Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


13. Die Schatzhöhle der Wuarssen

Es waren einmal (=l'laen) zwei Brüder, von denen war der ältere reich und seine Kinder waren Knaben, während der jüngere sehr arm war und als Kinder nur Mädchen hatte. Sie wohnten in zwei Gehöften, die einander sehr nahe lagen. Der Arme schlug sich mühsam durch und hatte es schwer, jeden Tag sein tägliches Brot zu erhalten. Der Reiche half dem jüngeren hierbei nie.

Eines Tages ging der Arme in den Wald, um Holz zu schlagen, das er in die Ortschaft tragen wollte, um es zu verkaufen. Nachdem er lange und schwer gearbeitet hatte, setzte er sich auf einen Baumstumpf und ruhte aus. Er saß so einige Zeit, da hörte er aus der Entfernung Geräusch herankommen. Er verhielt sich ganz still und



Atlantis Bd_02-116 Flip arpa

sah, wie sieben Wuarssen durch den Wald auf einen Felsen zugingen und da stehen blieben.

Einer der Wuarssen trat dann vor und sagte zu dem Felsen: "Öffne dich!" ("oelli!"). Darauf sprang der Felsen weit auseinander und bildete das Tor zu einer großen Höhle, in die der Arme gut hineinsehen konnte, da sie seinem versteckten Ruheplätze gerade gegenüber lag. Er sah, daß in der Höhle allerhand und außerordentliche Schätze aufgespeichert waren. Die sieben Wuarssen gingen in die Höhle, hielten sich einige Zeitlang darin auf und kamen dann wieder heraus. Als alle sieben herausgetreten waren, sagte einer von ihnen zum Felsen gewendet: "Schließe dich!" ("s[e]kórr!") Darauf trat das Felsentor wieder zusammen und schloss sich, so daß nichts mehr von alledem zu sehen war. Dann verließen die sieben Wuarssen den Platz vor dem Felsen und entfernten sich durch den Wald auf demselben Wege, auf dem sie gekommen waren.

Nachdem einige Zeit seit dem Weggange der sieben Wuarssen verstrichen war, erhob sich der Arme, legte sein Holzbeil beiseite, trat auf den Felsen zu und sagte wie der Wuarssen: "Öffne dich!" Genau wie bei den Worten des Wuarssen klaffte der Felsen auseinander und zeigte ein großes Tor, durch das der Arme nun viel deutlicher in die Höhle sehen konnte, weil er dicht davor stand. Der Arme trat ein. Vornan standen sieben Platten mit Kuskus, der duftete wundervoll. Daneben lag in einer Nische hoch aufgeschichtet ein mächtiger Haufen von Gold. Der Arme rührte den Kuskus nicht an, denn er war an Mäßigkeit gewohnt und hatte nur den einen Gedanken, bei dieser Gelegenheit für sich und seine Kinder ohne jeden Zeitverlust soviel zu gewinnen, daß er ein für allemal für das tägliche Brot genug habe. Er nahm also seinen Burnus (= teschlucht) ab und füllte ihn voll Gold. Er hob von Zeit zu Zeit das Bündel, um zu sehen, daß es auch nicht zu schwer werde. Er war aber als armer Mann, der gewohnt war, sein tägliches Essen durch Holzschlagen und Holztragen zu verdienen, im Tragen geübt und konnte so eine ganze Menge von dannen bringen. Er schulterte seine Last und trat aus der Höhle. Er wandte sich noch einmal um und sagte: "Schließe dich!" Darauf schloß sich das Tor hinter ihm, und der Felsen stand als ungetrennte Masse da wie vorher.

Der Arme trug seine Last mit Gold nach Hause und gleich in seine Kammer. Er legte sie in ein Loch und deckte es zu. Dann trat er



