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VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


14. Der singende Vogel (Tir Lemechcheni)

(Vgl. Bd. III Nr. 39 S. 155)

Ein Mann heiratete im Laufe der Jahre drei Frauen, von denen er je einen Sohn hatte. Am meisten liebte er seine jüngste Frau und deren Sohn, denn sie waren nicht wie die beiden älteren Frauen und deren Söhne gierig nach seinem Gelde. Seit er seine drei Söhne hatte, dachte er viel daran, sie gut zu verheiraten und ihnen gute Frauen zu geben. Der Charakter seiner beiden ältesten Söhne war ihm aber bedenklich, und so zögerte er, bis er achtzig



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Jahre alt war. Eines Tages bedachte er aber sein Alter, und er sagte in Gegenwart seiner Frauen: "Ich bin nun achtzig Jahre alt. Meine Söhne sind alt genug, um Frauen zu bekommen. Mein Schwanken ist unrecht. Meine Söhne sollen nun nach ihren Verdiensten heiraten."

Nachdem der Alte das gesagt hatte, verfiel er aber wieder in seine Gleichgültigkeit, kam für einige Zeit nicht wieder auf die Sache zu sprechen, und da er sowieso niemals sehr viel sprach, so schien die Sache für einige Zeit erledigt. Nun nahm eines Tages die erste Frau die zweite zur Seite und sagte zu ihr: "Wir beide sind miteinander befreundet und wissen, was wir wollen, während die dritte töricht ist. Trotz dieser Torheit zieht unser Mann die dritte und ihren Sohn uns und unseren Söhnen vor, und da er alt und schwerfällig wird, so müssen wir sehen, unsern Söhnen und uns selbst eine hervorragende Stellung zu geben." Die andere Frau sagte: "Du hast recht. Wir wollen unsere dritte Frau, und unsere Söhne sollen ihren jüngsten Bruder zur Seite schieben. Und da unser Mann von einer Abmessung der Verdienste gesprochen hat, so wollen wir sehen, daß er allen seinen drei Söhnen eine Aufgabe gibt, bei deren Lösung unsere beiden Söhne den dritten Burschen in Schande bringen und damit auch deren Mutter aus der Vorzugsstellung verdrängen können."

Nachdem die beiden sich derart geeinigt hatten, gingen sie gemeinsam zu einer alten Frau, die im gleichen Orte wohnte und durch ihre Schönheit berühmt war. Sie zogen die Alte beiseite, gaben ihr einiges Geld, sprachen ihre Wünsche aus und versprachen ihr ein noch größeres Geschenk, wenn sie mit gutem Ratschlag diene. Die Alte sagte: "Es ist schon gut. Ich werde eurem alten Manne einen Rat geben, der für eure Söhne alle gewünschte Möglichkeit gibt, und eure Söhne müssen mehr als dumm sein, wenn es ihnen im Verlauf der Sache nicht gelingt, ihren Bruder in Schande und seine Mutter in den Hundestall zu drängen."

Nach einigen Tagen kam die Alte in das Gehöft des achtzigjährigen Mannes, besprach mit ihm dies und das und sagte endlich: "Wo bei uns am Berge so tüchtige, junge Männer wohnen, da sollte doch einer einmal den Tir lemechcheni (den singenden Vogel) holen. Es wäre ein Stolz für uns alle und eine große Auszeichnung für den, der die Sache ausführt." Der Alte hörte das und merkte es sich wohl. Als sie gegangen war, rief er seine Söhne und sagte:



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"Ich möchte wohl den singenden Vogel haben. Zieh du, mein Ältester, zunächst einmal aus und sieh, ob du ihn zu gewinnen imstande bist." Der älteste Sohn sagte: "Es ist mir recht. Ich will dir den singenden Vogel bringen." Dann machte er sich sogleich reisebereit.

Der älteste Sohn brach am andern Tage früh auf. Er wanderte den ganzen Tag über und kam in einen großen Wald. In dem Walde legte er sich mit Anbruch der Dunkelheit nieder und schlief. Am andern Tage erhob er sich und sah sich um, wo er wohl irgendeinen Menschen sähe, der ihm Rat geben könne. Endlich traf er auf eine alte Frau, die hütete die Schafe. Er begrüßte die alte Frau und sagte: "Kannst du mir vielleicht sagen, ob ich auf dem rechten Wege zu dem singenden Vogel bin?" Die Alte sagte: "Gewiß bist du auf dem rechten Wege. Es ist aber für heute zu spät geworden, um bis dahin zu gelangen. Kennst du niemand hier im Lande?" Der Älteste sagte: "Ich kenne niemand." Die Alte sagte: "So sei heute zum Abendessen mein Gast. Dann kannst du morgen in aller Frühe den Weg zum singenden Vogel antreten. Willst du das annehmen?" Der Älteste sagte: "Ich bin damit einverstanden."

Gegen Abend zog er mit der Alten heim. In ihrem Hause angekommen, fragte sie: "Willst du zum Abendessen ein weibliches oder ein männliches Tier essen?" Der Älteste sagte: "Es ist mir ganz gleich. Setze nur vor, was dir paßt." Die Alte schlachtete nun ein Schaf, kochte es und setzte es auf den Tisch. Der Älteste setzte sich an den Tisch und aß. Als er fertig war, sagte die Alte: "Ich habe einen Sohn; mein Sohn kämpft mit jedem, der bei mir eingeladen ist. Bist du bereit?" Der Älteste sagte: "Ich bin bereit."

Nun war dies Kind der Alten aber kein Sohn, sondern eine Teriel (Zauberweib), die in Männerkleidung ging, aber sehr stark war und bis jetzt noch jeden Mann überwunden hatte. Die Teriel kam herein, der Älteste wollte gegen sie angehen. Sie aber packte ihn und schlug ihn zu Boden. Hierauf zog sie ihm alle Kleider vom Leibe, nahm sein Geld an sich und warf den nackten Mann in die Baerka (ein Speicherloch, in dem gewöhnlich Oliven aufbewahrt werden). Das Loch deckte sie zu.

Vierzehn Tage verstrichen, ohne daß der achtzigjährige Mann etwas von seinem ältesten Sohne hörte. Darauf begann er sich um ihn zu sorgen. Er rief seine andern Söhne und sagte: "Von eurem ältesten Bruder hörte ich nichts, seitdem er ausgezogen ist, den singenden Vogel zu finden. Es wird Zeit, daß sich einer von euch



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nach ihm umsieht. Willst du, mein Zweiter, ausziehen, deinen Bruder und den Vogel zu suchen?" Der zweite Sohn war sogleich bereit. Er machte sich reisefertig, schlief noch eine Nacht daheim und machte sich am andern Morgen früh auf die Wanderschaft.

Der zweite Sohn wanderte wie der älteste den Tag über, bis er an den Wald kam, in welchem er übernachtete. Wie der älteste Sohn traf er am andern Morgen auf die Schafhirtin, die er um Auskunft bat und die ihn zum Essen einlud. Wie der älteste, sagte er, daß es ihm gleichgültig sei, ob ihm ein weibliches oder ein männliches Tier vorgesetzt werde. Wie der älteste aß er zu Abend und erklärte sich bereit, mit dem "Sohne" der Alten zu kämpfen. Wie den ältesten schlug die Teriel ihn nieder und beraubte ihn, um ihn dann zu dem älteren Bruder in die Speichergrube zu werfen.

Wiederum verstrichen vierzehn Tage, ohne daß der achtzigjährige Mann etwas von seinen ältesten beiden Söhnen hörte. Der alte Mann wurde sehr besorgt, rief seinen jüngsten Sohn herbei und sagte: "Mein Sohn, deine älteren Brüder sind beide ausgewandert, den singenden Vogel zu finden und heimzubringen. Sie sind beide schon seit langer Zeit fort, und es wird Zeit, daß man nach ihnen ausschaut. So frage ich dich denn, ob du bereit bist, auch den Weg anzutreten und deine Brüder zu suchen." Der Jüngste sagte: "Mein Vater, es ist früh am Tage, ich kann heute noch gehen." Der jüngste Bursche holte einen Säbel, nahm von seinem Vater Abschied und ging mit schnellen Schritten in der Richtung fort, in der die älteren beiden Brüder sich zur Suche nach dem singenden Vogel auf den Weg gemacht hatten.

