Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


12. Das Leben im Ei

Ein junger Hirt (= amiksa; Plural: imichsäün) weidete die L., Schafe seines Vaters in der Steppe (= thamrischt). Der Schakal hatte großen Hunger. Er kam zu dem Hirten und fragte ihn:



Atlantis Bd_02-112 Flip arpa

"Kannst du mir nicht etwas zu essen geben?" Der junge Hirt sagte: "Du weißt, daß du mein Feind bist (Feind =athäu). Und jetzt willst du von mir Essen haben?" Der Schakal sagte: "Ja, ich bitte dich darum. Der, der gestern dein Feind war, kann morgen dein Freund (= äth[e]diak) sein." Der junge Hirt gab darauf dem Schakal ein Schaf. Der Schakal fraß es.

Abends trieb der junge Hirt seine Herde heim. Der Vater zählte die Schafe. Er fand, daß eines fehlte. Der Vater fragte den Hirten: "Wo ist das Schaf geblieben?" Der junge Hirt sagte: "Ein Schaf war sehr müde. Es blieb zurück und wurde vom Schakal gefressen." Der Vater schlug seinen Sohn und sagte: "Verlasse mein Haus!" Der Vater verjagte seinen Sohn.

Der junge Hirt ging. Er legte sich unter einen Feigenbaum. Als es Abend war, weinte er. Als es Nacht wurde, kam der Schakal und sagte zu ihm: "Komm, mein Freund und folge mir!" Der Hirt ging mit dem Schakal. Der junge Hirt blieb in der Nacht bei dem Schakal. Als aber der andere Morgen anbrach, fror ihn, denn er hatte nur wenige Kleider bei sich. Der Schakal sagte: "Komm, ich will dir Kleider verschaffen. Verstecke dich dort am Brunnen. Es kommen die Burschen vorüber, die zur Schule gehen. Ich werde sie locken, daß sie mir folgen. Wenn sie mir nachlaufen wollen und ihre Kleider wegwerfen, nimm die Kleider und komm dann in jenen Wald. Dort treffen wir uns wieder."

Die Burschen kamen. Der Schakal lief ihnen hinkend über den Weg. Die Burschen sahen ihn und riefen: "Ein hinkender Schakal!" Die Burschen warfen die Kleider weg, die sie im Laufen hinderten und rannten hinter dem Schakal her. Inzwischen aber kam der Bursche, nahm die Kleider, die er brauchte und lief mit ihnen in den Wald. Der Schakal lief einige Zeit hinkend vor den Burschen her. Als er sie weit genug weggelockt hatte, machte er aber einen weiten Satz und sprang auch in den Wald von dannen. Im Walde traf er wieder den Burschen.

Der Schakal sagte zu dem Burschen: "Nun komm mit mir. Ich kenne das Haus einer alten und sehr reichen Frau. Wir wollen sehen, ob wir nicht ihre Schätze für dich gewinnen können." Sie gingen zusammen durch den Wald. Sie kamen zu dem Hause der alten Frau. Sie klopften an und fragten: "Meine Mutter, dürfen wir uns bei dir zu Gaste laden?" (sich selbst einladen = larath; sich Selbsteinladender =inävgi; Plural: inäfgauen). Die alte Frau sagte: "Kommt nur herein. Ich habe eine Kammer, in der könnt



Atlantis Bd_02-113 Flip arpa

ihr schlafen. Ich habe ein Huhn, das werde ich schlachten, und ich werde euch ein gutes Essen bereiten. Bis morgen dürft ihr bleiben!" Der Bursche und der Schakal kamen herein.

Die alte Frau bereitete ihnen ein Essen. Sie aßen. Als es Nacht geworden war, saßen der Schakal, der Bursche und die alte Frau noch beieinander und plauderten miteinander (plaudern = l'hathrar; sprechen im Sinn von gewichtige Ansprachen usw. = thämthläith). Die alte Frau sagte: "Ich habe viel Gold. Aber es hat niemand gesehen, und es wird auch niemand sehen." Der Schakal fragte: "Kann man das Gold einmal betrachten?" Die Alte sagte: "Das Gold zu sehen ist für dich zu schwer; es ist nämlich in meinem Bauch (=älrburt)." Der Schakal fragte: "Und wo hast du deine Seele ?" (=tharuicht, anscheinend aus dem arabischen aro[a]ch stammend). Die alte Frau sagte: "Meine Seele ist noch schwerer zu erlangen als mein Gold. Meine Seele ist in einem Ei. Das Ei ist in einem Rebhuhn. Das Rebhuhn ist in einem Widder (=ikerri). Der Widder ist in einem Felsen (=adrar). Der Felsen liegt in der Mitte des Meeres. (Für Meer gebrauchen die alten Kabylen auch hier das Wort: thämda-misseba, was eigentlich Seen [=thämda] sieben heißt. Das Meer besteht nach Anschauung dieser alten Leute aus sieben Seen.) Der Schakal war über diese Mitteilung sehr erstaunt (erstaunt, verblüfft sein =l'ma'ajba). Er sagte nichts, ging zum Schlafen und dachte viel darüber nach.



***
Am andern Morgen verabschiedeten sich der Schakal und der Bursche von der Alten und machten sich auf den Weg. Sie waren ein gutes Stück gegangen, da kamen sie zu zwei Burschen, die schlugen sich. Der Schakal sagte: "Was schlagt ihr euch?" Die Burschen sagten: "Wir schlagen uns um einen Stock. Es ist ein Stock, mit dem kann man das Meer trocken machen." Der Schakal sagte: "Schlagt euch nicht darum. Gebt mir den Stock. Ich will mich hier am Waidrande aufstellen. Nun geht dort bis auf den Hügel. Wenn ich rufe, fangt ihr an zu laufen. Wer zuerst bei mir ankommt, bekommt den Stock. Seid ihr damit einverstanden?" Die beiden Burschen sagten: "Ja, so wollen wir es machen." Sie gingen.

Während die Burschen zu der Stelle gingen, die ihnen bezeichnet war, begann der Schakal sogleich einen Ast am Waldrande abzubrechen, und daraus schnitzte er einen Stock, der sah genau so aus, wie der, mit dem man das Meer trocken machen kann. Die Burschen



Atlantis Bd_02-114 Flip arpa

waren auf dem Hügel angekommen. Sie riefen: "Sollen wir anfangen?" Der Schakal sagte: "Seid ihr beide auf dem Hügel?" Die Burschen riefen: "Ja, wir sind beide auf dem Hügel!" Der Schakal rief: "Dann lauft." Die beiden Burschen liefen, so schnell sie konnten. Der eine kam eher an als der andere. Der Schakal gab ihm den Stock, den er geschnitzt hatte und sagte: "Du hast dir den Stock, mit dem man das Meer trocken machen kann, redlich verdient. Nimm ihn." Er gab dem Burschen den falschen (=n'dirri) Stock und behielt den richtigen (= la'ali).

Der Schakal ging mit dem Burschen und dem Stock, mit dem man das Meer trocken machen konnte, weiter und kam mit ihm zu einer Stelle, da hatte ein Schakal einen Adler gepackt und wollte ihn erwürgen. Der Schakal warf sich auf seinen Bruder, biß ihn und sagte: "Laß meinen Freund los!" Der gebissene Schakal ließ den Adler frei. Der Adler stürzte sich auch auf den gebissenen Schakal. Der gebissene Schakal eilte, sobald er sich drücken konnte, eilig von dannen. Der Adler sagte: "Jetzt bin ich euer Freund." Der Schakal sagte: "So komme mit uns."

Der Schakal mit dem Stock, mit dem man das Meer trocken machen konnte, der Bursche und der Adler gingen weiter und kamen an eine Stelle, an der ein Löwe mit einem Stier kämpfte. Der Löwe war dem Stier in den Nacken gesprungen und wollte ihn tot beißen. Der Schakal sah dies und lief nahe zu dem Besitzer des Stieres: "Awawdth! Awawdth (Besitzer, Besitzer), komm schnell! Dein Stier ist in Lebensgefahr!" Darüber erschrak der Löwe und rannte, so schnell er konnte, von dannen. Der Stier aber sagte zum Schakal: "Jetzt bin ich dein Freund!" Der Schakal sagte: "So komm mit uns."

Der Schakal mit dem Stock, mit dem man das Meer trocken machen konnte, der Bursche, der Adler und der Stier kamen zusammen an das Meer. Der Schakal schlug mit dem Stock auf das Ufer. Da ward das Meer sogleich trocken. In der Mitte des Meerbodens lag ein großer Fels. Der Stier rannte mit den Hörnern auf den Felsen zu. Der Felsen barst. Aus dem Felsen sprang ein Widder hervor. Der Schakal sprang auf den Widder, biß ihn tot und riß ihm den Leib auf. Aus dem Leib kam ein Rebhuhn empor. Das Rebhuhn flog hoch. Der Adler stieß auf das Rebhuhn und biß es tot. Als das Rebhuhn starb, fiel ein Ei heraus. Der Bursche sprang schnell herzu und fing das Ei auf.

Als das Rebhuhn das Ei fallen ließ, bekam die alte Frau in ihrem



Atlantis Bd_02-115 Flip arpa

Hause das Fieber. Der Schakal und der Bursche kehrten aber mit dem Ei zu dem Hause zurück. Als sie an die Türe der Hütte der alten Frau kamen, ließ der Bursche das Ei fallen. Das Ei zerbrach auf der Schwelle. Die alte Frau starb.

Der Schakal schnitt der alten Frau den Leib auf. Sie fanden darin ein sehr schönes Mädchen, das hatte im Haare das Bild des aufgehenden Mondes (=ajur -) und auf dem kleinen Finger einen Ring (=thächäthend). Als sie das Mädchen herausgenommen hatten, wuchs es sehr schnell.

Eines Tages steckte der Bursche den Fingerring an die eigne Hand. Er ging damit in die Stadt. In der Stadt sah er einen Juden. Der Jude sah den Ring. Er sagte zu dem Burschen: "Verkauf mir den Ring. Ich will dir den Ring abkaufen. Was willst du für den Ring haben?" Der Bursche sagte: "Wieviel gibst du mir?" Der Jude sagte: "Ich gebe dir ioo Goldstücke." Dann sagte er: "Ich gebe dir 500 Goldstücke." Dann sagte er: "Ich geb dir 1000 Goldstücke." Der Bursche sagte: "Ich will es mir überlegen." Der Bursche ging nach Hause und erzählte dem Schakal, was ihm der Jude für den Ring geboten habe. Der Bursche sagte zu dem Schakal: "Was meinst du dazu?" Der Schakal sagte: "Nein, gib den Ring nicht." Der Schakal steckte den Ring dem Mädchen an. Das Mädchen sprach zum erstenmal. Das Mädchen sprach einen Wunsch aus. Der Wunsch war sogleich erfüllt.

Der Bursche heiratete das Mädchen. Er ward ein großer Agelith über alles Land und erhielt, was er wünschte.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt