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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


15. Die sieben Schwestern

Ein Mann hatte sieben Töchter; sie waren alle erwachsen, aber noch nicht verheiratet. Ein Agelith wollte die älteste Tochter, die sehr klug und schön war, heiraten. Der Vater gab sie ihm aber nicht.

Eines Tages wollte der Vater eine lange Reise antreten. Er richtete im Hause alles her und sagte zu seinen Töchtern: "Ich werde eine lange Reise machen und vor zwei Jahren nicht zurückkommen. Verlaßt, solange ich fort sein werde, nicht das Haus. Ihr habt im Hause alles, was ihr braucht. Habt ihr etwas nötig und kommt ein Händler vorbei, so kauft durch das Fenster des Tarorfiz (oder Tarurfiz vergl. Bd. i S. 18 =Obergeschoß). Öffnet aber nie die Haustüre." Der Vater reiste ab.

Der Vater war schon lange fort, da hatten die sieben Mädchen eines Tages kein Wasser mehr im Hause. Die Älteste nahm einen Ziegenfellsack (für Wasser) und ging damit fort zur Quelle, um Wasser zu holen. Sie kam an ein Haus, in dem wohnten sieben Wuarssen. Sechs von ihnen waren auf der Jagd und nur einer war daheim, für das Haus zu sorgen.

Als der Wuarssen das Mädchen sah, sagte er: "Was willst du, mein Mädchen?" Die Älteste sagte: "Ich wollte Wasser an der Quelle holen." Dem Wuarssen gefiel das schöne Mädchen über alles, und er sagte: "Komm, mein Mädchen, iß etwas und nimm dann Wasser aus unserm Brunnen." Die Älteste trat herein. Sie aß, was der Wuarssen ihr bot. Die Älteste sagte nach dem Essen: "Es riecht hier nach Weizen (= irthen; Gerste =thimsin)." Der Wuarssen sagte: "Sieh hier den Thetheräft (= Silos im Hause, Getreidegrube)! Er ist ganz voll Weizen. Nimm dir davon, soviel du willst." Die Älteste sah in die Getreidegrube herab und sagte: "Da lange ich nicht herab. Hebe du mir herauf." Der Wuarssen bückte sich, um in die Tiefe hinabzugreifen. Die Älteste gab ihm einen Stoß. Der Wuarssen stürzte hinab. Die Älteste sah sich dann im



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Hause um, fand viel Gold und Kleider und Korn, nahm von allem und kehrte heim.

Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück. Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Sie hörten Rufe und Stöhnen aus dem Thetheräft. Sie sahen hinein. Sie fanden den Wuarssen. Sie halfen ihm heraus. Sie fragten ihn, wie er da hinab gekommen sei. Der Wuarssen sagte: "Es war ein Mädchen hier, das war so schön. Wenn ihr es einmal seht, so gebt ihr euer ganzes Vermögen für es hin." Der zweite Wuarssen fragte: "Wird es morgen wiederkommen?" Der erste Wuarssen sagte: "Vielleicht kommt es wieder."

Am andern Tage blieb der zweite Wuarssen daheim und die anderen sechs gingen zur Jagd. Nach einiger Zeit kam wieder die Älteste. Der Wuarssen war froh. Die Älteste trat in das Haus des Wuarssen und schaute sich um. Der Wuarssen sagte: "Was machst du?" Die Älteste sagte: "Ich sehe mich um." Die Älteste löste den Ring vom Finger und ließ ihn fallen. Sie schrie. Der Wuarssen sagte: "Was ist?" Die Älteste sagte: "Mein Ring ist in die Schischma (= Laterine) gefallen. Wenn ich ohne meinen Ring heimkomme, werden meine Eltern mich schlagen." Der Wuarrsen sagt: "Warte, ich will ihn dir heraufgeben." Der Wuarssen bückte sich über die Schischma. Die Älteste gab ihm einen Stoß. Der Wuarssen fiel in die Schischma. Dann nahm sich die Älteste von dem Golde und den Kleidern und dem Korn der Wuarssen, was ihr gefiel und kehrte heim.

Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück. Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Der Dritte ging aber einmal zur Schischma. Da hörte er den Bruder von unten rufen und zog ihn herauf. Der Wuarssen fragte ihn: "Wie kommst du dahinunter?" Der Wuarssen sagte: "Das schöne Mädchen war hier. Ich umarmte sie. Nachher aber stürzte sie mich dort hinab." Der dritte Wuarssen sagte: "Morgen bleibe ich daheim. Wenn das Mädchen wiederkommt, werde ich es töten."

Am nächsten Tag blieb der dritte Wuarssen daheim und die andern sechs gingen zur Jagd. Nach einiger Zeit kam die Älteste, begrüßte den Wuarssen und sah sich um. Der Wuarssen vergaß, daß er das Mädchen töten wollte. Er sah, wie schön sie war. Er sagte: "Was siehst du ?" Die Älteste sagte: "Was ist euer Haus schön! Wie reich ihr seid!" Der Wuarssen dachte bei sich: "Ich werde sie auf den Tarorfiz locken und dort umarmen." Der Wuarssen



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sagte: "Wie würdest du erstaunen, wenn du sähst, was auf dein Tarorfiz alles ist." Die Älteste sagte: "Zeige es mir." Der Wuarssen sagte: "Dort ist die Leiter, steige hinauf." Die Älteste trat auf die erste Sprosse und sagte dann: "Die Leiter wackelt. Steige du voran und halte die Leiter von oben." Der Wuarssen stieg zum Tarorfiz herauf. Als er oben war, zog die Älteste die Leiter weg. Der Wuarssen konnte nicht wieder herunter. Dann nahm sich die Älteste von dem Gold und den Kleidern und dem Korn der Wuarssen, was ihr gefiel und kehrte heim.

Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück. Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Endlich hörten sie ihn vom Tarorfiz herunterrufen. Sie stellten die Leiter an, so daß er heruntersteigen konnte und fragten ihn: "Hast du sie umarmt?" Der Wuarssen sagte: "Nein, es kam nicht dazu." Der vierte Wuarssen sagte: "Morgen werde ich daheim bleiben. Ich werde sie euch festhalten."

Am nächsten Tage blieb der vierte Wuarssen daheim und die andern sechs gingen zur Jagd. Nach einiger Zeit kam die Älteste in das Haus der Wuarssen, begrüßte den Wuarssen und begann in alle Töpfe zu sehen. Der vierte Wuarssen sagte: "Was schaust du dich um?" Die Älteste sagte: "Ich bin so schnell gelaufen, zu dir zu kommen, daß ich sehr durstig geworden bin. Ich möchte Wasser trinken." Der Wuarssen sah, wie schön sie war und vergaß darüber alles. Die Älteste sagte: "Hast du nicht einen Stolle (= eiserner Schöpfeimer oder -löffel), daß ich mir schöpfen kann." Der Wuarssen gab ihr den Schöpfeimer. Die Älteste ging hinaus zur Quelle. Der Wuarssen folgte ihr. Die Älteste blickte in den Quellschacht und sagte: "Ah, das ist zu tief für mich, ich kann meinen Durst nicht löschen." Der Wuarssen trat heran und sagte: "Ich will für dich schöpfen." Der Wuarssen bückte sich. Die Älteste gab ihm einen Stoß. Der Wuarssen fiel in den Quellschacht. Die Älteste sagte: "Nun bleib da! Ich komme nicht wieder; es war das letztemal, daß ich euch besuchte!" Dann ging die Älteste in das Haus und nahm von dem Gold und den Kleidern und dem Korn der Wuarssen, was ihr gefiel und ging damit heim.

Abends kamen die andern sechs Wuarssen von der Jagd zurück. Sie suchten ihren Bruder, fanden ihn aber lange nicht. Endlich hörten sie seine Stimme aus dem Quellschacht. Sie zogen ihn heraus und fragten: "Hast du das Mädchen gesehen?" Der vierte Wuarssen sagte: "Ja, ich sah sie, sie war durstig." Der fünfte Wuarssen



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sagte: "Mir soll sie morgen nichts anhaben." Der vierte Wuarssen sagte: "Du irrst dich, das schöne Mädchen kommt morgen nicht wieder."

Am andern Tage sagte der fünfte Wuarssen: "Ich werde zu dem schönen Mädchen gehen und es im eigenen Hause fangen. Ich will sie hierher bringen." Der fünfte Wuarssen machte sich einen (falschen) Bart um und verkleidete sich als Händler (=artär; Plural: eartärren). Er hing sich einen Beutel um mit Stickereien und Seide und Schmuck. Der verkleidete Wuarssen machte sich auf den Weg. Er kam zu dem Haus der sieben Mädchen. Der Wuarssen klopfte. Der Wuarssen rief: "Ich bin ein Händler und möchte euch gerne einige Sachen verkaufen. Macht mir doch die Tür auf, damit ihr seht." Die Älteste sagte zu den Schwestern: "Laßt die Tür geschlossen. Ich will mit dem Manne verhandeln. Ich werde mit ihm aus dem Fenster (= thak; Plural: thakath) vom Tarorfiz sprechen." Die Älteste stieg zum Tarorfiz hinauf.

Die Älteste öffnete oben das Fenster und sagte zu dem Händler: "Was willst du von uns?" Der Wuarssen sagte: "Wollt ihr nicht Gürtel (=aguth; Plural: iguther) von Seide kaufen?" Die Älteste sagte: "Was willst du denn dafür haben?" Der Wuarssen sagte: "Zwei Duro." Die Älteste ließ eine Schnur herunter und sagte: "Ich will den Gürtel betrachten." Der Wuarssen band den Gürtel an die Schnur. Die Älteste zog ihn herauf. Dann band die Älteste einen Korb an die Schnur, legte zwei Duro hinein und ließ die Schnur wieder herunter.

Der Wuarssen nahm das Geld aus dem Korb. Der Wuarssen sagte: "Ich habe sehr schöne Schleier (= thimharmith; Plural: thimharmir). Ich habe noch andere Gürtel. Willst du denn von alledem nichts für deine Schwestern kaufen?" Die Älteste sagte: "Lege nur alles in den Korb, ich werde es heraufziehen und dann sehen, was wir nehmen können." Der Wuarssen legte alle seine Gürtel, Schleier und Stickereien in den Korb. Die Älteste zog den Korb an der Schnur herauf. Als sie alles oben hatte, rief die Älteste: "Nun geh du als Händler verkleideter Wuarssen, oder ich werfe mit der Debus (=Schlag- und Wurfkeule) nach dir!" Der Wuarssen ging.

Der fünfte Wuarssen kam heim. Die Brüder fragten ihn: "Warst du im Hause des Mädchens? Hat sie dir etwas abgekauft?" Der fünfte Wuarssen sagte: "Sie hat mir einen Gürtel abgekauft und



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alles andere hat sie mir weggenommen, ohne mir dafür ein Kupfer.. stück zu zahlen." Der sechste Wuarssen sagte: "Ich werde dieses Mädchen in seinem eigenen Hause töten und verschlingen. Ich komme nicht ohne das wieder."

Der sechste Wuarssen ging zu einer alten, verschlagenen Frau (einer Setüt). Der sechste Wuarssen sagte zu der Frau: "Kannst du mich in das Haus des Mädchens bringen? Wenn du mich in das Haus des Mädchens bringst, bekommst du alles von mir, was du willst." Die alte Frau sagte: "Dies kann ich machen. Komm und steige in meinen Rückentragkorb" (=thakofitz; Plural: thakofthin, diese Tragkörbe werden von den Frauen mit einer Horizontalschnur über Oberarme und Brust getragen; Stirngurttragen kommt nicht vor!). Der sechste Wuarssen stieg in den Rückenkorb der alten Frau. Die alte Frau nahm den Korb auf den Rücken und ging mit ihm zum Hause der sieben Mädchen.

Die alte Frau kam an das Haus der sieben Mädchen. Die alte Frau klopfte und rief: "Wollt ihr Töpfe kaufen?" Die jüngste Tochter rief: "Da ist eine alte Frau mit Töpfen." Die Jüngste lief hin und öffnete. Die alte Frau kam herein, stellte den Korb in eine Ecke und begrüßte die sieben Mädchen. Die alte Frau sprach mit den sieben Mädchen. Die Jüngste lud die Frau zum Essen ein. Die alte Frau blieb zum Abendessen. Die alte Frau blieb über Nacht.

Als es Nacht war, ging die Älteste leise mit einer Nadel zu dem Korbe und stach hinein. Die Älteste fragte leise: "Wachst du?" Der Wuarssen dachte, es sei die alte Frau und sagte: "Ja, ich wache. Soll ich jetzt herauskommen und sie töten?" Die Älteste stach mit einer spitzen Eisenstange durch den Korb in den Wuarssen (spitze Eisenstange = athfurth; Plural: ithfurthen) und sagte: "Warum hast du nur so früh gehustet, ich glaube, nun sind sie alle geflohen." Der Wuarssen sagte: "Ich habe ja nicht gehustet." Die Älteste sagte: "Du hast doch gehustet." Sie machte die Eisenstange heiß und stieß immer wieder durch den Korb in den Wuarssen. Sie sagte dabei: "Gewiß, du hast gehustet." Nachdem sie eine Zeitlang so mit der Eisenstange zugestoßen hatte, war der Wuarssen tot.

Am andern Tage sagte die alte Frau zu den sieben Schwestern: "Wollt ihr mir also keine Töpfe abkaufen?" Die Älteste sagte: "Nein, wir danken dir. Nimm deine Last und bring sie wieder heim." Die Älteste half der alten Frau die Last auf die Schultern und begleitete sie zur Tür. Die alte Frau ging mit ihrer Last von dannen.

Die alte Frau kam mit ihrem Korbe zu dem Hause der Wuarssen.



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Sie setzte den Korb ab und sagte: "Hier habt ihr euren Bruder, ich habe ihn in das Haus der sieben Mädchen gebracht. Da ist er eingeschlafen. Das ist nicht meine Sache. Ich habe Wort gehalten." Die andern sechs Wuarssen öffneten den Korb. Sie fanden den toten Wuarssen. Sie sagten: "Er ist nicht lebend wiedergekommen; er hat Wort gehalten." Der siebente Wuarssen sagte: "Wenn der Vater dieses Mädchens wiederkommt, werden wir zu ihm gehen und seine Tochter von ihm für mich zur Frau verlangen, oder aber ihn selbst verschlingen."



***
Am andern Tage kam der Vater der sieben Mädchen von seiner Reise zurück. Die sechs Wuarssen kamen zu seinem Hause und sagten ihm: "Gib unserm jüngsten Bruder deine älteste Tochter zur Frau, oder wir verschlingen dich und alle deine Töchter. Wir wollen die älteste Tochter mit Gewalt oder Güte." Der Vater erschrak. Der Vater gab sein Wort (schwor) und sagte: "Ich werde dir meine älteste Tochter zur Frau geben. Geh jetzt wieder heim und komme wieder, wenn sie zur Hochzeit gerüstet ist." Die sechs Wuarssen kehrten wieder heim.

Der Vater ging zur ältesten Tochter und sagte: "Du wirst den siebenten Wuarssen heiraten." Die Älteste sagte: "Mein Vater, nimm davon Abstand. Ich habe den Wuarssen soviel Übel getan, sie werden mich töten." Der Vater sagte: "Ich habe mein Wort gegeben, es muß geschehen." Die Älteste sagte: "So gib mir am Tage der Hochzeit vier Ziegenhautsäcke mit, zwei gefüllt mit Honig und zwei gefüllt mit Butter." Der Vater sagte: "Das sollst du haben."

Als der Tag gekommen war, brachte der Vater die Älteste mit ihren vier gefüllten Ziegenhautsäcken in das Haus der Wuarssen. Der siebente Wuarssen nahm sie in Empfang und führte sie in das kleine Haus, das die Neuvermählten bewohnen sollten. Dann ging der Wuarssen zu seinen Brüdern, um mit ihnen und den Gästen bis in die Nacht hinein das Fest zu feiern.

Die Älteste rief eine alte Frau und sagte zu ihr: "Bring mir die Kleider deiner Tochter. Hilf mir, daß ich heute abend entfliehen kann. Ich will dich reich beschenken." Die alte Frau sagte: "Wie soll ich das machen?" Die Älteste sagte: "Bringe mir nur die Kleider deiner Tochter. Ich kleide mich in sie, und wenn es dunkel ist, gehe ich mit dir von dannen. Wenn die Leute dich fragen: ,Wer ist das?' so sagst du: ,Das ist meine Tochter, die muß ihr schreiendes Kind nähren'." Die Alte lief und holte die Kleider ihrer Tochter.



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Die Älteste zog inzwischen ihre Kleider aus und machte aus den vier Ziegenhautsäcken eine Puppe. Der Puppe zog sie ihre Kleider an und legte die Puppe in ihr Bett.

Die Alte kam. Die Alte brachte die Kleider ihrer Tochter mit. Die Älteste zog die Kleider an. Die Alte ging mit der verkleideten Ältesten aus dem Hause. Die Wuarssen fragten: "Wer ist diese junge Frau?" Die alte Frau sagte: "Es ist meine Tochter, die bei der Braut war. Ich habe sie gerufen, weil ihr Kind daheim schreit. Sie soll ihr Kind nähren." Die Wuarssen ließen die alte Frau mit der verkleideten Ältesten gehen. Sie gingen weiter. Die Älteste beschenkte die alte Frau, dankte ihr und lief so schnell sie konnte von dannen.

Als es Nacht war, sagte der siebente Wuarssen zu seinen fünf Brüdern: "Alle Leute sind jetzt bei dem Fest. Sie werden nichts merken. Kommt jetzt; wir wollen das schöne Mädchen töten." Die sechs Wuarssen ergriffen ihre Säbel und liefen in das kleine Haus und zu dem Lager des schönen Mädchens. Auf dem Lager sahen sie im Dunkeln eine Person. Sie begannen mit den Säbeln auf die Person zu schlagen. Sie zerschlugen die Säcke mit Honig. Sie leckten an den Säbeln und sagten: "Wie süß das Fleisch und das Blut (=ithamen) ist." Sie zerschlugen die Säcke mit Butter. Sie leckten an den Säbeln und sagten: "Wie fett dieses Mark (=athif) ist."

Nachher zündeten sie eine Öllampe an, um damit zu beginnen, das zerhackte schöne Mädchen aufzuessen. Als sie Licht gemacht hatten sahen sie, daß sie statt in das schöne Mädchen in ein paar Ziegensäcke geschlagen hatten. Sie sagten zu dem siebenten Wuarssen: "Nun hat sie dich ebenso betrogen, wie uns andere alle." Die sechs Wuarssen wurden wütend. Sie machten sich auf den Weg, um den Vater des schönen Mädchens aufzusuchen. Sie sagten zu dem Vater: "Wo ist deine älteste Tochter?" Der Vater der sieben Mädchen sagte: "Ich habe sie euch gegeben; was nachher aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Bei mir ist meine älteste Tochter nicht." Da machten sich die Wuarssen auf den Weg und suchten das Mädchen überall. Sie fanden das schöne Mädchen aber nicht.



***
Das schöne Mädchen lief noch in der Nacht weit fort. Es legte sich an einen Felsen nieder. Da schlief es. Als es Morgen war, öffnete sich der Felsen. Eine Schlange kam heraus. Die Schlange sah das schöne Mädchen. Da verwandelte sie sich in einen Mann.



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Der aus der Schlange verwandelte Mann trat zu dem schönen Mädchen und sagte: "Wer bist du?" Das schöne Mädchen sagte: "Ich bin ein Mensch wie du!" Der Mann sagte: "Wenn es dir recht ist, will ich dich als meine Tochter bei mir behalten bis an mein Ende. Ich werde dir nichts tun. Wenn du aber einen Mann heiraten willst, der dir zusagt, so sage nur, welcher es ist, und ich werde zustimmen. Ich will nichts Schlechtes, sondern nur das Beste. Bist du einverstanden?" Das schöne Mädchen sagte: "Ja, ich bin einverstanden!"

Der Mann sagte: "Ich bin kein Mensch, ich bin eine Schlange. Ich bin wohlhabend und will dir geben, was du dir wünschst." Die Schlange führte das schöne Mädchen in den Felsen. In' Felsen war das Haus der Schlange. Das Mädchen trat herein. Im Hause war alles sehr reich. Die Schlange suchte die schönsten Schmucksachen zusammen und schmückte das schöne Mädchen damit. Dann führte sie das schön geschmückte und gekleidete Mädchen auf den Felsen hinauf und sagte: "Wenn du die Natur sehen oder dich kämmen willst, so setze dich hier auf den Felsen, geh aber nicht weiter fort." Das Mädchen wohnte bei der Schlange. Es saß oft auf den Felsen und kämmte dort ihr schönes Haar.

Nicht weit entfernt wohnte ein Agelith, der hatte einen Widder (= ikerri), den liebte er über alles, und er schmückte ihn reichlich mit Gold. Eines Tages sah der Widder das schöne Mädchen, und er ward von ihrer Schönheit ergriffen (Schönheit =ahathin). Der Widder begann darauf zu singen. Der Widder trat an den Felsen, auf dem das schöne Mädchen saß und sang: "Die Schlange macht dich fett, und wenn du fett genug bist, wird die Schlange dich eines Tages fressen." Als das schöne Mädchen das hörte, begann es zu weinen und ward traurig. Sie mochte nicht essen und magerte ab. Am andern Tage kam der Widder wieder und sang dasselbe. Er kam alle Tage. Er kam während vierzehn Tagen (elnud'da = zwei Wochen) jeden Tag. Das schöne Mädchen hörte es und magerte ab und war zuletzt mager wie ein Nagel (=amthmar; Plural: imthmarren). Die Schlange sah, daß das schöne Mädchen ganz mager wurde. Sie fragte: "Was fehlt dir?" Das schöne Mädchen sagte: "Es ist nichts."

Am andern Tage versteckte sich die Schlange in der Nähe des Felsens. Die Schlange sah alles. Das schöne Mädchen kam, setzte sich auf den Felsen und kämmte ihr schönes Haar. Nach einiger Zeit kam die Herde des Agelith und der Widder mit dem Goldschmuck.



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Der goldgeschmückte Widder kam an den Felsen und begann zu singen: "Die Schlange macht dich fett, und wenn du fett genug bist, wird die Schlange dich eines Tages fressen." Als das schöne Mädchen das hörte, begann es zu weinen.

Abends verwandelte sich die Schlange in einen Mann, kam zu dem schönen Mädchen und sagte: "Warum hast du mir das mit dem Widder nicht gesagt? Ich habe alles mit angehört. Gräme dich nicht. Wenn morgen der Widder wiederkommt und gesungen hat, so singe du: ,Ich werde morgen aber den Sohn des Agelith heiraten, und am Festtage wirst du geschlachtet werden'."

Am andern Tage kam der goldgeschmückte Widder wieder zum Felsen und sang: "Die Schlange macht dich fett, und wenn du fett genug bist, wird die Schlange dich eines Tages fressen." Das schöne Mädchen hörte es und sang dann: "Ich werde morgen aber den Sohn des Agelith heiraten, und am Festtage wirst du geschlachtet werden." Als der Widder das hörte, begann er vor Furcht zu zittern, so daß alles Gold, mit dem er geschmückt war, von ihm herabfiel. Voller Angst und nackt ohne Schmuck, kam er heimgelaufen. Die Schlange kam aber hervor, sammelte den Goldschmuck auf und hängte ihn dem schönen Mädchen um.

Als der Widder ohne Schmuck heimkam, gab der Agelith ihm neuen Goldschmuck. Der Hirt trieb die Herde seinen Weg. Der Sohn des Agelith ging heimlich hinter dem Widder her. Der Sohn des Agelith sah, wie der Widder zu dem Felsen ging. Der Sohn des Agelith sah das schöne Mädchen auf dem Felsen sitzen. Er hörte den Widder singen; er hörte das schöne Mädchen singen. Er sah den Widder zittern und das Gold herabfallen. Der Sohn des Agelith war von der Schönheit des Mädchens betäubt, so daß er nach Hause wankte, ohne den Weg zu sehen. Der Sohn des Agelith kam heim und erzählte alles seinem Vater, dem Agelith.

Am andern Tage ward der Widder aufs neue mit Gold behangen. Der Hirt trieb die Herde seinen Weg. Der Agelith ging heimlich hinter dem Widder her. Der Agelith sah, wie der Widder zu dem Felsen ging. Der Agelith sah das schöne Mädchen auf dem Felsen sitzen. Er hörte den Widder singen; er hörte das schöne Mädchen singen. Er sah den Widder zittern und das Gold herabfallen.

Der Agelith ging zu der Schlange und sagte: "Ich will deine Tochter für meinen Sohn; er soll sie heiraten. Was willst du von mir?" Die Schlange sagte: "Ich will nur sieben Ziegenhäute voll Eiter." Der Agelith ging. Er rief einen weisen Mann und sagte:



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"Wie kann ich mir sieben Ziegenhäute voll Eiter (=arthed) verschaffen?" Der weise Mann sagte: "Stich alle deine Schafe und Ochsen. Es werden Beulen entstehen. Drücke sie aus. So wirst du in acht Tagen sieben Ziegenhäute voll Eiter sammeln können." Der Agelith tat so. Nach sieben Tagen hatte er sieben Ziegenhäute voll Eiter. Er sandte sie der Schlange. Die Schlange war einverstanden.

Die Schlange verabschiedete sich von dem schönen Mädchen. Die Schlange sagte: "Geh, nimm all deine Sachen. Geh zu deinem Gatten. Vergiß nichts. Wende dich aber, wenn du mein Haus einmal verlassen, nicht wieder um, auch nicht, um etwas Vergessenes zu holen. Finde ich etwas, was du vergaßest, so werde ich es dir schon bringen." Das schöne Mädchen versprach es und ging. — Als aber das Mädchen schon gegangen war, fiel ihm ein, daß es seinen Kamm und Spiegel vergessen hatte. Es dachte nicht an das, was die Schlange ihr gesagt hatte; es lief zurück ins Haus. Als es in das Haus trat, sah es die Schlange den Eiter trinken. Die Schlange sagte aber: "Was hast du getan! Ich habe dich gewarnt. Nun mußt du dein Unglück tragen." Das schöne Mädchen erschrak, nahm Kamm und Spiegel und lief zu dem Dorf des Agelith.



***
Die schöne junge Frau wurde von den andern Frauen gehaßt. Der junge Agelith liebte sie aber sehr. Eines Tages gebar sie dem jungen Agelith einen Knaben. Als es Nacht war, kam die Schlange, biß dem Knaben den kleinen Finger ab und warf den Finger der Mutter in den Schoß. Dann nahm die Schlange den Knaben mit sich fort. Am andern Morgen wollte der Agelith seinen jungen Sohn sehen. Die Frauen sagten (insgeheim): "Die Mutter hat ihr eigenes Kind gegessen."