Der jüngste Bursche kam auch in den Wald. Er übernachtete auch im Walde. Er traf ebenfalls am andern Morgen die Alte, mit der er über den Weg zum singenden Vogel sprach. Der Jüngste nahm ebenfalls die Einladung der Alten an. Als die Alte ihn aber fragte, ob er ein weibliches oder ein männliches Tier zum Abendessen haben wollte, brauste er auf und sagte: "Was, du bietest mir weibliches Tier an? Sehe ich dir aus, als ob ich weibliche Tiere esse? Einen Widder will ich essen und nichts andres!" Darauf schlachtete die Alte einen Widder und setzte ihn dem Burschen vor. Der Bursche griff gehörig zu und aß sich ordentlich satt. Als der Bursche fertig war, sagte die Alte: "Ich habe einen Sohn; mein Sohn kämpft mit jedem, der bei mir eingeladen ist. Bist du bereit?" Der Bursche lachte und sagte: "Ei, das ist ja ausgezeichnet. Es gibt für den, der sich ordentlich sattgegessen hat, nichts Angenehmeres als



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einen Zweikampf. Laß also deinen Burschen nur sogleich kommen!"

Darauf kam die Teriel herein. Der Bursche stellte sich breit hin und ließ die Teriel dicht an sich herankommen, dann versetzte er ihr mit der Rechten einen Schlag auf die Backe, so daß die Teriel lang hinschlug und sogleich tot war. Als sie niederfiel, sah der Bursche, daß er gar nicht mit einem Mann, sondern mit einer Teriel gekämpft hatte, denn sie schrie wie eine Frau. Bei dem Schrei kam die Mutter der Teriel angelaufen. Der Jüngste rief ihr sogleich entgegen: "Schnell, sage mir, wo meine Brüder sind." Die alte Frau schrie: "Ich weiß nichts von deinen Brüdern, ich bitte dich aber, laß mich am Leben." Dies hörten die in der Vorratsgrube eingeschlossenen zwei Brüder. Sie erkannten die Stimme ihres Bruders und riefen mit schwacher Stimme: "Unser Bruder, die Alte lügt! Wir sind in der Vorratsgrube eingeschlossen." Als der Jüngste das hörte, schlug er die Alte tot und ging dann hin, seine Brüder zu befreien.

Der Bursche fand seine Brüder abgezehrt, mit Wunden und Fliegen bedeckt. Er zog sie heraus, wusch, verband und kleidete sie und gab ihnen von allem Guten, was er im Hause der Alten fand zu essen. Darauf nahm er alles Geld und alles Wertvolle, was er im Hause der Alten finden konnte und zog mit seinen Brüdern von dannen, um den singenden Vogel zu suchen.



***
Sie waren ein gutes Stück gegangen, als sie in der Ferne ein Haus sahen. Der Jüngste versteckte seine Brüder im Walde, dann ging er auf das Haus zu und klopfte an. Sogleich öffnete eine Frau. Sie sah den Burschen und sagte: "Mein Bursche, lauf schnell und sieh, daß du nicht wieder in die Nähe dieses Ortes kommst. Denn mein Mann ist ein Wuarssen (= menschenfressender Riese), der die Kraft hat, fünfzehn Kriegshaufen (= Mahalla) in die Flucht zu schlagen, und der noch jeden getötet und verspeist hat, der in dieses Haus kam." Der Bursche sagte: "Der Wuarssen ist also nicht zu Hause?" Die Frau sagte: Nein, der Wuarssen ist tagsüber nicht daheim, er kommt aber jeden Abend um mogarob (= mit Sonnenuntergang) nach Hause. Lauf also schnell, damit dich mein Mann nicht in der Nähe findet."

Der Bursche lachte und sagte: "Habe keine Furcht für mich, ich denke, dein Wuarssen wird sich schon mit mir und meinem kleinen Säbel (=iskin) befreunden." Damit trat der Bursche in das



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Haus, und während die Frau voller Furcht fortlief und sich in der letzten Kammer versteckte, stellte der Bursche sich mit dem Säbel hinter die Tür und wartete die Zeit des Sonnenunterganges ab.

Als die Sonne dem Untergang nahe war, hörte der Bursche in der Ferne ein starkes Brüllen und Tosen (der Erzähler setzt ergänzend und erläuternd hinzu "wie das Brüllen von Stieren und wie das Tosen des Donners"), das immer näher kam. Das war der Wuarssen. Mit Brüllen und Tosen kam der Wuarssen immer näher, bis er an der Haustür ankam, gerade als die Sonne unterging. Der Wuarssen trat in das Haus. Der Bursche ergriff seinen Säbel und schlug den Wuarssen über den Kopf, so daß der Wuarssen zur Seite taumelte. Der Wuarssen sagte: "Schlage noch einmal!" (Typisch für alle Kämpfe der kabylischen Helden mit den Wuarssen ist es, daß der einmal getroffene Ogre fordert, noch einmal geschlagen zu werden. Wenn der Held dem nachkommt, ist der Wuarssen wiederhergestellt. Ebenso typisch ist die Aufforderung, den Kopf zu schütteln!) Der Bursche schlug nicht, sondern sagte: "Schüttle deinen Kopf." Darauf schüttelte der Wuarssen seinen Kopf und sank mit lautem Krachen zu Boden.

Als der Wuarssen tot war, kam die Frau aus ihrem Versteck. Sie kniete vor dem Burschen nieder, küßte ihm die Hand und sagte: "Ich danke dir! Ich danke dir! Ich danke dir! Nie habe ich es zu hoffen gewagt, daß jemand imstande sein könnte, ihn zu überwinden! Ich danke dir! Ich danke dir! Ich danke dir! Von nun an werde ich dir überall hin folgen, wohin du auch gehst." Der Bursche fragte: "Kannst du mir sagen, wo sich der singende Vogel befindet und wo ich ihn gewinnen kann?" Die Frau sagte: "Um den singenden Vogel zu erreichen, mußt du noch an zwei Gehöften vorbei, die in diesem großen Walde liegen. In jedem Gehöft wohnt ein Wuarssen, der mit einer meiner Schwestern verheiratet ist. Der erste Wuarssen verfügt über die Kraft von zwanzig Kriegshaufen. Der zweite Wuarssen hat die Kraft von fünfundzwanzig Kriegshaufen. Diese Wuarssen muß derjenige töten, der den singenden Vogel erlangen will." Der jüngste Bursche sagte: "Dann komm mit mir. Im Walde sind meine Brüder. Wir wollen morgen früh mitnehmen, was dieser Wuarssen an Schätzen hatte, und zum nächsten gehen."

Am andern Morgen packte der Bursche alles Geld, das im Hause war, zusammen. Der Jüngste rief seine Brüder, und dann zogen sie im Walde weiter. Den Tag über wanderten sie, ohne einen Menschen



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oder eine menschliche Behausung zu sehen. Als es aber gegen Abend war, sah der Jüngste in der Entfernung wieder ein Haus. Da versteckte er seine Brüder, die Frau und die Schätze in den Büschen und ging auf das Gehöft zu.

Er klopfte an die Haustür. Sogleich machte eine Frau auf. Die Frau kam heraus. Als die Frau den Burschen sah, erschrak sie und sagte: "Mein Bursche, lauf schnell fort!" Die Frau wollte weiterreden. Der Bursche sagte: "Ich weiß schon alles. Dein Mann ist ein Wuarssen, der über die Kraft von zwanzig Mahallas verfügt. Ich war schon bei deiner ersten Schwester, die auch mit einem Wuarssen verheiratet war. Den habe ich getötet, und die hat mir alles weitere gesagt. Sage du mir nur, um welche Zeit dein Wuarssen immer nach Hause kommt." Die Frau sagte: "Mein Wuarssen kommt immer um laischa (=zehn Uhr) nach Hause." Der Bursche sagte: "Dann habe ich noch Zeit genug, um ordentlich zu essen. Zeige mir, wo ich etwas finde, dann versteck dich und überlasse es mir und meinem Säbel, mich mit deinem Wuarssen zu befreunden." Darauf zeigte die Frau dem Burschen alles Nötige und versteckte sich dann in der hintersten Kammer.

Der Bursche nahm ein gutes Abendessen, streckte sich einige Male und ging im Hause umher und besah alles, was bei dem Wuarssen an Geld und Reichtum aufgespeichert war. Als aber die Zeit um laischa näher kam, hörte man in der Entfernung ein starkes Gebrüll und Getöse, das immer näher kam und immer stärker anschwoll. Der Wuarssen kam. Als sein Gebrüll ganz nahe war, streckte sich der Bursche noch einmal, und dann stellte er sich mit dem Säbel hinter die Tür.

Der Wuarssen stieß die Tür mit Gebrüll auf und trat ein. Der Bursche holte einmal tief Atem und schlug dann den Wuarssen so stark über den Kopf, daß er auf die Knie sank. Der Wuarssen sagte: "Schlage noch einmal zu!" Der Bursche sagte: "Schüttle den Kopf!" Der Wuarssen schüttelte den Kopf, sank vornüber und war tot. Die Frau hörte den Wuarssen hinstürzen. Sie kam aus ihrem Versteck hervor und sah, daß er tot war. Sie kniete vor dem Burschen nieder, küßte ihm die Hand und dankte ihm. Die Frau sagte: "Ich danke dir! Ich danke dir! Ich danke dir! Ich werde dir folgen, wohin du gehst." Der Bursche sagte: "Morgen früh werden wir die Schätze deines Wuarssen aufpacken, werden uns dann zeitig auf den Weg machen, meine Brüder und deine erste Schwester aus ihrem Versteck im Walde holen und zu dem dritten Wuarssen gehen."



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Danach legte sich der Bursche nieder, schlief die ganze Nacht hindurch ausgezeichnet und erhob sich am andern Morgen früh, um die Schätze des Wuarssen zusammenzupacken, mit der Frau aufzubrechen und deren Schwester, sowie seine Brüder aus dem Versteck herbeizurufen. Den Tag über marschierten sie, bis der Bursche nach Sonnenuntergang ein Haus erblickte. Da versteckte er dann seine Brüder, die Frauen und die Schätze wieder und ging allein auf das Haus zu.

Der Bursche klopfte an die Haustür. Die Frau des Wuarssen öffnete sogleich, stieß vor Schreck einen Schrei aus und rief: "Mein Bursche, lauf schnell fort!" Die Frau wollte weiterreden. Der Bursche sagte aber: "Ängstige dich nicht so. Ich weiß alles. Dein Mann ist ein Wuarssen, der über die Kraft von fünfundzwanzig Mahallas verfügt. Ich habe aber schon die beiden Wuarssen getötet, die deine Schwestern geheiratet hatten und von denen der eine die Kraft von fünfzehn und der andere die von zwanzig Mahallas hatte. Von deinen Schwestern, die in der Nähe im Busch versteckt sind, habe ich alles erfahren. Sage du mir nur, um welche Zeit dein Wuarssen immer nach Hause kommt." Die Frau sagte: "Mein Wuarssen kommt immer um ennefsgirth (= Mitternacht) nach Hause." Der Bursche sagte: "Das ist noch lange hin. Koche mir zunächst ein sehr gutes Essen. Wenn ich das zu mir genommen habe, werde ich ein wenig schlafen. Hernach werde ich deinem Wuarssen schon die Freundschaft für mich und meinen Säbel lehren." Die Frau sagte: "Ich habe schon das Essen für den Wuarssen fertig, genügt dir das?" Der Bursche betrachtete es und sagte: "Nein, das genügt nicht, schlachte noch ein Tier und koche es." Die Frau tat, was der Bursche verlangte. Danach versteckte sie sich in der hintersten Kammer.

Der Bursche setzte sich nieder, verspeiste alles, was die Frau gekocht hatte und legte sich gemächlich zum Schlafe nieder. Als es gegen ennefsgirth war und der Bursche einige Stunden geschlafen hatte, näherte sich von weither ein Gebrüll und ein Getöse, das schnell herankam, so daß endlich sogar das Haus zu wanken begann. Davon wachte der Bursche auf. Er hörte eine Weile hin und sagte: "Dies wird wohl der Wuarssen sein." Danach gähnte er, streckte sich und sagte: "Ich habe recht gut gegessen und geschlafen." Der Bursche streckte sich noch einmal, erhob sich, ergriff seinen Säbel und stellte sich hinter die Haustür.

Der Wuarssen kam vor sein Gehöft und brüllte noch einmal so



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stark, daß die Tür von selbst aufflog. Der Bursche holte tief Atem, holte mit dem Arm weit nach hinten aus und schlug dann die Säbelklinge dem Wuarssen mit solcher Gewalt über den Kopf, daß der Getroffene lang hinschlug. Der Wuarssen sagte: "Schlage noch einmal zu!" Der Bursche sagte: "Schüttle den Kopf!" Der Wuarssen schüttelte den Kopf und starb. Die Frau kam aus ihrem Versteck. Sie dankte dem Burschen. Sie sagte: "Ich werde dir folgen, wohin du auch immer gehst. Ich will tun, was du willst."



***
Der jüngste Bursche sagte: "Sage mir vor allen Dingen, wo sich der singende Vogel befindet und wie ich ihn erlangen kann." Die Frau sagte: "Der singende Vogel ist nicht weit von hier. Aber man kann ihn nicht mit Kraft und Gewalt gewinnen. Man muß sehr klug sein, um zu ihm zu kommen, und nur mit Klugheit kann es gelingen, seiner habhaft zu werden. Der singende Vogel befindet sich in einem großen Hause. Er ist in einem Käfig eingeschlossen und steht in der Kammer seines Herrn und seiner Herrin. Vor dem Hause sind sieben Wächter. Alle diese, wie der Herr und die Herrin des singenden Vogels sind so ungeheuer stark, daß kein Wesen der Welt es mit ihnen aufnehmen kann. Nachts nun schlafen zwar die Wächter wie der Herr und die Herrin. Der Herr und die Herrin haben aber dem singenden Vogel befohlen zu wachen und zu wecken, so wie sich jemand dem Hause nähert. Da nun dem singenden Vogel nichts entgeht und da er unbedingt dem Befehle seiner jeweiligen Herren gehorcht, so kann nachts niemand durch das Gehöfttor kommen, wenn auch die Wächter, sowie der Herr und die Herrin des singenden Vogels schlafen, weil eben der singende Vogel selbst wacht und nach dem Befehle des Herrn diesen und die Herrin und die Wächter wecken wird, sowie sich jemand dem Hause nähert. Du siehst also, daß es unmöglich ist, den singenden Vogel zu erlangen." Der Bursche sagte: "Ich danke dir, daß du mir das alles so genau geschildert hast. Ich sehe auch, daß der singende Vogel sehr gut untergebracht ist. Ich will es aber dennoch versuchen, ihn zu gewinnen." Die Frau sagte: "Dann will ich dir eine kluge Mauleselin mitgeben, die hier im Gehöft steht und den Weg zum Haus des singenden Vogels sehr gut kennt." Der Bursche sagte: "Ich werde mich morgen sogleich auf den Weg machen." Hierauf legte er sich nieder und schlief, bis die Sonne ihn weckte.

Nachdem der Bursche sich erhoben hatte, ging er erst in den Busch und holte seine Brüder und die Schwestern, sowie die



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Schätze. Er sagte zu den Brüdern: "Bleibt ihr zwei mit den drei Schwestern hier im Hause, bis ich zurückkomme. Ich will jetzt den singenden Vogel holen." Dann bestieg er die Mauleselin und ritt im Walde weiter dahin bis in die Nacht hinein. Es war schon sehr spät und dunkel, als die Mauleselin von selbst anhielt.

Der Bursche stieg ab und sah sich um. Er bemerkte, daß er sich nahe der Hinterwand eines großen Hauses befand. Der Bursche sagte: "Die Mauleselin hat hier angehalten, also wird dies das Haus sein, in dem sich der singende Vogel befindet." An der Hinterwand des Gehöftes stand ein Baum. Der Bursche erstieg den Baum und klopfte mit einem Stein gegen die Mauer. Kaum hatte er geklopft, so schrie der singende Vogel im Hause: "Wacht auf! Wacht auf! Ein Dieb! Ein Dieb will mich stehlen!"

Kaum hatte der Vogel angefangen zu schreien, so sprangen der Herr und die Herrin auf, liefen durch das Haus und sahen überall herum, ob etwas von einem Dieb zu sehen sei, und die Wächter sprangen auf und liefen den Weg zum Hause auf und ab und schauten rechts und links vom Wege ins Gebüsch, ob eine Diebesspur wahrzunehmen war. Aber weder der Herr und die Herrin, noch die sieben Wächter konnten etwas entdecken. Da legten sich alle wieder nieder, und der Herr sagte zum singenden Vogel: "Tir Lemechcheni, heute hast du dich zum ersten Male geirrt." Der Herr und die Herrin und die sieben Wächter schliefen wieder ein.

Nach einiger Zeit klopfte der Bursche von seinem Baume aus zum zweiten Male gegen die Hintermauer des Hauses. Sogleich begann der Vogel wieder zu schreien. Sogleich sprang der Herr und die Herrin auf, um wieder das Haus abzusuchen, und sogleich erhoben sich die sieben Wächter und rannten suchend auf dem Wege zum Haustore hin und her. Als nun niemand etwas zu finden vermochte, legten sich alle wieder hin, und der Herr sagte ärgerlich zum singenden Vogel: "Tir Lemechcheni, ich glaube, du willst uns heute zum besten haben." Darauf schlief der Herr und die Herrin und die sieben Wächter wieder ein.

Nach einiger Zeit klopfte der Bursche von seinem Baume aus zum dritten Male gegen die Hintermauer des Hauses. Sogleich begann der Vogel zu schreien. Sogleich sprangen der Herr und die Herrin auf, um wiederum das Haus abzusuchen, und sogleich erhoben sich die sieben Wächter und rannten suchend auf dem Wege zum Haustore hin und her. Sie fanden aber allesamt wieder nichts. Da wurden sie sehr ärgerlich. Besonders der Hausherr war wütend und



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schrie den singenden Vogel an: "Tir Lemechcheni, du hast uns für heute genügend gestört. Schweig jetzt, laß dich in Gottes Namen stehlen, laß uns aber schlafen, oder ich drehe dir den Kopf um." Der singende Vogel sagte: "Ich werde deinem Befehle gehorchen und schweigen." Danach legten sich alle nieder und schliefen alsbald ganz fest.

Sobald einige Zeit verstrichen war, stieg der jüngste Bruder von seinem Baume, schlich sich nach der Vorderseite des Hauses und überzeugte sich, daß alle Wächter schliefen und die Haustür weit offen stand. Er ging also hinein und auf die Kammer zu, aus der er die Stimme des singenden Vogels vernommen hatte. Er kam in die Kammer und sah beim Schein einer Lampe den singenden Vogel zwischen der Lagerstätte des Herrn und der der Herrin stehen. Der singende Vogel sah den Burschen wohl kommen. Er plusterte sich aber nur auf, nickte mit dem Kopf und schwieg. Denn sein Herr hatte ihm ja befohlen zu schweigen und sich in Gottes Namen stehlen zu lassen. Der Bursche sah, daß der Herr und die Herrin schliefen. So ergriff er denn den Käfig, in dem der singende Vogel eingeschlossen war, trug ihn erst aus der Kammer, dann über den Hof durch das Haustor und an den schlafenden Wächtern vorbei hinaus. Er ging um das Haus herum in den Wald dahin, wo seine Mauleselin stehengeblieben war, stieg auf und ritt mit dem singenden Vogel im Arme von dannen und nach dem Hause, indem er seine Brüder, die drei Frauen und die Schätze der Wuarssen zurückgelassen hatte.

In der Zeit nun, als der jüngste Bruder fort war, sagten die älteren beiden Brüder zu den drei Frauen: "Glaubt ihr, daß es unserem Bruder gelingen kann, den singenden Vogel zu erlangen?" Die jüngste der Frauen sagte: "Wenn euer Bruder ebenso klug ist, wie er sich als tapfer und stark erwiesen hat, so wird es ihm sicher gelingen." Darauf zogen die beiden Brüder sich in einen Winkel zurück und sprachen leise miteinander. Der eine sagte: "Wenn es unserem Bruder noch gelingt, den singenden Vogel zu erlangen und heimzukehren, so wird er und seine Mutter vor uns und unseren Müttern bevorzugt werden." Der andere Bruder sagte: "Wenn unser jüngster Bruder mit diesem Glück nach Hause kommt, wird er über uns sprechen und über uns Schande bringen. Wir wollen die Frauen also fragen, ob es nicht unterwegs noch eine Sache gibt, die unser Bruder nicht vollenden kann."



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Die Brüder kehrten zu den Frauen zurück und fragten: "Gibt es auf irgendeiner Seite des Waldes noch eine Gefahr, die wir zu bestehen haben, wenn wir heimkehren." Die älteste der drei Frauen sagte: "Wenn wir auf dem Wege heimkehren, auf dem euch euer Bruder hierher gebracht hat, so gibt es nichts Besonderes mehr. Es gibt aber noch einen andern Weg, der endet in der großen Ebene, an deren Rand Chtaf Laräis,* der Oberherr aller Wuarssen, Wache hält. Diesem Chtaf Laräis hat noch kein Wesen dieser oder einer andern Welt standhalten können, denn es ist der Herr der Welt unter uns." Als die Brüder das hörten, traten sie wieder zur Seite und sagten untereinander: "Wir wollen unsern jüngsten Bruder in die Hände des Chtaf Laräis bringen. Dem wird er nicht gewachsen sein. Wir werden sehen, was kommen wird."

Als es Abend wurde, sahen sie die Mauleselin mit dem jüngsten Burschen kommen. Die Frauen eilten heraus und schrien vor Freude und riefen: "Er hat den singenden Vogel! Er hat den singenden Vogel!" Die beiden älteren Brüder standen aber entfernt und konnten es nicht über sich gewinnen, ein freundliches Wort zu sprechen.

Der jüngste Bruder kam an. Er sagte: "Wir wollen sogleich alles aufpacken und alle miteinander zu unserem Vater und unseren Müttern heimkehren." Der älteste Bruder fragte: "Welchen Weg sollen wir nehmen?" Der jüngste Bruder fragte: "Gibt es denn außer dem Weg, auf dem wir gekommen sind, noch einen anderen?" Der zweite Bruder sagte: "Wir dachten, du wolltest vielleicht noch bei dem starken Chtaf Larais vorbeiwandern und ihm seine Reichtümer nehmen." Der jüngste Bruder fragte: "Wer ist dieser Chtaf Laräis ?" Der älteste Bruder sagte: "Es ist der Herr der Welt unter uns, der Herr aller Wuarssen, der Besitzer der größten Reichtümer, das stärkste aller Wesen, das noch nie überwunden wurde." Der jüngste Bruder sagte: "Natürlich werde ich bei diesem ausgezeichneten Chtaf Larais vorbeigehen. Ich danke euch, daß ihr mich auf ihn aufmerksam gemacht habt." Alle drei Frauen warfen sich aber vor dem jüngsten Bruder nieder, sie weinten und sprachen: "Du hast so viel vollbracht und so Großes getan, daß es genug ist! Begib dich nicht in diese neue größte Gefahr. Bring uns in Frieden heim aus diesem grauenvollen Walde." Der Jüngste lachte aber und sagte: "Auf, zeigt mir den Weg zum Chtaf Larais!"



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Den ganzen Tag gingen sie durch den Wald. Am Abend sagte der Jüngste: "Schlachtet drei von den Widdern, die wir den Wuarssen abgenommen haben, für mich zum Abendessen und laßt mich in Ruhe schlafen, ohne mich zu stören. Die Frauen bereiteten für den Jüngsten die drei Widder; der Bursche aß sie auf und legte sich dann nieder. Er schlief sogleich ein und wachte nicht eher auf, als bis die Sonne hoch am Himmel stand. Er blinzelte die Sonne an, streckte sich, gähnte und sagte: "Also heute werde ich den Chtaf Laräis treffen. Nun, dann werde ich noch ein wenig schlafen." Er drehte sich um, schlief wieder ein und wachte nicht vor einigen Stunden auf.

Danach brachen sie dann alle auf. Der Bursche ritt auf der Mauleselin vor seinen Brüdern her. Nach einiger Zeit kamen sie an die Grenze des Waldes, und als der Jüngste eben ins Freie kam, traf er auch schon auf Chtaf Laräis, der in großem Zorne sogleich nach ihm schlug, so daß die getroffene Mauleselin zu Boden sank. Der Jüngste rief: "Oho! Du glaubst wohl, ich habe für nichts so gut gegessen und geschlafen!" Der Jüngste schlug mit der geballten Faust und traf den Chtaf Larais so schwer, daß er erst blutend zusammenbrach und sich nur mühsam aufrichten konnte, um dann, so schnell er konnte, von dannen zu eilen.

Der Jüngste sagte: "So billig wollen wir den guten Chtaf Laräis denn nun doch nicht wegkommen lassen." Er setzte sich in Bewegung und rannte hinter dem Fliehenden her. Es war auch nicht schwer, den Weg zu finden, denn eine breite Blutspur zeigte ihn an. Der Jüngste kam nach einiger Zeit an einen Brunnen, in dem verlief sich die Blutspur. Er setzte sich nieder und wartete, bis seine Brüder auch herangekommen waren. Dann sagte er zu ihnen: "In diesen Brunnen ist der verwundete Chtaf Laräis hinabgestiegen. Hier hinab führt also offenbar der Weg in seine Welt, die unter der Erde liegt. Ich will hinabsteigen, macht ihr mir also aus Gras eine feste Schnur!"

Die Brüder machten sich sogleich daran. Bald kamen auch die drei Frauen und halfen dabei. Sobald die Schnur lang und stark genug war, sagte der Jüngste: "Bleibt ihr, meine Brüder, mit den drei Frauen und mit dem singenden Vogel zunächst hier. Laßt mich an der Schnur jetzt herab und wartet auf das Zeichen, das ich euch geben werde, damit ihr mich dann wieder in die Höhe zieht." Darauf verabschiedete sich der Jüngste von allen, ließ sich anseilen und in den Brunnenschacht hinablassen.



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Kaum war der Jüngste an dem Seil auf dem Boden angelangt, kaum hatte er sich abgebunden, da sah er auch schon einen alten Mann sitzen, dessen Augenbrauen waren so lang und dicht gewachsen, daß sie bis zum Kinn herabfielen, so daß er nichts zu sehen vermochte. Der jüngste Bursche zog sogleich sein Messer heraus und schnitt dem Alten die Brauen über dem einen Auge ab. Erstaunt hob der Alte den Kopf und sagte: "Was? So sieht die Welt aus, in der ich mich befinde? Ach! Wie die Welt aussieht! Ich bitte dich! Ich bitte dich, schneide mir auch die Brauen auf der andern Seite ab, damit ich auf beiden Augen sehen kann!" Der jüngste Bursche sagte: "Ich will es schon tun, du mußt mir aber schwören, daß du mir nachher das Haus des Chtaf Laräis zeigen willst." Der Alte sagte: "Ich schwöre dir bei Gott, daß ich dir das Haus des Chtaf Larais zeigen werde, sobald du mir die Brauen auf der andern Seite abgeschnitten hast, womit ich dann selbst jeden Weg sehen und finden kann." Der Jüngste schnitt dem Alten darauf auch auf der andern Seite die Brauen ab. Der Alte konnte nun wie jeder andere sehen und ging sogleich voran, dem Jüngsten das Haus des Chtaf Larais zu zeigen.

Der Alte und der Bursche schritten gut aus, und so kam es, daß sie gerade am Hause ankamen, als just eben der Chtaf Larais selbst hineingestolpert war. Der Bursche nahm schnell vom Alten Abschied und blickte vorsichtig durch den Durchgang. Er sah, wie der Chtaf Larais soeben vor Schmerz brüllend und schwer blutend auf dem Teppich zusammengesunken war. Er sah, wie die beiden schönen Frauen des Chtaf Larais sich um ihren Herrn und Meister bemühten, und er sah, wie schön diese beiden Frauen Jtreisch (die Sonne) und Aigur (der Mond) waren. Der Bursche beobachtete, wie die Frauen den Verwundeten betteten und für ihn sorgten. Er ließ aber zunächst nichts von seiner Gegenwart merken. Er zog sich wieder bis nahe zur geschlossenen Haustür zurück.

Nach einiger Zeit kam aber Jtreisch heraus. Sie sah den Jüngsten, erschrak, schloß aber schnell hinter sich die Tür zu dem Krankenzimmer, trat an den Burschen heran und sagte: "Sage mir, bist du es, der den abscheulichen Chtaf Laräis so schwer getroffen hat? Sage es mir, damit ich die Hand, die es tat, küssen kann!" Der Bursche sagte: "Den Anfang habe ich allerdings gemacht. Es wird aber sehr schwer sein, den Chtaf Laräis vollständig zu töten." Die Frau sagte: "Du hast recht. Er hat sein Geheimnis."

Der Bursche sagte: "Der Chtaf Laräis muß sein Geheimnis haben,



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sonst wäre er bei dem Schlage, den ich ihm versetzt habe, gestorben. Er muß ein anderes Leben haben als seine Diener, die Wuarssen. Niemand als er allein wird wissen, wo er sein Leben hat und wie man ihn töten könnte, wenn ihr, seine Frauen, ihm das Geheimnis nicht zu entlocken versteht. Ihr beide könnt das aber vielleicht erreichen. Ich rate euch, daß ihr nachher beim Mehlreiben an der Mühle laut klagt und weint, so daß er aus dem Schlafe, in den er jetzt gesunken ist, erwacht. Er wird euch fragen, warum ihr jammert. Ihr müßt ihm sagen, daß ihr seinen Tod fürchtet und daß ihr vor seinem Tode große Furcht habt, weil ihr dann niemand mehr habt, der für euch sorgt. Laßt euch nicht mit Versicherungen seiner Lebenskraft abspeisen, sondern bittet ihn darum, daß er euch, damit ihr von der Sicherheit seines Lebens überzeugt und damit beruhigt werdet, das Geheimnis anvertraut. Wenn ihr aber dieses Geheimnis erfahrt und mir mitteilt, kann ich euch die Versicherung geben, daß ich ihn vollkommen vernichten werde." Jtreisch versprach ihm mit Aigur alles auszuführen, wie er es so klug vorgeschlagen habe, und dann versteckte sie ihn nahe der Kammer, in dem Chtaf Laräis lag, damit er nachher die ganze Unterredung mit anhören könne.

Chtaf Laräis war noch nicht so sehr lange eingeschlafen, da begannen die beiden Frauen das Korn auf der Mühle zu mahlen und dazu zu weinen und zu klagen, und das taten sie so laut, daß der Chtaf Larais aufwachte und laut nach ihnen rief. Die Frauen verließen darauf die Mahlsteine, kamen zu Chtaf Laräis und knieten weinend und schluchzend an seinem Bette nieder. Chtaf Larais fragte: "Was habt ihr? Was weint ihr?" Die Frauen sagten: "Wir klagen und weinen aus Furcht. Wir fürchten, daß du sterben könntest. Und wenn du sterben würdest, hätten wir niemand, der für uns sorgt." Chtaf Larais sagte: "Darum sorgt euch nicht. Ich sterbe nicht so einfach, wie ein gewöhnlicher Wuarssen. Mein Leben ist gut aufgehoben. Niemand, der es nicht weiß, wird mein Leben finden und so meinen Tod herbeiführen können." Die Frauen weinten weiter. Chtaf Laräis sagte: "Was weint ihr denn nun noch weiter? Ich habe euch doch nun erklärt, daß es sehr schwer ist, mein Leben zu finden!" Jtreisch sagte: "Sieh, das alles sind Worte. Wer deine Wunde sieht, wer deine Schwäche sieht, wer dein Blut fließen sieht, wie wir beide, der ist nicht durch Worte zu beruhigen. Wenn du uns Ruhe geben willst, so sage uns, wo dein Leben sich befindet, damit wir erkennen und deutlich sehen, wie schwer es ist,



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dieses Leben zu finden. Nur das allein kann uns unsere Ruhe wiedergeben."

Chtaf Larais sagte: "So hört denn zu, ihr törichten Frauen. Meine Seele ist ein Haar (= insis), das ist verborgen in einem Ei (= tamlalt). Das Ei befindet sich in dem Leibe eines Rebhuhnes (= taskurth). Das Rebhuhn lebt aber im Leibe einer Kamelstute (= talromth). Die Kamelstute liegt unter einem Felsblöcke (=tathruth) und der Felsblock auf dem Grunde des Meeres, da wo es am tiefsten ist (Meer =lebharr). Solange das Haar nicht zerbrochen ist, kann ich nicht sterben, und nur der, der das Haar findet, kann mich töten. Ihr seht also, ich bin meines Lebens sehr sicher!" Aigur sagte: "Ja, du bist deines Lebens ganz sicher, da die Kamelstute immer unter dem Felsblock auf dem Meeresboden liegt." Chtaf Larais sagte: "Ja, die Kamelstute ist immer in der Meerestiefe unter dem Felsblock. Nur einmal, genau in der Sonnenhöhe (Mittags), kommt die Stute für einen Augenblick an die Küste des Meeres, um ein einziges Mal Atem zu holen." Jtreisch sagte: "Wir danken dir, daß du uns mit dieser Mitteilung einen glücklichen Ausblick für die Zukunft eröffnet hast. Wir werden hoffnungsvoll nun alles Schwere und Besorgliche leicht ertragen." Damit gingen die Frauen heraus.

Der Bursche hatte in seinem Verstecke alles mit angehört. Sowie die Frauen das Zimmer des Kranken verlassen hatten, kam er auch heraus, nahm von ihnen Abschied, schloß die Tür hinter sich und marschierte dem Ufer des Meeres entgegen. Am Meeresufer legte er sich nieder, den Säbel in der Hand, und wartete den Mittag ab. Er hielt nach allen Seiten scharf Umschau, und kaum stand die Sonne in der Mitte des Himmels, da entstanden auch schon Kreise im Wasser, in deren Mitte erst die Ohren der Kamelstute und dann deren Kopf sichtbar wurde.

Der jüngste Bursche eilte so schnell er konnte zu der Stelle der Meeresküste, auf die die Kamelstute zuschwamm, und kaum war sie an das Ufer gestiegen, so sprang er zwischen den Steinen hervor auf sie zu und schnitt ihr mit einem Säbelhieb den Bauch auf, worauf ein Rebhuhn herausfiog. Sowie der Säbel des Burschen in den Leib der Kamelstute drang, schrie Chtaf Lands in seinem Krankenzimmer vor Wut und Schmerz, so daß seine beiden Frauen erschreckt herbeiliefen.

Der jüngste Bursche hatte scharf auf das Hervorfliegen des Rebhuhnes geachtet und sprang flugs hinter ihm her. Er griff einen Stein auf und warf. Er traf so glücklich, daß dem Vogel der Kopf



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zerquetscht wurde und er im Todesschreck das Ei fallen ließ. Als der Kopf des Rebhuhnes zermalmt wurde, bäumte sich Chtaf Larais in seinem Krankenzimmer brüllend auf, so daß seine beiden Frauen entsetzt von dannen liefen.

Der jüngste Bursche bemerkte sehr wohl, daß das sterbende Rebhuhn das Ei zwischen die Kiesel der Küste herabgleiten ließ und fing es schnell auf. Er schlug das Ei gegen einen Stein, so daß es zersprang und das Haar herabfiel. Als das Ei zersprang, schlug Chtaf Larais in seinem Krankenzimmer so wild um sich, daß das Haus zu wanken begann und die Beobachtungskammer einstürzte. Die beiden Frauen flüchteten aber entsetzt in eine Grube, die als Speicher für Oliven diente.

Als das Haar aus dem Ei fiel, zog ein Wind über die Küste, von dem wollte das Haar sich forttragen lassen. Der jüngste Bursche haschte es aber schnell und zerbrach es zwischen seinen Händen. In dem Augenblick streckte sich Chtaf Larais in seinem Krankenzimmer lang aus und war tot.

Der Jüngste begab sich, sowie er das Haar zerbrochen hatte, auf den Rückweg. Als der Jüngste im Hause ankam, traten ihm Jtreisch und Aigur entgegen und sagten: "Es ist dir gelungen, du hast Chtaf Larais getötet. Wir danken dir. Wenn es dir recht ist, so wollen wir deine Gemahlinnen werden, und du kannst überzeugt sein, daß wir unser ganzes Leben hindurch emsig danach trachten werden, dir dafür zu danken, daß du uns von diesem schrecklichen Ungeheuer befreit hast."

Der jüngste Bursche lachte vor Freude über das Glück, das ihm beschieden war. Dann ging er mit den beiden Frauen im Hause umher und packte alle Kostbarkeiten zusammen, die ihm und ihnen mitzunehmen begehrenswert erschienen.

Jtreisch sagte aber zu dem jüngsten Burschen: "Hier habe ich ein ganz besonderes Schmuckstück, das ist der Tachasims lebri (wörtlich der Ring des Willens oder Wunsches). Nimm ihn an dich und stecke ihn an deinen Finger. Hast du noch irgendeinen Wunsch, so wende den Ring an deinem Finger und sprich den Wunsch aus, so wird er dir allsogleich erfüllt werden. Es ist nun sehr wohl möglich, daß wir im Leben einmal getrennt werden, sei es durch die Eifersucht deiner Brüder, sei es durch eine andere Ursache. Du kannst mit Hilfe dieses Ringes aber überall zu mir gelangen." Der Jüngste steckte den Ring an seinen Finger, bedankte sich und begann zum Fortgange zu rüsten.



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Der Jüngste und die beiden Frauen packten die begehrenswerten Schätze zusammen, und dann zogen sie zu dem Brunnenschacht, in dem das Seil der Brüder aus der oberen Welt herunterragte. Der Jüngste sagte: "In welcher Reihenfolge wollen wir uns nun heraufziehen lassen?" Jtreisch sagte: "Es wird vorsichtiger sein, wenn wir Frauen uns zuerst heraufziehen lassen. Wenn deine Brüder die Absicht haben, dich herabstürzen zu lassen, so werden sie denken, du seist der erste. Du aber kannst mit deiner ungeheueren Stärke jede von uns leicht auffangen, wenn die Brüder sie, in der Meinung, du seiest es, herabstürzen lassen." Der Jüngste sagte: "Ihr habt recht." Er gab das Zeichen am Seil. Jtreisch ließ sich festbinden. Jtreisch nahm vom jüngsten Burschen Abschied und sagte nochmals: "Vergiß nicht den Ring!" Dann ließ sie sich heraufziehen.

Die zwei älteren Brüder hielten inzwischen mit den drei Frauen der Wuarssen und dem singenden Vogel am Rande des Brunnenschachtes Wache. Die zwei älteren Brüder sprachen abseits untereinander. Der ältere sagte: "Wenn unserm jüngsten Bruder dort unten nicht etwas ganz Besonderes widerfährt, so wird er noch mehr Ehre und Schätze gewinnen." Der zweite sagte: "Und unsere Schande wird noch wachsen." Der ältere Bruder sagte: "Wenn unser jüngster Bruder übersteht und lebend zurückkehren will, wollen wir ihn, statt ihn heraufzuziehen, herunterstürzen lassen." Der zweite Bruder sagte: "Er wird aber zuerst die Schätze, die er gewinnt, an das Seil binden, und die können wir so an uns nehmen. Wir werden es schon am Gewicht merken, wenn er es selbst ist, und können ihn dann herabstürzen lassen." Der älteste Bruder sagte: "Und dann ziehen wir heim mit dem singenden Vogel, mit den Frauen, den Schätzen und der Ehre. Über den Tod unseres jüngsten Bruders bringen wir aber ein schändliches Gerücht."

Unten wurde am Seil das Zeichen gegeben. Die zwei Brüder zogen am Seile und sagten: "Das ist zu leicht, das ist nicht unser Bruder." So kam Jtreisch herauf. Als sie ans Licht kam, waren alle erstaunt über ihre Schönheit. Die Brüder ließen das Seil wieder herunter, zogen wieder an und sagten: "Das ist zu leicht, das ist nicht unser Bruder." So kam Aigur herauf. Als sie ans Licht kam, waren alle wieder erstaunt über solche Schönheit. — Die Brüder ließen das Seil wieder herunter. Diesmal band sich der jüngste Bruder selbst an das Seil und nahm dazu noch die Schätze Chtaf Laräis in die Arme, so daß die Last sehr schwer war, als die Brüder



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anzogen. Die Brüder zogen das Seil nur ein Stück hoch. Dann sagte der älteste Bruder: "Das ist unser Bruder, wir wollen das Seil durchschneiden." Darauf nahm der zweite Bruder sein Messer heraus und schnitt die Schnur durch. Der jüngste Bruder stürzte mit seinen Schätzen im Arme und mit dem Seil auf die untere Welt, auf den Boden.

Der älteste Bruder sagte: "Nun wollen wir mit allem, was wir gewonnen haben, heimkehren." Er rief die Frauen zum Aufbruch zusammen. Alle Frauen weinten, als sie hörten, daß der jüngste Bruder unten geblieben war, weil das Seil gerissen sei. Der zweite Bruder sagte: "Jeder von euch, die heute oder in Zukunft noch einmal hierüber weint, schneide ich den Hals durch." Darauf unterdrückten sie die Tränen. Sie zogen vom Brunnenschacht fort. Jtreisch sagte insgeheim zu Aigur: "Wenn unser jüngster Bursche nur an seinen Ring denkt." Aigur sagte: "Ja, wenn er nur den Tachasims lebri nicht vergißt!"

Die älteren zwei Brüder kamen mit dem singenden Vogel, mit Jtreisch und Aigur, mit den drei Frauen der Wuarssen und mit vielen Schätzen in der Stadt ihres Vaters an. Der achtzigjährige Mann und seine ältesten beiden Frauen begrüßten sie freundlich. Die Mutter des Jüngsten stand hinten und schaute nach ihrem Sohne aus. Der achtzigjährige Mann fragte: "Wo ist mein jüngster Sohn? Wo ist euer jüngster Bruder?" Der älteste Sohn sagte: "Dein jüngster Sohn ist feige geflohen, als die Wuarssen den Kampf begannen; die Wuarssen liefen hinter ihm her und haben ihn totgeschlagen." Da schlug der achtzigjährige Mann sich voll Zorn die Faust vor die Stirn und rief: "Was war ich für ein Narr! Ihn hielt ich für den Mutigen und Klugen! Ihn liebte ich am meisten! Und er brachte mir die Schande ins Haus. Wehe der Mutter, die mir einen solchen erbärmlichen Sohn gebar." Und in seinem Zorn sperrte er die Mutter des jüngsten Burschen zu den Hunden in einen Stall.

Seinen älteren beiden Söhnen veranstaltete der achtzigjährige Mann aber ein großes Fest. Bei dem Feste sagte der Älteste insgeheim zu Jtreisch: "Ich werde dich und mein Bruder wird Aigur heiraten." Jtreisch sagte: "Ihr mögt uns zwingen nicht zu weinen. Ihr mögt die Weiber der Wuarssen zwingen, euch in allem zu Willen zu sein. Aber wenn ihr beiden Aigur und mich zwingen wollt, euch zu heiraten, ehe ihr nicht unsere Bedingungen erfüllt habt, werden wir die furchtbare Wahrheit erzählen, ob ihr uns nachher



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tötet oder nicht. Unsere Bedingungen werden wir euch sagen, wenn es uns gut dünkt." Da ließen die beiden Brüder von dem Drängen ab. Sie waren zu verliebt und zu furchtsam, den beiden Frauen Gewalt anzutun.



***
Als der Jüngste mit dem abgeschnittenen Seil auf den Boden stürzte, vergaß er, daß er den Tachasims lebri am Finger hatte. Einen Monat lang dachte er nicht an den Ring. Eines Tages rang er aber voller Wut über die Schlechtigkeit seiner Brüder und über die eigene Ohnmacht die Hände. Da verschob sich der Ring, so daß die Innenseite nach außen kam, und sogleich sagte der Ring: "Was wünschst du ?" Der Jüngste erstaunte und rief: "Wie töricht ich war, den Ring zu vergessen! Schnell, bringe mich zunächst einmal auf die Erde!" Sogleich befand sich der Bursche auf der Oberfläche der Erde. Der jüngste Bursche sprach wieder zum Ringe: "Jetzt möchte ich schwarze Kleider und eine schwarze Stute haben." Sogleich hatte er schwarze Kleider und eine schwarze Stute.

Der jüngste Bursche ritt auf dem Wege zu der Stadt, in der sein Vater, seine Mutter und seine Geschwister wohnten. Er kam an. Er ließ die Stute vor den Toren der Stadt. Er ging hinein und suchte das Haus eines armen Mützenmachers auf, trat bei dem Mützenmacher ein und sagte: "Gestatte mir, daß ich bei dir das Handwerk erlerne und für dein Geschäft arbeite." Der Mützenmacher sagte: "Mein guter Bursche, ich würde dich sehr gerne aufnehmen und dich mein Geschäft lehren. Ich bin aber sehr arm und verdiene jeden Tag genau ein Brot, so daß ich gerade allein satt zu essen habe. Es ist mir unmöglich, noch einem zweiten Menschen Nahrung zu bieten, geschweige denn, daß ich ihm einen Lohn zahlen könnte." Der jüngste Bursche sagte: "Ich habe noch genug, um dir etwas zu zahlen dafür, daß du mich das Handwerk lehrst. Das wird lange genug reichen, bis ich genügend gelernt habe, um deinen Verdienst so zu vermehren, daß du noch etwas erübrigst." Der Mützenmacher sagte: "Dann ist es mir recht."

Der jüngste Bursche blieb bei dem Mützenmacher und lernte dessen Geschäft. Er gab dem armen Mützenmacher soviel, daß beide gut davon leben konnten. Auch lernte er das Geschäft sehr schnell, so daß der Mützenmacher bald mehr verdiente als vordem. Danach begann der jüngste Bursche im geheimen in seiner Kammer den Ring zu drehen und sich besondere Stücke zu wünschen, die er dem Meister dann übergab. Der war sehr erstaunt über die ungewöhnliche



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und schnell wachsende Geschicklichkeit seines Gesellen, dessen Werkstücke seine eigenen Erzeugnisse weit übertrafen, so daß er bald wohlhabend wurde und in den Ruf eines ungewöhnlich geschickten Mannes kam.



***
Eines Tages drang der älteste Bruder wieder in Jtreisch, daß sie ihn doch heiraten möge. Jtreisch sagte: "So will ich dir denn meine erste Bedingung sagen: Sieh zu, ob du irgendwo im Lande, hier oder auswärts, ein Kleidungsstück von so besonderer Eigenart auftreiben kannst, wie es sonst kein Mann im Lande herstellen kann. Gelingt dir dies, so werde ich dir meine weiteren Wünsche sagen." Der Älteste dachte nach und ging hinaus zum Versammlungsplatz der Männer und sagte dort: "Ich möchte wohl ein Kleidungsstück von ganz besonderer Eigenart erwerben, wie es sonst kein Mann im Lande herstellen kann, und es soll mir dabei auf den Preis nicht ankommen. Kann mir einer von euch sagen, wo ich so etwas kaufen kann?" Einer der Anwesenden sagte: "In unserer Stadt ist ein Mützenmacher, dessen Kunstfertigkeit in der letzten Zeit derartig gewachsen ist, daß er alle Leute seines Geschäftes weit übertrifft. Vielleicht kannst du von diesem erhalten, was du wünschst."

Der älteste Bruder ging sogleich zu dem Mützenmacher und trug diesem sein Anliegen vor. Der Mützenmacher sagte: "Ich will sehen, was sich machen läßt. Komme in einigen Tagen wieder." Der älteste Bruder ging, und der Mützenmacher teilte den Auftrag seinem Gesellen mit. Der jüngste Bursche ließ sich genau auseinandersetzen, wer der Besteller sei und wie der Auftrag gelautet habe und sagte: "Mit diesem Auftrag sollst du Geld und Ehre gewinnen." Dann ging der Jüngste in seine Kammer, drehte den Ring und forderte sich eine goldene Mütze von so außerordentlicher Eigenart und so großer Schönheit, daß noch niemals jemand etwas Ähnliches hergestellt oder gesehen habe. —Sogleich lag die goldene Mütze vor ihm.

Nach einigen Tagen kam der älteste Bruder wieder zu dem Mützenmacher, nahm das herrliche Werkstück erstaunt entgegen, zahlte einen außerordentlichen Preis dafür und eilte, so schnell er konnte, nach Hause. Er ging zu Jtreisch, legte ihr die Mütze vor und sagte: "Hiermit habe ich deine erste Bedingung erfüllt, sage mir nun die zweite." Jtreisch betrachtete die Mütze von allen Seiten und erkannte auf den ersten Blick, daß die Mütze nur mit Hilfe des Wunschringes gewonnen sein konnte, daß also der jüngste Bursche



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in der Nähe sein mußte. Sie sagte zu dem ältesten Bruder: "Mein zweiter Wunsch ist der Besitz einer Gandura aus einem Stück ohne Naht. Wer solche Mütze herstellen kann, vermag wohl auch solche Gandura anzufertigen." Der älteste Bruder sagte: "Ich will sehen, was ich machen kann."

Der älteste Bruder ging zu dem Mützenmacher und trug ihm seinen Wunsch vor. Der Mützenmacher schüttelte den Kopf und sagte: "Ich bin ein Mützenmacher, aber kein Weber oder Schneider." Der älteste Bruder sagte: "Wer solche Mütze herstellen kann, vermag wohl auch solche Gandura anzufertigen. Es soll mir auf den Preis nicht ankommen. Ich werde nach einigen Tagen wiederkommen und nach der Gandura sehen." Der älteste Bruder entfernte sich. Der arme Mützenmacher blieb erschrocken zurück, denn die beiden ältesten Söhne des achtzigjährigen Mannes waren ihrer Grausamkeit wegen sehr gefürchtet.

In seiner Bedrängnis trug der Mützenmacher die Sache seinem Gesellen vor und sagte: "Ich fürchte, diese Angelegenheit wird für uns einen schlechten Ausgang nehmen." Der jüngste Bursche sagte: "Fürchte dich nur nicht, sondern wiederhole mir noch einmal genau, wie der Besteller seinen Auftrag begründet hat." Der Mützenmacher sagte: "Er hat gesagt: Wer solche Mütze herstellen kann, vermag wohl auch solche Gandura anzufertigen." Der jüngste Bruder sagte: "Dies ist nicht unrichtig. Ich bin früher Weber und Schneider gewesen und verstehe einiges davon. Also werde ich die Sache versuchen. Ängstige dich nicht zu sehr." Dann ging der jüngste Bursche in seine Kammer, drehte seinen Ring, sprach seinen Wunsch aus und hatte allsogleich die Gandura aus einem Stück ohne Naht vor sich liegen. Er gab sie seinem Meister, der sich über das schöne Stück und die Geschicklichkeit seines Gesellen nicht genug verwundern konnte.

Nach einigen Tagen kam der älteste Bruder, nahm die Gandura voller Freude in Empfang, zahlte einen hohen Preis, trug sie ZU Jtreisch und sagte: "Hier ist die gewünschte Gandura. Hast du nun noch eine Bedingung?" Jtreisch betrachtete die Gandura und sagte: "Ja, ich habe noch eine Bedingung. Ich will sogleich den Verfertiger der Gandura hier im Hause sehen. Also merke dir wohl, daß es der wirkliche Verfertiger und nicht etwa irgendein Vermittler sein muß. Wenn ich den wirklichen Verfertiger der Mütze und dieser Gandura hier vor mir sehe, werde ich mich sogleich bereit erklären, mich zu verheiraten." Der älteste Bruder eilte sogleich zu dem



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Mützenmacher und sagte: "Ich will sogleich wissen, wer die Mütze und die Gandura hergestellt hat. Sage es mir sogleich und rufe mir sogleich den Mann, oder ich lasse dir heute noch den Kopf abschlagen." Der Mützenmacher zitterte vor Angst und sagte: "Gehe nur nach Hause, ich will dir sogleich den Mann senden." Der älteste Bruder sagte: "Tue es nur sogleich, oder ich lasse dir bei Gott den Kopf abschlagen." Der älteste Bruder ging.

Der erschrockene Mützenmacher begab sich, als der andere das Haus verlassen hatte, in die Kammer des jüngsten Burschen. Er schrie vor Angst und sagte: "Oh, warum habe ich dich in meinem Hause aufgenommen! Oh, du bringst mir mit deinen Kunstwerken noch den Tod ins Haus!" Der jüngste Bursche sagte: "Was gibt es denn?" Der Mützenmacher sagte: "Der älteste Sohn des achtzigjährigen Mannes, an den ich die Mütze und die Gandura verkauft habe, war soeben bei mir und hat gedroht, mir heute noch den Kopf abschlagen zu lassen, wenn ich nicht sogleich den Mann zu ihm schicke, der sie hergestellt hat. Du hast diese Sachen aber so schnell hergestellt, daß es dabei sicher nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, und dafür wird man mich jetzt sicher zur Verantwortung ziehen." Der jüngste Bursche lachte und sagte: "Habe nur keine Furcht, ich werde sogleich hingehen und verantworten, was ich gemacht habe. Dir wird nichts geschehen." Der Mützenmacher wurde ärgerlich und sagte: "Ich weiß nicht, wie du darüber lachen kannst. Du weißt offenbar nicht, wie grausam die beiden Söhne des achtzigjährigen Mannes sind."

Der jüngste Bursche ging in seine Kammer, drehte seinen Ring und sagte: "Mache mich unkenntlich!" Sogleich war er unkenntlich. Dann machte er sich auf den Weg zum Hause seines Vaters, des achtzigjährigen Mannes. Er trat ein. Der achtzigjährige Mann und seine ältesten beiden Söhne waren im Zimmer. Aber niemand erkannte ihn. Der älteste Bruder begrüßte ihn und fragte: "Warst du es, der die Mütze und die Gandura hergestellt hat?" Der jüngste Bursche sagte: "Ich war es." Der älteste Bruder sagte: "Nimm eine Tasse Kaffee mit uns. Verweile einen Augenblick. Eine schöne Frau will dir für die Mütze und die Gandura danken. Der älteste Bruder ging hinaus. Er bestellte den Kaffee. Der Kaffee wurde gebracht. Dann kam der älteste Bruder mit Jtreisch in das Zimmer.

Jtreisch betrachtete den jüngsten Burschen. Sie erkannte den Ring an seinem Finger. Sie sah, daß er der jüngste Bursche war, wenn er sich auch verändert hatte. Sie sagte zu ihm: "Du hast mir



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mit der Mütze und der Gandura eine große Freude bereitet. Wenn wir dir nun einige Wünsche erfüllen können, so soll es geschehen." Sie wandte sich zum ältesten Bruder und sagte: "Nicht wahr, du bist damit einverstanden." Der älteste Bruder sagte: "Ich bin damit einverstanden."

Der jüngste Bursche sagte: "Wenn ich mir einiges wünschen darf, so bitte ich, zunächst darum, daß ihr den singenden Vogel bringt, damit ich ihn höre." Der älteste Bruder brachte den singenden Vogel und stellte ihn in die Mitte des Zimmers. Der jüngste Bursche fragte den singenden Vogel: "Wer hat dich aus deinem Hause genommen und wem gehörst du?" Der singende Vogel sagte: "Du allein hast mich aus meinem Hause genommen und dir allein gehöre ich!" Die ältesten Brüder sahen sich an. Sie sahen den Vater an.

Jtreisch sagte: "Hast du noch einen Wunsch?" Der jüngste Bruder sagte: "Bringt mir die drei Frauen herein, die mit den ältesten zwei Söhnen des achtzigjährigen Mannes angekommen sind." Jtreisch rief die drei Frauen. Sie kamen herein. Der jüngste Bursche drehte den Ring am Finger und sagte: "Nimm die Veränderung von mir." Da erkannte der achtzigjährige Mann und seine ältesten Söhne und die drei Frauen der Wuarssen den jüngsten Burschen, und die drei Frauen knieten vor ihm nieder, küßten ihm die Hände und dankten ihm wieder und wieder dafür, daß er sie aus dem Walde gerettet habe. Die beiden ältesten Brüder versteckten sich aber, und der achtzigjährige Mann erhob sich und schaute den jüngsten mit großen Augen an.

Jtreisch sagte: "Hast du noch einen Wunsch?" Der jüngste Bursche sagte: "Kommt, ihr beide, Jtreisch und Aigur, die ihr übrig geblieben seid von der Reise in die untere Welt des Chtaf Larais, und die ihr mir treu bliebt, nachdem meine Brüder mich zu töten versucht hatten, zu mir, und dann will ich meine Mutter aufsuchen, die einzige Frau, die meinem Vater einen seinen Wünschen entsprechenden Sohn geboren hat." Als der achtzigjährige, Mann das hörte, sank er vor Scham tief in die Erde, denn er konnte es nicht verwinden, daß er die beste seiner Frauen zu den Hunden in einen Stall gesperrt hatte. Die beiden ältesten Brüder sanken aber vor dem jüngsten Bruder nieder und baten ihn um Gnade.

Der jüngste Bruder ging mit Jtreisch und Aigur hin und befreite seine Mutter. Er vertrieb die Mütter seiner Brüder aus dem Hause und machte den einen derselben zu einem Schlächter, den andern



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zum Mistträger. (Bei den Kabylen sind die Schlächter stets vera achtet und in dieser Gegend wenigstens stets Neger.) Danach veranstaltete er ein großes Fest und heiratete Jtreisch und Aigur, Sonne und Mond. Bei dem Fest stand aber der singende Vogel mitten im Zimmer und sagte immer wieder: "Der jüngste Bursche allein hat mich aus meinem Hause genommen. Dem jüngsten Burschen allein gehöre ich."


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