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VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


11. Chtaphlaräith

Ein Mann hatte einen Sohn und eine Tochter, aber seine Frau war gestorben. Seine beiden Kinder waren erwachsen, der Sohn ein kluger und starker Bursche, seine Tochter aber ein so schönes Mädchen, daß er sie immer eingeschlossen hielt, damit die Männer sie nicht sehen und gierig werden sollten. Eines Tages wollte der Mann nun mit seinem Sohne eine große Reise unternehmen. Der Vater sagte: "Mein Weg wird mich weit fortführen. Ich werde vor einem Jahre nicht zurückkommen." Das Mädchen fing an zu weinen.

Der Vater sah seine Tochter weinen und sagte: "Ich werde ein Jahr fortbleiben. Ich lasse dir aber für sieben Jahre Vorräte zurück, so daß du nicht in Not geraten kannst. Ich werde den Agelith bitten, daß er alle Tage seine Alte sendet, nach dir zu sehen, und ich werde auch den Usir bitten, für dein Wohl sorgen zu lassen." Der Vater ging hin und besprach erst alles mit dem Agelith und dann mit dem Usir. Dann nahm er Abschied, reiste mit seinem Sohn ab und ließ seine Tochter allein zurück.

Der Agelith sandte nun alle Tage die alte Frau, um nach dem Mädchen zu sehen. Die alte Frau kam jeden Tag zu dem Mädchen, begrüßte sie, sprach mit ihr und sorgte für alles, was sie nötig hatte. Die alte Frau sagte eines Tages zu dem Agelith: "Dies Mädchen ist die schönste Frau im ganzen Dorfe." Der Agelith wurde neugierig. Am andern Tage folgte er der alten Frau heimlich und trat, als die Alte bei dem Mädchen eingetreten war, unbemerkt hinter die Tür. Als die Alte gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat der Agelith hervor und sagte: "Guten Tag, meine Tochter." Das Mädchen antwortete auf den Gruß des Agelith, sprach aber nichts weiter mit ihm. Der Agelith sah aber das Mädchen. Er sah die Schönheit des Mädchens und war sogleich verliebt wie ein Narr (=isselev). Er ging fast besinnungslos (=immechal; soviel wie entnervt, aller Kräfte beraubt) nach Hause. Der Agelith war von dem Tage an stumm und verwirrt.

Der Usir sah den Zustand des Agelith. Er fragte die Alte: "Was ist dem Agelith zugestoßen?" Die Alte sagte: "Der Agelith hat das schöne Mädchen gesehen und ist von ihrer Schönheit so verwirrt, daß er wie ein Narr ist." Der Usir sagte: "Ist das Mädchen denn so schön?" Die Alte sagte: "Es ist die schönste Frau im ganzen Ort." Der Usir wurde neugierig. Der Usir sandte am andern Tage zwei



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Frauen zu dem Mädchen und sagte: "Ich habe dem Vater versprochen, in seiner Abwesenheit nach dem Wohlbefinden seiner Tochter Umschau halten zu lassen. Geht von heute ab jeden Tag hin, und seht, ob dem Mädchen nichts fehlt."

Die beiden Frauen gingen zu dem Hause des Mädchens. Der Usir folgte ihnen heimlich. Die Frauen gingen hinein und mit dem Mädchen herum. Der Usir schlüpfte in das Haus und versteckte sich in dessen Mitte. Die beiden Frauen lachten mit dem Mädchen, scherzten und gingen dann. Als sie gegangen waren, kam der Usir hervor und begrüßte das Mädchen. Das Mädchen schrie auf und lief in eine kleine Kammer, in die verschloß sie sich. Der Usir ging zur Haustür und warf sie zu. Er ging aber nicht hinaus, sondern er versteckte sich an einer andern Stelle, denn er war auch von der Schönheit des Mädchens berauscht wie der Agelith. Er mochte sich nicht von ihr trennen. Der Usir blieb bis zum andern Morgen in seinem Versteck.

Am andern Morgen kamen wieder die beiden Frauen, um sich mit dem Mädchen zu unterhalten. Das Mädchen hörte sie, schloß die Kammer, in der sie sich verschlossen hatte, auf und kam heraus. Die beiden Frauen sprachen mit dem Mädchen, scherzten und lachten mit ihm und gingen dann wieder. Das Mädchen schloß hinter ihnen die Türe von innen zu. Kaum aber hatte sie zugeschlossen, so sprang der Usir aus dem Versteck heraus, haschte das Mädchen und sagte: "Ich bin noch hier."

Das Mädchen erschrak und sagte: "Du hast doch meinem Vater versprochen, für mich sorgen zu lassen und nun verfolgst du mich! Mein Vater wird mich töten, wenn er hört, daß du bei mir warst. Wenn jemand sieht, daß du bei mir bist, wird er es meinem Vater sagen." Der Usir sagte: "Ich will mich nur ein wenig mit dir unterhalten." Das Mädchen sagte: "Meinst du es gut mit mir?" Der Usir sagte: "Gewiß, ich meine es gut mit dir."

Das Mädchen sagte: "Wenn du es gut mit mir meinst, so ziehe wenigstens die Kleider meines Vaters an. Lege deine Kleider in diesem Raume ab, gehe dort in die Kammer und ziehe die Kleider meines Vaters, die du darin findest, an. Ich werde, während du die Kleider wechselst, umsehen, wer kommt und geht. Wenn du die Kleider meines Vaters an hast, kannst du dich mit mir auch draußen unterhalten. Sehen dich die Leute in diesen Kleidern, werden sie nichts dabei denken, denn mein Vater ist in diesen Kleidern hier bekannt." Der Usir sagte: "So will ich es tun."



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Das Mädchen ging heraus. Es wartete, bis der Usir seine Kleider abgelegt hatte und in die Kammer gegangen war, in der die Kleider des Vaters liegen sollten. Als der Usir sich ganz nackt entkleidet hatte und in die kleine Kammer gegangen war, sprang das Mädchen herein und schloß die Kammertür zu. Dann nahm sie die Kleider, lief zu den Nachbarn und sagte: "Seht, der Usir ist eben zu mir gekommen und hat mich nicht in Ruhe lassen wollen. Ich habe ihn eingeschlossen. Seht! Hier sind seine Kleider."

Die Nachbarn kamen. Sie schlossen die kleine Kammer auf. Sie fanden den nackten Usir darin. Denn in der Kammer waren keine Kleider. Da beschimpften die Leute den Usir und zwangen ihn, nackt durch die Straßen zu laufen. Alle Leute traten heraus und riefen dem Usir schlimme Worte nach. — Das Mädchen aber verschloß die Kleider des Usir.

Der Usir fürchtete von nun an, daß der Vater und der Bruder des schönen Mädchens bei ihrer Rückkehr von dem Vorgefallenen Nachricht erhalten könnten und ihn dann zur Verantwortung ziehen würden. Er wollte dem zuvorkommen und sandte dem heimkehren- ein Vater einen Boten entgegen mit der Nachricht: "Deine Tochter, die du mir zur Aufsicht anvertraut hast, konnte ich nicht zügeln. Sie hat dein Haus allabendlich geöffnet und andere Mädchen und Burschen eingeladen. Deine Tochter hat sich schändlich benommen, und ich konnte sie nicht zur Ordnung bringen. Die Folgen ihres Benehmens werden bald zutage kommen."

Der Vater empfing diese Nachricht und sagte zu seinem Sohne: "Kehre vor mir heim. Ich will hier bleiben und nicht nach Hause zurückkehren. Untersuche, was an der Nachricht, die der Usir mir sendet, wahr ist. Hat deine Schwester sich so schlecht benommen, so töte sie. Haben aber andere einen schlechten Leumund ohne Grund über sie verbreitet, so töte die Lügner und sende mir ihr Blut."

Der Bruder kehrte heim. Er traf seine Schwester. Er sah, daß seine Schwester abgehärmt und abgemagert war. Er fragte seine Schwester: "Was ist dir geschehen?" Die Schwester erzählte dem Bruder, was der Agelith und der Usir getan hatten. Die Schwester zeigte dem Bruder die Kleider, die sie dem zudringlichen Usir abgenommen hatte, und rief die Nachbarn als Zeugen herbei. Der Bruder hörte alles. Er ging hin, tötete den Usir und den Agelith und sandte deren blutige Kleider seinem Vater. Dann aber verließ er mit seiner Schwester den Ort. Er ging mit seiner Schwester an



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diesem Tage bis an das Meer. Sie legten sich beide am Ufer des Meeres zum Schlafen nieder und wollten am andern Tage weitergehen.

Nachts aber schwoll das Meer. Eine Welle schlug über das Ufer. Die Welle hob den Bruder und seine Schwester auf und trug sie, zurückschlagend, fort. Das Meer trug den Bruder und seine Schwester weit fort in ein anderes Land und setzte sie am Ufer nieder. Der Bruder und die Schwester waren im Lande der Chtaphlaräith.

Der Bruder und die Schwester blieben bis zum andern Morgen am Ufer. Dann kam der Schäfer der Chtaphlaräith und nachher der Chtaphlaräith selbst. Chtaphlaräith sah aber kaum das schöne Mädchen, da ergriff er sie, flog mit ihr in die Höhe (oder setzte sie auf seine Schulter) und trug sie in sein Haus. Das Haus des Chtaphlaräith lag in einem Felsberg. Er hatte in seinem Hause schon neunundneunzig schöne Mädchen. Diese Schwester war die hundertste. Diese Mädchen und seine Schafe waren die Freude des Chtaphlaräith.

Chtaphlaräith setzte die Schwester in seinem Hause nieder und sagte zu ihr: "Dich lieb ich mehr als alle andern neunundneunzig Mädchen. Dich will ich heiraten." Die Schwester sagte: "Ich mag dich aber nicht. Ich werde dich nicht zum Mann nehmen, und wenn du mich alle Tage schlägst." Chtaphlaräith sagte: "Wenn du mich nicht heiraten willst, werde ich dich alle Tage schlagen lassen." Das Mädchen sagte: "Es ist mir recht. Eher lasse ich mich alle Tage schlagen, ehe ich heirate." Chtaphlaräith ließ dem Mädchen morgens hundert Stockschläge geben und abends hundert Stockschläge geben. Das Mädchen sagte aber jedesmal, nachdem es geschlagen war: "Ich heirate dich nicht!"

Der Bruder irrte inzwischen wie irrsinnig am Ufer des Landes hin und her und weinte über den Verlust seiner schönen Schwester. Endlich hörte er mit Klagen auf, ging zu dem Schäfer des Chtaphlaräith und sagte: "Wo wohnt Chtaphlaräith ?" Der Schäfer sagte: "Chtaphlaräith wohnt in einem Felsen." Der Bruder fragte: "Wie findet man den Weg zu diesem Felsen?" Der Schäfer sagte: "Man braucht nur diesen schwarzen Widder (kheri - äbecher) zu besteigen. Der Widder geht am Abend zu dem Hause des Chtaphlaräith."

Der Bruder sagte zu dem Schäfer: "Schäfer, willst du mich an deiner Stelle heute abend deine Herde zum Hause des Chtaphlaräith



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zurücktreiben lassen?" Der Schäfer sagte: "Ich bin es zufrieden, wenn ich den Dienst beim Chtaphlaräith verlassen kann. Was gibst du mir aber dafür?" Der Bruder sagte: "Nimm alle meine Kleider und was ich bei mir habe; gib mir dafür deine Kleider und sage mir, was ich wissen und was ich sprechen muß, daß der Chtaphlaräith den Wechsel nicht merkt." Der Schäfer sagte: "Es ist mir recht." Darauf wechselten sie die Kleider.