Atlantis Bd_02-117 Flip arpa

heraus, um sich von der Arbeit etwas zu erholen, und endlich sagte er zu seiner ältesten Tochter: "Geh doch einmal hinüber zu meinem älteren Bruder und bitte ihn, mir das Maß für eine Stunde zu leihen." Das Mädchen lief zu dem älteren Bruder hinüber und richtete die Bestellung aus. Der ältere Bruder, der sehr reich war, seinem Bruder aber niemals etwas gönnte, dachte bei sich: "Was mag dieser arme Tropf zu messen haben! Der Mensch ist doch so arm, daß er nicht einmal ein Stück Sandfeld besitzt, das er ausmessen könnte. Ich werde aber schon in Erfahrung bringen, was es da drüben mit einem Male zu messen gibt." Er strich also auf den Boden des Meßgefäßes etwas Harz und gab es dann der Tochter des Bruders. Der jüngere, arme Bruder empfing das Maß, ging damit in seine Kammer, schloß sie hinter sich ab und begann das Gold der Wuarssen zu messen. Er verdeckte den Schatz sehr sorgfältig und gab das Gefäß seiner Tochter mit dem Auftrage, es dem älteren Bruder wieder zurückzubringen. Er bemerkte dabei aber nicht, daß an dem auf den Boden des Gefäßes gestrichenen Harz ein Stück Gold hängen geblieben war.

Als der ältere reiche Bruder, der seinem armen Bruder nichts gönnte, also das Gefäß aus den Händen seiner Nichte entgegengenommen hatte, eilte er damit sogleich in das Haus und an das Feuer, um bei dessem Schein festzustellen, was der Bruder wohl gemessen habe. So fand er denn am Boden des Gefäßes das am Harze festgeklebte Gold. Der Mann setzte das Gefäß auf den Boden, schlug die Hände zusammen und rief: "Was, dieser Bursche, der immer nichts besitzen will, dieser Tropf, der immer den Armen macht, dieser Nichtsmensch, der kein Maß voll Ackererde zu haben behauptet, hat das Gold in solcher Fülle, daß er es schon mit einem Getreidescheffel ausmißt? Ho! Da soll er denn doch gleich mit mir teilen. Ho! Mir, dem älteren Bruder, soll er schon genug abgeben."

Der ältere reiche Bruder ergriff ein Beil und rannte voller Wut in das Haus des jüngeren armen Bruders, den er in seiner Kammer traf. Sofort lief er mit dem Beile auf ihn zu und sagte: "Du hast ja jetzt schon so viel Gold, daß du es mit dem Scheffel ausmißt. Schnell sage mir, wie ich auch zu solchem Reichtum kommen kann, oder ich töte dich. Schnell, sage es!" Der jüngere Bruder suchte den älteren zu beruhigen und sagte: "Aber, mein älterer Bruder, ich dachte immer, du wärest reich und für dich bedeute das Gold und das Brot nichts! Ich sehe nun, daß du noch mehr besitzen möchtest,



Atlantis Bd_02-118 Flip arpa

und ich will dir gerne sagen, wie du dazu kommen kannst. Es ist nicht nötig, mich deswegen totzuschlagen. Ich rate dir überhaupt, bei der Sache bedächtig und überlegt zu handeln, denn die Sache ist eine Angelegenheit der Wuarssen, die mit uns Menschen übel umgehen, wenn sie unserer habhaft werden."

Der jüngere Bruder schilderte also dem älteren alle seine Erlebnisse, er bezeichnete ihm genau die Stelle, an der er den Felsen finden würde, und ermahnte ihn zum Schluß, ja recht sorgfältig und nachdenklich zuwege zu gehen, indem er ihn nochmals auf die große Gefahr aufmerksam machte. Der ältere Bruder sagte aber: "Deine Redereien und Ratschläge kannst du dir sparen. Ich weiß mit Gold besser umzugehen als du, denn ich habe meine Erfahrung. Und was du, der Jüngere, fertig bekommst, das kann ich, der Ältere, noch allemal!" Damit entfernte er sich und ging nach Hause.

Am gleichen Abend legte sich der Reiche noch fünf Fellsäcke zurecht, die er am andern Tage mit Gold zu füllen gedachte. Die ganze Nacht hindurch schlief er aber nicht, so aufgeregt war er, in der Hoffnung, morgen diese große Menge Gold nach Haus bringen zu können. Als die Sonne aufging, hatte er sich schon zurecht gemacht und lief so schnell er laufen konnte nach dem Walde zu der Stelle, die der jüngere Bruder ihm bezeichnet hatte.



***
Der Reiche erkannte den Felsen sogleich. Er schrie ihn laut an: "Öffne dich!"worauf der Felsen sich zudem großen Tore öffnete, das in die Höhle führte. Der Reiche ging hinein. Sein erster Blick fiel auf die sieben Schalen mit Kuskus, der so wundervoll duftete, daß der Reiche, der gewöhnt war, alles Leckere, was sich ihm zeigte, für sich zu fordern, sogleich darüber herfiel. Er warf die Fellsäcke hin und begann von dem Kuskus der ersten Platte zu essen, und das schmeckte ihm so ausgezeichnet, daß er mit der zweiten fortfuhr und nicht eher aufhörte, als bis der letzte Brocken der letzten Schale völlig verzehrt war. Dann war der Reiche aber auch so vollgefüllt von Kuskus, daß es ihm schwer wurde, sich zu erheben.

Er sah nun das Gold, das in der Nische aufgespeichert lag. Er nahm seine fünf Lederbeutel, hockte sich nieder und füllte alle fünf mit Gold, bis in keinen einzigen mehr etwas hinein ging. Danach wollte er sich nun auf den Heimweg machen und nahm die fünf Säcke mit Gold auf. Er war aber als Reicher nicht gewöhnt, Lasten zu tragen. Dann hatte er das Maß dessen, was ein Mann zu tragen



Atlantis Bd_02-119 Flip arpa

imstande ist, vollkommen überschätzt, und endlich hatte er sich so voll gegessen, daß er sich kaum bewegen konnte. Erst wurde ihm schon das Aufstehen schwer. Dann konnte er die fünf gefüllten Säcke kaum emporheben, und endlich kam er mit der Last nicht durch das Tor, weil er zu gemästet war. Er suchte sich hindurchzuzwängen. Die Säcke blieben auf beiden Seiten am Felsen hängen. Er zog mit aller Gewalt. Mit alledem hatte er sehr viel Zeit verloren, hatte sich nun aber beinahe glücklich durch das Tor hindurchgepreßt, als er in der Entfernung ein Geräusch hörte, das augenscheinlich von den sieben Wuarssen ausging, die durch den Wald auf den Felsen und die Höhle zukamen.

Als der Reiche das Geräusch hörte, packte ihn eine entsetzliche Furcht. Jetzt fiel ihm erst ein, was der Bruder von der Gefahr erzählt hatte, in die er sich begeben würde. Der Reiche dachte jetzt nur noch daran, wie er dem Schicksal, verschlungen zu werden, entgehen konnte. Er ließ die schweren Ledersacke mit Gold fallen. Er sprang durch das Tor und vergaß in der Eile dem Felsentor zu befehlen, sich zu schließen. Das Felsentor blieb offen. Der Reiche sah sich draußen nach einem Schlupfwinkel um, in dem er sich verstecken könne. Er sah in der Nähe eine Grube. In diese Grube pflegten die Wuarssen die Leichen der Menschen, die sie getötet hatten, zu werfen, um sie für eine Zeit aufzuheben, in der sie Hunger hatten. Der Reiche stieg in die Grube und versteckte sich zwischen den Leichen.

Die sieben Wuarssen kamen. Die sieben Wuarssen sahen, daß das Felsentor geöffnet war. Sie sahen die mit Gold gefüllten Fellsäcke am Boden liegen. Sie sahen, daß die sieben Schalen mit Kuskus leer gegessen waren und machten sich sofort auf die Suche nach dem Diebe, der hier gewesen sein mußte. Einige suchten am Boden nach der Spur und entdeckten bald die Spur des Reichen, die in die Grube mit den Leichen führte. Die Spur führte nicht wieder aus der Grube heraus. Der Dieb mußte sich also zwischen den Leichen versteckt halten. Die Wuarssen zündeten nun ein Feuer an und machten ein spitzes Eisen darin glühend. Mit dem glühenden Eisen berührten sie dann in der Grube einen Körper nach dem andern. Als sie den glühenden Eisenstachel dem Reichen in den Leib stachen, schrie er vor Schmerz laut auf. Die Wuarssen sagten: "Das ist der Lebendige! Das ist der Dieb!"

Die sieben Wuarssen zogen den Reichen aus der Grube. Sie töteten ihn oben, dann aßen sie einiges, und zuletzt hingen sie den blutenden



Atlantis Bd_02-120 Flip arpa

Körper zur Warnung für andere an der Decke der Höhle auf, so daß er lang herunter hing. Nachdem sie dieses getan, verließen sie die Höhle. Einer von ihnen wandte sich um und sagte: "Schließe dich!" Da schloß sich das Felsentor, und der Felsen stand wieder als eine große geschlossene Steinmasse ohne Riß und Fuge da. Die sieben Wuarssen gingen von dannen wie sie gekommen waren.



***
Am gleichen Abend sandte der jüngere Bruder in das Gehöft-des älteren hinüber und ließ fragen, wo sein Bruder wäre. Die Frau ließ antworten, der ältere Bruder sei ganz früh am Tage weggegangen und seitdem noch nicht wiedergekommen. Der jüngere Bruder sagte bei sich: "Dann ist mein älterer Bruder sicherlich von den Wuarssen getötet, und das war sowieso zu fürchten, denn er war von Natur gierig und wollte von allem immer zu viel essen. Ich werde mich morgen früh selbst auf den Weg machen und nach meinem Bruder sehen."

Am andern Morgen ging der jüngere Bruder in den Wald zu dem Felsen, vor dem er am ersten Tage die sieben Wuarssen hatte sprechen hören. Er sagte zu dem Felsen: "Öffne dich!" Der Felsen klaffte auseinander, und der jüngere Bruder konnte durch das Tor in die Höhle sehen, in der dicht am Eingange die fünf Lederbeutel mit Gold lagen, in der die leergegessenen Kuskusschalen standen und von der Decke der blutende Leichnam seines Bruders herabhing. Der jüngere Bruder sagte: "So dachte ich es mir! Er wollte immer zu viel essen. Aber begraben werde ich ihn doch, und die Wuarssen sollen seinen Leichnam nicht zur Schande meiner Familie hängen haben."

Der Jüngste nahm den Leichnam seines Bruders von der Decke und schleppte ihn auf dem Rücken von dannen. Als er draußen war, wandte er sich noch einmal zu dem Tore und sagte: "Schließe dich!" Der Felsen schloß sich. Der jüngere Bruder schleppte den Leichnam auf dem Rücken immer weiter, bis er in seinem Gehöft ankam. Unterwegs tropfte der blutende Leichnam und hinterließ eine Spur von Blutstropfen. Es lief aber eine Schildkröte (= ifkerr) hinter dem jüngeren Bruder und seiner Leichenlast her und deckte unterwegs überall Erde auf die Blutstropfen, so daß die Blutspur verwischt war. Als der jüngere Bruder mit der Leiche des älteren auf dem Rücken in seinem Gehöft angelangt war, meldete sich die Schildkröte und sagte: "Ich bin von der Höhle der Wuarssen bis hierher immer hinter dir hergelaufen und habe über alle Blutstropfen,



Atlantis Bd_02-121 Flip arpa

die von der Leiche deines Bruders herabgefallen sind, Erde gestrichen, damit die Wuarssen die Spur verlieren und dich nicht finden. Für diese Arbeit zahle mir!" Der jüngere Bruder sagte: "Diese Arbeit zahle ich dir nicht, ich habe dich nicht damit beauftragt; du hättest mich vorher fragen sollen, ob sie mir recht ist."

Die Schildkröte wurde darüber böse. Die Schildkröte sagte: "Nun habe ich die ganze Arbeit umsonst gemacht. Wenn ich sie aber einmal umsonst gemacht habe, kann ich sie auch zweimal umsonst machen." Die Schildkröte lief also zurück und kratzte von allen Blutstropfen die Erde wieder ab, so daß sie wieder frei zutage lagen.

Am Abend kamen die Wuarssen zu ihrem Felsen zurück. Sie sahen, daß der Felsen geschlossen war. Ein Wuarssen trat vor und rief: "Öffne dich!" Sogleich öffnete sich der Felsen. Die Wuarssen blickten durch das Tor. Sie sahen, daß der Leichnam des erschlagenen älteren Bruders weggenommen war. Die sieben Wuarssen sahen sich staunend an. Sie wandten sich um. Sie suchten am Boden. Sie fanden die Spur. Sie liefen der Spur, die die Schildkröte erst zugedeckt, dann aber wieder freigelegt hatte, entlang. Die Wuarssen kamen zu dem Gehöft des jüngeren Bruders. Der jüngere Bruder wußte, daß die Wuarssen kommen würden. Er schaute hinaus, bis er sie in der Ferne kommen sah. Dann ging er ihnen entgegen.

Der jüngere Bruder lud die Wuarssen ein, sein Haus zu betreten und bei ihm zu speisen. Die sieben Wuarssen nahmen an. Er führte die sieben Wuarssen in eine Kammer, um die an den Wänden Häcksel und Stroh aufgeschichtet war. Er ging hinaus, das Essen zu holen. Er zündete den Häcksel und das Stroh an. Das ganze Haus mit den Wuarssen darin brannte ab.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt