der Tau niederfiel (Tau =n'thä oder n'thyä). Der dritte wußte stets, ob die Menschen schlafen oder wachen. Der vierte konnte mit seinem Stock die Erde spalten. Alle vier kamen einmal zusammen und nahmen einem Rebhuhn ein Ei. Der eine schlich sich heran und beobachtete, ob das Rebhuhn schlief. Der zweite horchte, ob sie niemand beobachte. Der dritte nahm das Ei. Welcher von den vieren hat nun das Hauptverdienst am Gewinn des Eies?"

M'hamd Laschäischi sagte naiv (=naya): "Nur der, der mit seinem Stocke die Erde zu spalten vermag!" Da sprang das schönste Mädchen erregt von seinem silbernen Stuhle auf und sagte: "Was, so (= sufl'ha) obenhin behandelst du die klugen Fragen (eigentlich Rätsel = l'charuf lechäles) der Frauen. Du wählst als Verdienten den einzigen, der gar nichts getan hat. Bisher waren lauter kluge Männer hier, und bisher ist in diesen Kammern nur Kluges gesprochen



Atlantis Bd_02-168 Flip arpa

worden!" M'hamd Laschäischi lachte und sagte: "Ich spreche nicht mit dir, meine zukünftige Gattin! Ich spreche mit dem Schleier!" Das schönste Mädchen sagte: "Wenn ich solche schlechte Antwort höre, juckt es mich (= cetschäiya) zu schelten." M'hamd Laschäischi sagte: "Sei nicht böse, meine zukünftige Gattin. Alle Leute haben hier so viel Kluges gesagt, daß es nicht möglich war, dich mit Klugheit zum Sprechen zu bringen. Ich verspreche dir aber, in Zukunft neben dem Dummen auch Kluges zu sagen."

Die Zeugen gingen zum Agelith. Sie sagten zum Agelith: "Deine jüngste und schönste Tochter hat soeben mit M'hamd Laschäischi gesprochen." Der Agelith sagte: "Meine Tochter hat gesprochen? So soll denn M'hamd Laschäischi sie zur Frau haben. Sagt mir doch aber, wie M'hamd Laschäischi dies erreicht hat?" Die Zeugen sagten: "M'hamd Laschäischi hat es mit einer dummen Antwort erreicht." Der Agelith sagte: "Eine richtig angebrachte Dummheit ist oft ein Zeichen der höchsten Klugheit."



***
M'hamd Laschäischi heiratete die jüngste Tochter des Agelith. IVI Der Agelith veranstaltete ein großes Fest. Nachdem das Fest vorüber war, sagte M'hamd Laschäischi zu dem Agelith: "Nun erlaube mir, daß ich mit meiner jungen Frau heimkehre." Der Agelith sagte: "Geh denn. Für den Rückweg muß ich dir aber noch etwas sagen, das darfst du nicht vergessen. Auf dem Rückwege kommst du an eine Wegkreuzung. Der eine Weg ist länger, der andere kürzer. Nimm den langen Weg, er ist der gefahrlose. Vermeide den kurzen. Er ist so gefährlich, daß du kaum daheim ankommen wirst."

M'hamd Laschäischi nahm Abschied und kam an den Kreuzweg Am Kreuzweg sagte er: "Ich werde nicht den langen nehmen. Ich gehe auf dem kurzen Wege." M'hamd Laschäischi kam bis zur Mitte des Weges, da trat ihm ein gewaltiger Wuarssen entgegen dessen Keule bestand aus einem Baum, dem nur einige kleine Äste abgeschnitten waren, so daß er in einen ordentlichen Astballen auslief. Der Wuarssen kam auf M'hamd Laschäischi zu, brüllte und sagte: "Sogar die Ameisen und Fliegen haben geschworen, dieser Weg in Zukunft nicht mehr nehmen zu wollen. Und du gehst ausgerechnet (eigentlich ausdrücklich =lametha) gerade diesen Weg." M'hamd Laschäischi sagte: "Der Weg war mir angenehmer. Aber wenn du willst, können wir zusammen ringen. Wir wollen sehen,



Atlantis Bd_02-169 Flip arpa

wer den andern in die Höhe zu werfen imstande ist." Der Wuarssen legte seine Keule fort und sagte: "So komm!"

Der Wuarssen packte M'hamd Laschäischi und hob ihn in die Luft. Dann setzte er ihn wieder auf die Erde. M'hamd Laschäischi lachte. Er hatte neunundneunzigmal mehr Kraft als der Wuarssen. M'hamd Laschäischi packte den Wuarssen, warf ihn in die Luft, so daß er höher flog als der höchste Baum, fing ihn auf und legte ihn über seine Knie, um ihn zu töten. Der Wuarssen aber schrie: "Dreimal!" (wörtlich: schrä thietha [31 ibethen [Weg]). M'hamd Laschäischi sagte: "Es ist mir recht." Der Wuarssen hob erst M'hamd Laschäischi in die Luft. Er konnte ihn aber schon nicht mehr so hoch heben wie das erstemal. M'hamd Laschäischi warf dann aber den Wuarssen in die Luft, so daß er so hoch flog wie ein Hügel. Er fing den Wuarssen auf und stellte ihn auf die Erde. M'hamd Laschäischi sagte: "Nun ruhe dich ein klein wenig aus, und dann versuche es noch einmal." Der Wuarssen stürzte sich zornig auf M'hamd Laschäischi und packte ihn. Er war jetzt aber schon so ermüdet, daß er M'hamd Laschäischi kaum bis an die Hüften heben konnte. M'hamd Laschäischi sagte: "So, mein Wuarssen, nun hole noch einmal tief Atem und paß auf, daß du beim Herunterfallen die Erde nicht verfehlst." M'hamd Laschäischi faßte den Wuarssen fest an. Er warf ihn in die Lüfte. Der Wuarssen flog so hoch wie der Djurdjurra ist und war zuletzt in der Luft kaum mehr zu sehen. M'hamd Laschäischi fing ihn aber mit seinen Armen auf und sagte: "Bist du nun zufrieden, mein Wuarssen?"