Als der Bursche die Kleider des Schäfers angezogen hatte, sagte der Schäfer zu ihm: "Nun merke dir genau, was du tun mußt, um in das Haus des Chtaphlaräith zu kommen. Du besteigst diesen schwarzen Widder. Er wird dich bis zu dem Felsen tragen, in dem Chtaphlaräith wohnt. Der Widder wird mit den Hörnern gegen den Felsen rennen, und der Fels wird sich von selbst öffnen. So kommst du in das Haus. Im Hause hat jeden Tag eines der hundert Mädchen Wache. Heute ist die Reihe an deiner Schwester. Das Mädchen, das die Wache bei den Schafen hat, muß die Schafe melken. Du wirst also deine Schwester gerade heute sehen. Nach einiger Zeit kommt dann aber der Chtaphlaräith selbst. Er wird dir sechs Fragen vorlegen. Die erste Frage ist: ,Wo hast du heute geweidet?' Darauf mußt du antworten: ,Ich habe auf Akaber (eine Weide mit guten Kräutern) geweidet.' Seine zweite Frage ist: ,Gibt es auch da viele Arvää (gute Schafskräuter)?' Darauf mußt du antworten: ,Es ist dort grün und trocken.' Seine dritte Frage ist: ,Gibt es dort einen Schakal?' Darauf mußt du antworten: ,Der Schakal ist der Genosse des Hirten und verläßt ihn nie.' Seine vierte Frage ist: ,Hat der Schakal etwas gegessen?' Darauf mußt du antworten: ,Der Schakal bleibt nie zurück, ohne seinen Teil zu nehmen.' Seine fünfte Frage ist: ,Hat er ein junges oder ein altes Schaf genommen?' Darauf mußt du antworten: ,Der Schakal ist nicht wählerisch, er nimmt, was ihm gefällt.' Sein sechstes Wort ist: ,Geh wieder zurück!' Darauf mußt du antworten: ,Gib mir mein Essen.' —Wenn du alles dieses richtig beantwortest, wird Chtaphlaräith nicht merken, daß du mit mir gewechselt hast."

Der Bruder bedankte sich, bestieg den schwarzen Widder und ritt mit ihm und der Herde von dannen. Der Widder trug den Bruder bis zu dem Felsen. Der Widder rannte mit den Hörnern gegen den Felsen. Der Felsen öffnete sich. Der Bruder trieb die Schafe in das Haus. Im Haus sah er seine Schwester. Seine Schwester begann die Schafe zu melken. Dann kam der Chtaphlaräith und fragte den Bruder: "Wo hast du heute geweidet?" Der Bruder



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sagte: "Ich habe auf Akaber geweidet." Chtaphlaräith fragte: "Gibt es da viel Arvää?" Der Bruder sagte: "Es ist dort grün und trocken." Chtaphlaräith fragte: "Gibt es dort einen Schakal?" Der Bruder antwortete: "Der Schakal ist der Genosse des Hirten und verläßt ihn nie." Chtaphlaräith fragte: "Hat der Schakal etwas gegessen?" Der Bruder sagte: "Der Schakal bleibt nie zurück, ohne seinen Teil zu nehmen." Chtaphlaräith fragte: "Hat er ein junges oder ein altes Schaf genommen ?" Der Bruder sagte: "Der Schakal ist nicht wählerisch, er nimmt, was ihm gefällt." Chtaphlaräith sagte: "Geh wieder zurück!" Der Bruder sagte: "Gib mir mein Essen." Chtaphlaräith sagte: "Ja, geh hin und laß dir das Essen von dem Mädchen dort geben, ich sehe, du bist mein guter Hirte." Der Chtaphlaräith ging.

Der Bruder ging zu seiner Schwester, die die Schafe molk und sagte: "Gib mir mein Essen, meine Schwester!" Die Schwester erkannte den Bruder und wollte schreien. Der Bruder hielt ihr den Mund zu und sagte: "Der Chtaphlaräith darf nicht merken, daß ich es bin, der jetzt seine Schafe hütet. Sage mir schnell, wie es dir geht." Die Schwester sagte: "Ich erhalte jeden Morgen und jeden Abend hundert Stockschläge. Der Chtaphlaräith will mich zwingen, ihn zu heiraten. Ich werde es aber nicht tun." Der Bruder sagte: "Meine Schwester, wenn er dich morgen wieder auffordert, ihn zum Manne zu nehmen, so sage zu ihm: ,Wo ist deine Seele!' Wenn du zu mir soviel Vertrauen hast, daß du mir sagest, wo deine Seele ist, will ich dir meine Seele schenken und will dich heiraten, sobald du das Fest bereitet hast.' Wenn ich erst weiß, wo die Seele des Chtaphlaräith ist, werde ich dich aus seinen Händen befreien."

Am andern Tage fragte der Chtaphlaräith die Schwester: "Willst du heute wieder deine Stockschläge haben, oder willst du endlich bereit sein, mich zu heiraten?"

Die Schwester antwortete: "Mein Chtaphlaräith, ich will dir den Grund sagen, weshalb ich mich bisher weigerte, dich zu heiraten! Hier sind noch neunundneunzig andere Mädchen. Ich weiß nicht, welchem du eines Tages, nachdem du mich geheiratet hast, eine Stellung über mir einräumen würdest. Ich will den heiraten, der mir volles Vertrauen und mehr Vertrauen entgegenbringt als anderen, und der mich nicht eines Tages erniedrigen wird. Zeige mir also Vertrauen, sage mir, wo deine Seele ist, und ich will dir meine Seele schenken. Sage mir, wo deine Seele ist, und ich werde dich heiraten, sobald du das Fest vorbereitet hast."



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Chtaphlaräith sagte: "Ich werde es dir sagen. Meine Seele ist dort in dem Loch in der Wand." Die Schwester stieß einen Jubelschrei aus. Sie ergriff den Stein der roten Farbe und zeichnete Bilder (in Wahrheit Ornamente, Punkte und Linien; kabylischer Ausdruck ist Sing.: hethuicht; Plural: hethuaken) auf die Mauer um das Loch (ein Zeichen der Verehrung und Hochschätzung). Chtaphlaräith sagte: "Nicht doch, meine Seele ist nicht in dem Loche, sie ist in dem Akufi." Die Schwester begann sogleich mit dem roten Stein Bilder auf den Akufi zu zeichnen. Chtaphlaräith sagte: "Ich sehe nun, daß du es gut mit mir meinst. Aber meine Seele ist nicht in dem Loche und nicht in dem Akufi. Jetzt, wo ich Vertrauen zu dir habe, will ich dir sagen, wo meine Seele wirklich ist und wo kein Mensch sie je wird erreichen können: Meine Seele ist ein Seidenfäden (=l'chettr laharir, laharir für Seide, ist arabisch). Der Seidenfäden ist in einem Ei. Das Ei ist im Leibe eines Rebhuhns. Das Rebhuhn lebt im Bauche einer Kamelstute. Die Kamelstute ist in einem Felsen inmitten des Meeres." Das Mädchen sagte: "Ich danke dir. Nun rüste das Fest!"

Als es Nacht war, schlich das Mädchen zu ihrem Bruder und sagte zu ihm: "Die Seele des Chtaphlaräith ist ein Seidenfäden. Der Seidenfäden ist in einem Ei. Das Ei ist im Leibe eines Rebhuhns. Das Rebhuhn ist im Bauche einer Kamelstute. Die Kamelstute ist in einem Felsen inmitten des Meeres."

Am andern Morgen trieb der Bruder die Schafe des Chtaphlaräith auf die Weide am Rande des Meeres. Der Bruder des Mädchens hörte zwei kleine Vögel, die sprachen miteinander und sagten: "Wer in das Meer zu dem großen Felsen gelangen will, der muß den Stock Tha'aquesta-A'asphor haben. Der Stock (= tha'aquesta) ist der Sohn des Chtaphlaräith, er ist aufbewahrt im Hause des Chtaphlaräith. Man kann ihn finden. Wer mit dem Stock das Meer schlägt, macht das Meer zurücktreten. Dann liegt der Weg zu dem Felsen frei. Der schwarze Widder kann den Felsen zersprengen. Der Kamelstute können wir zwei das Rebhuhn nehmen. Wir können das Rebhuhn töten. Der Bursche kann das Ei auffangen."

Der Bruder verstand, was die beiden Vögel sagten. Der Bruder merkte sich alles genau. Abends bestieg er den schwarzen Widder und kam nach dem Haus des Chtaphlaräith. Der Bruder ging zu dem Mädchen, das an diesem Tage die Schafe melkte und sagte zu ihm: "Mein Mädchen, im Hause des Chtaphlaräith muß der Stock Tha'aquesta-A'asphor sein. Wenn ihr neunundneunzig Mädchen



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mir noch in dieser Nacht den Stock sucht und findet und ihn mir morgen früh bringt, ehe ich die Schafe zur Weide treibe, kann ich euch noch morgen aus dem Hause des Chtaphlaräith befreien." Die neunundneunzig Mädchen suchten die ganze Nacht nach dem Stocke Tha'aquesta-A'asphor. Sie fanden ihn. Sie brachten ihn dem Bruder. Er nahm ihn mit sich, als er am andern Morgen die Schafe auf die Weide trieb.

Der Bruder ging an das Ufer des Meeres. Er schlug mit dem Stock Tha'aquesta-A'asphor in das Meer. Das Meer trat zurück. Der Weg zu dem großen Felsen wurde frei. Der Bruder ging mit dem schwarzen Widder zu dem großen Felsen in der Mitte des Meeres. Der Widder rannte mit seinen Hörnern gegen den Felsen. Der Felsen öffnete sich. Die riesengroße Kamelstute trat heraus. Da wurde daheim Chtaphlaräith schon von einem schweren Fieber befallen. Einer der beiden Vögel flog auf den Kopf der riesengroßen Kamelstute und öffnete ihr das Maul. Das Rebhuhn flog aus dem Maul und wollte in die Ferne fliegen. Der andere Vogel stieß auf das Rebhuhn herab und riß ihm den Bauch auf. Da fiel das Ei heraus und der Bruder fing es auf. — Im Hause fiel der Chtaphlaräith in eine schwere Ohnmacht.

Der Bruder nahm das Ei. Er bestieg den schwarzen Widder und ritt so schnell er konnte zu dem Hause des Chtaphlaräith. Chtaphlaräith erwachte aus seiner Ohnmacht und sagte (mit schwacher Stimme): "Töte mich nicht, und ich will dir alles geben, was ich habe." Der Bruder sagte: "Nein, ich lasse dich nicht am Leben!" Der Bruder zerbrach das Ei. Chtaphlaräith fiel hin. Der Bruder verbrannte den Seidenfäden. Chtaphlaräith starb. Der Bruder warf die Leiche des Chtaphlaräith in das Meer.

Der Bruder rief nun alle Hirten im weiten Lande zusammen. Er gab jedem der Hirten eines der neunundneunzig Mädchen zur Frau. Seine Schwester verheiratete er an den Schäfer, der mit ihm die Kleider getauscht hatte. Er selbst ward ein großer Agelith und machte den Schäfer, den seine Schwester geheiratet hatte, zu seinem Usir.


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