Als wieder ein Jahr vergangen war, gebar die schöne junge Frau wieder einen Knaben. In der Nacht kam aber wieder die Schlange, biß dem Knaben den kleinen Finger ab, warf den kleinen Finger der Mutter in den Schoß und nahm den Knaben mit sich fort. Nachts aber kamen noch die anderen Frauen, strichen der Mutter das Blut des kleinen Fingers um den Mund und sagten laut: "Seht, die junge Mutter hat ihr eigenes Kind gefressen." Als der Vater des jungen Agelith das hörte, wurde er zornig. Er ließ die junge Frau packen, ihr Lumpen anziehen und sie im Adäinin bei den Tieren anbinden.

Die Schlange hatte die beiden Knaben mit nach Hause genommen



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und zog sie auf. Die Knaben wuchsen schnell auf; es wurden starke und schöne Jünglinge. Die Schlange unterwies sie in allem, es wurden kluge und kenntnisreiche Burschen. Eines Tages sagte die Schlange zu den beiden Burschen: "Heute will ich euch zu euren Eltern bringen." Die Burschen sagten: "Haben wir Eltern?" Die Schlange sagte: "Ja, euer Vater ist der Agelith des Landes. Wenn ihr aber zu ihm kommt, laßt euch nicht in dem schönen Haus der Gäste unterbringen. Verlangt, daß ihr im Staue ein Lager erhaltet und weigert euch zu essen, ehe nicht die Frau, die dort angebunden ist, mit euch essen darf. Nachher werde ich dann schon zu euch kommen."

Die beiden Jünglinge machten sich auf den Weg zu dem Agelith. Der junge Agelith sah sie. Er war überrascht von ihrer Schönheit. Er dachte bei sich: "Hätte ich doch solche Söhne." Er begrüßte die Jünglinge und bat sie in das Haus der Gäste zu kommen. Die beiden Jünglinge sagten: "Wir danken, laß uns im Stalle übernachten." Die Jünglinge gingen in den Stall. Der junge Agelith ließ die beiden Jünglinge bitten, mit ihm zu essen. Die Jünglinge sagten: "Wir essen nur, wenn die Frau, die hier im Stalle angebunden ist, freigelassen wird und mit uns ißt." Der Agelith sagte: "Laßt sie; sie hat ihre eigenen Kinder gefressen." Die beiden Jünglinge sagten: "Wie sollte das sein! Das ist nicht möglich. Wenn die Frau nicht mit uns ißt, können wir auch nicht essen."

Der junge Agelith gab den Befehl, die junge Frau loszubinden. Die andern Frauen taten es. Aber sie stachen und kniffen dabei die Frau und sagten ihr (leise): "Morgen wirst du wieder angebunden." Die beiden Jünglinge hörten das. Die Jünglinge saßen und aßen mit der jungen Frau an einer Tafel. Die Schlange verwandelte sich in einen Mann und trat an die Tafel. Die Schlange fragte die losgebundene Frau: "Könntest du deinen Sohn nicht wiedererkennen?" Die junge Frau sagte: "Nein, denn ich habe nur diesen kleinen Finger von ihm." Die Schlange sagte: "Gib ihn mir." Die junge Frau gab ihn. Die Schlange spie darauf und setzte ihn dem älteren Sohne an. Der Schlange sagte zu der jungen Mutter: "Hast du auch den Finger des anderen Knaben?" Die Mutter sagte: "Hier ist er." Die Schlange spie darauf und setzte ihn dem anderen Jüngling an. Die Schlange sagte zu dem jungen Agelith und seiner Frau: "Dies sind eure Söhne. Wärst du nicht auf dem Weg von meinem Hause umgekehrt, so wäre dies Unglück nicht geschehen."

Der junge Agelith veranstaltete ein großes Fest. Alle Leute umjubelten



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die junge Frau und ihre schönen Söhne. —Die Frauen, die aber das Unglück der jungen Frau vermehrt und sie gequält hatten, ließ der Vater des Agelith auf ein Pferd binden. Das wurde durch die Berge und Wälder gejagt, so daß von ihnen kein Teil mehr am andern blieb.

Die Schlange kehrte wieder in ihr Haus, in das Haus in dem Felsen zurück. Sie kam später nie wieder in die Stadt des Agelith.


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