Der Wuarssen sagte: "Ich schwöre (= gullau; infinitiv = limin) dir, daß, wenn du mich leben lassen willst, ich dir als Sklave die besten Dienste leisten will." M'hamd Laschäischi sagte: "Es ist recht, komm mit mir." Dann ging M'hamd Laschäischi mit seiner jungen Frau und dem Wuarssen bis an seinen Ort. Am Orte angekommen, verabschiedete sich der Wuarssen und sagte: "Nimm hier einen Büschel von meinen Haaren. Wenn du mich je vonnöten hast, brauchst du nur die Haare zu verbrennen, und ich werde dir sogleich zu Hilfe kommen." M'hamd Laschäischi nahm die Haare, steckte sie ein, verabschiedete sich von dem Wuarssen und ging mit seiner jungen Frau in den Ort.

Der Vater M'hamd Laschäischis kam seinem Sohn entgegen, begrüßte ihn und führte ihn und dessen junge Frau in das Haus. Im Hause entschleierte M'hamd Laschäischi seine junge Frau. Kaum aber sah der Vater die Schönheit der Tochter des Agelith, so entbrannte



Atlantis Bd_02-170 Flip arpa

er in schwerer Eifersucht (=ttthmin) gegen seinen Sohn; er hatte keinen andern Gedanken mehr und sehnte sich danach, seinen Sohn zu töten, um seine Schwiegertochter selbst heiraten zu können.

Der Vater M'hamd Laschäischis sagte auf dem Männerplatz zu seinen Freunden: "Wer meinen Sohn tötet, den will ich reich belohnen." Ein Mann sagte: "Überlaß das mir; ich werde das besorgen." Der Mann kam zu M'hamd Laschäischi, lud ihn ein und sagte: "Komm mit mir auf jenen Hügel dort. Wir wollen zusammen Kiff (heute Hanf) rauchen." M'hamd Laschäischi war einverstanden.

M'hamd Laschäischi ging mit dem Mann auf den Hügel und rauchte mit ihm Hanf. Nach einiger Zeit bekam M'hamd Laschäischi einen heißen Kopf und dann schlief er ein. Da sprang der Mann auf M'hamd Laschäischi und riß ihm die Augen aus. Der Mann lief mit den Augen M'hamd Laschäischis zurück in den Ort zu dem Vater M'hamd Laschäischis und sagte: "Hier sind die Augen deines Sohnes."

M'hamd Laschäischi lag einige Tage auf dem Hügel. Dann bekam er einen großen Hunger. Er fühlte in seine Tasche, ob er nicht etwas Brot fände. Dabei fielen ihm die Haare des Wuarssen in die Hände. M'hamd Laschäischi zog das Feuerzeug (= thanischa) aus der Tasche, schlug Feuer und verbrannte die Haare des Wuarssen.

Sogleich kam der Wuarssen. Der Wuarssen weinte. Er nahm M'hamd Laschäischi auf den Rücken und trug ihn aus der Sonne in den Schatten eines Baumes. Am Baume stritten sich gerade zwei Schlangen miteinander. Die eine Schlange tötete die andere. Der Wuarssen sah es und schalt die Schlange. Der Wuarssen sagte: "Ihr habt wohl keine Scham, daß bei euch ein Bruder den andern tötet?" Die Schlange sagte: "Oh, mein Bruder ist nicht tot. Das hat gar nichts zu bedeuten. Denn wenn ich meinen Bruder getötet habe, so kann ich ihn auch wieder lebendig machen." Dann lief die Schlange hin, riß etwas Kraut ab und rieb es. Sie legte das Kraut der toten Schlange auf die Wunde. Die tote Schlange erhob sich und lief mit der andern fort in den Busch.

Der Wuarssen ging sogleich auch zu dem wiederbelebenden Kraut (= thachschicht thelaja) und pflückte eine gute Maß voll. Er zerdrückte das Kraut zwischen den Händen und legte es dann auf die Augen M'hamd Laschäischis. M'hamd Laschäischi schlug



Atlantis Bd_02-171 Flip arpa

die Augen auf. M'hamd Laschäischi konnte sehen. Er sah besser als vorher. M'hamd Laschäischi umarmte den Wuarssen.

M'hamd Laschäischi ging mit dem Wuarssen in den Ort herunter, in dem sein Vater sein Haus hatte und in dem sein eigenes Haus stand. M'hamd Laschäischi und der Wuarssen kamen gerade an, als der Vater mit dem Manne, der M'hamd Laschäischi die Augen ausgerissen hatte, in das Haus einbrechen und die junge Frau rauben wollten. M'hamd Laschäischi tötete den Vater und dessen Freund.

Der Wuarssen blieb im Hause M'hamd Laschäischis. Der Wuarssen blieb M'hamd Laschäischis bester Freund.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt