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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


7. Der Wuarssentöter

Ein Mann hatte drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter spielte .L..4 eines Tages, als sie schon erwachsen war, im Freien vor dem Gehöft; da kam ein Wuarssen, packte und nahm sie mit zu sich, um sie zu heiraten. Der Vater und die Mutter des Mädchens hörten von nun an nichts mehr von der Tochter.

Eines Tages waren die ältesten beiden Brüder herangewachsen, und als sie glaubten, starke und geschickte Burschen zu sein, machten sie sich auf den Weg, ihre Schwester zu suchen. Nach einer langen Wanderung kamen sie dann gegen Abend an das Haus des Wuarssen, und dieser war auch zu Hause und lud die beiden Brüder zum Essen ein. Das Essen bestand aber aus einem gebratenen Ochsen, einer Schlafmatte voll Kuskus und einem Akufin (=Speichertopf) voll Wasser. Der Wuarssen sagte: "Ich gehe aus dem Hause und gehe einmal um das Gehöft. Ich hoffe, daß, wenn ich wiederkomme, das gesamte Essen und Getränk verzehrt ist."

Die beiden Brüder saßen vor dem gebratenen Ochsen, vor der Schlafmatte voll Kuskus und dem Speichertopf voll Wasser und sagten: "Das ist für uns unmöglich." Der Wuarssen kam von seinem Wege um das Haus zurück und sagte: "Was, ihr habt noch gar nicht angefangen? Ihr habt das Essen noch nicht verzehrt?" Danach setzte er sich hin, aß den Ochsen und den Kuskus und trank das Wasser, so daß von dem ganzen aber auch nicht ein Happen und nicht ein Schluck übrig blieb. Nachdem er sich derart gesättigt hatte, erhob er sich und sagte: "Nun wollen wir kämpfen." Zaghaft erhoben sich die beiden Brüder. Der Wuarssen ergriff sie, einen nach dem andern, und warf sie ohne weiteres auf den Boden.



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Dann ergriff er sie beide, jeden mit einem Arm, und steckte sie in einen der Speicherkrüge.

Der jüngste der drei Söhne war noch klein, als die beiden älteren Brüder fortgingen, die Schwester zu suchen. Der jüngste war schon von Geburt an ein ungemein starkes Kind. Am Tage, als er geboren wurde, aß er ein Brot. Am zweiten Tage verzehrte er zwei Brote, am dritten Tage drei. Als er groß und stark war, fragte er einmal seine Mutter: "Habe ich denn keine Geschwister?" Die Mutter sagte: "Du hattest eine Schwester, die hat ein Wuarssen geraubt, als du eben erst geboren warst. Dann hast du zwei ältere Brüder gehabt, die sind beide aufgebrochen, deine Schwester zu suchen. Sie sind nicht wiedergekommen; der Wuarssen wird sie gefressen haben."

Am andern Tage ging der Jüngste zum Schmied. Er ließ sich vom Schmied eine Debus (=Keule) machen, die war so schwer, daß kein Mensch sie aufheben konnte. Die Debus hing er über die Schulter, nahm von seiner Mutter Abschied und machte sich auch auf den Weg, den Wuarssen zu suchen. Er wanderte lange dahin und kam endlich an dessen Gehöft.

Der Wuarssen war daheim. Sein Abendessen war bereitet; es bestand aus einem im ganzen zubereiteten Ochsen, aus einer Matte voll Kuskus und einem Akufin voll Wasser. Ehe der Jüngste in das Haus trat, warf er draußen seine Debus auf die Erde. Als der Wuarssen den Jüngsten sah, begrüßte er ihn und sagte: "Dort steht das Abendessen. Ich werde einmal um mein Gehöft gehen. Ich hoffe, daß, wenn ich zurückgekommen sein werde, du alles verzehrt haben wirst." Damit verließ der Wuarssen die Kammer. Der Jüngste sagte: "Das ist keine so große Sache." Er aß den Ochsen, genoß den Kuskus und leerte den Akufin voll Wasser. Als der Wuarssen zurückkam, war kein Happen und kein Schluck mehr für ihn übrig. Er sah das und sagte zum Jüngsten: "Komm, wir wollen kämpfen."

Der Jüngste stand auf und sagte: "Ja, wir wollen kämpfen. Mit den Fäusten oder mit Waffen?" Der Wuarssen sagte: "Mit Waffen." Der Jüngste sagte: "Dann geh hinaus, vor der Tür habe ich meine Debus hingelegt, bring sie mir herein." Der Wuarssen ging hinaus. Er sah die Debus. Er konnte sie aber nicht heben. Da kam er zurück und sagte: "Ich kann deine Debus nicht finden." Der Jüngste sagte: "Ich hoffe, daß die Kraft deiner Arme größer ist als die deines Augenlichtes." Er ging hinaus, hob die Debus auf, trat



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dann dem Wuarssen gegenüber und sagte: "Bist du bereit?" Der Wuarssen sagte: "Ja, ich bin bereit." Der Jüngste erhob seine Keule und schlug den Wuarssen tot.

Der Jüngste befreite nun die Brüder aus dem Akufin. Er rief seine Schwester und sagte: "Kommt, meine Geschwister, ich will euch nun nach Hause bringen." Dann verließ er mit ihnen das Haus des Wuarssen und führte sie soweit, daß sie ganz nahe dem elterlichen Hause waren. Der Jüngste sagte: "Geht nun nach Haus, wir können nicht mehr zusammenbleiben, denn ihr und ich, wir sind zwei verschiedene Arten. Ich will mir jetzt die Erde ansehen. Lebt wohl." Der Jüngste bog seitwärts ab und in den Busch ein.

Nachdem der Jüngste eine Zeitlang gegangen war, begegnete er einem Manne, der hatte eine Unterlippe, die war so lang, daß sie bis auf die Erde herabreichte, so daß der Mann sich nicht zu bücken brauchte, wenn er trinken wollte. Der Jüngste sagte zu ihm: "Ich glaube, du bist der rechte Kamerad für mich. Komm mit!" Der Lippenmann ging mit. Nach einiger Zeit trafen sie einen Mann, der hatte einen riesenhaften Bart, der war so mächtig, daß er eine ganze Schafherde dahinter verbergen konnte. Der Jüngste sagte zu ihm: "Ich glaube, du bist der rechte Kamerad für uns. Komm mit!" Der Bartmann ging mit den beiden andern. — Nach wiederum einiger Zeit trafen sie einen Mann, der war so stark, daß er einen Baum mitsamt den Wurzeln aus der Erde reißen und auf seinem Kopfe heimtragen konnte. Der Jüngste sagte zu ihm: "Ich glaube, du bist der rechte Kamerad für uns. Komm mit!" Der Baumstarke ging mit den andern, so daß sie nun zusammen vier waren.

Nach einiger Zeit sagten der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke: "Wir müssen einen Führer unter uns haben." Der Jüngste sagte: "So wählt einen Führer!" Der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke sagten: "Der Stärkste soll der Führer sein!" Der Jüngste sagte: "So nehmt meine eiserne Debus. Jeder soll sie in die Luft werfen. Wenn die eiserne Debus dann auf die Erde zurückfällt, wird sie ein Loch schlagen. Derjenige, nach dessen Hochwurf die Debus das tiefste Loch schlägt, der soll unser Führer sein. Seid ihr einverstanden?" Der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke sagten: "Wir sind einverstanden."

Erst warf der Lippenmann. Er konnte die Debus etwas in die Höhe heben, so daß sie nur wenig hoch flog und beim Niederfallen nur eine flache Mulde in die Erde schlug. Ebenso war es, als der Bartmann und der Baumstarke warfen. Dann aber ergriff der



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Jüngste seine Debus, und der warf sie so hoch in die Luft, daß die andern drei sie gar nicht mehr sehen konnten. Als die Debus dann wieder herunterkam, fuhr sie so tief in die Erde hinein, daß man sie gar nicht sah, und daß das Loch, das sie geschlagen hatte, tiefer war als der tiefste Brunnen. Man mußte Arbeiter rufen, um sie wieder auszugraben. Als die ersten drei Werfer das sahen, sagten sie gemeinsam: "Der Jüngste muß unser Führer sein!" Der Jüngste sagte: "Gut, dann wollen wir in den Wald gehen und die Jagd pflegen." Der Lippenmann, der Bartmann und der Baumstarke waren einverstanden.

Die vier kamen in dem Walde bald an ein Haus, in dem einige Wuarssen lebten. Der Jüngste sagte: "Das ist ein gutes Haus für uns." Der Jüngste ging hinein und tötete die Wuarssen, dann richtete er sich mit seinen Kameraden darin ein. Der Jüngste sagte: "In Zukunft werden wir es so machen, daß immer einer daheim bleibt und das Essen bereitet. Die andern drei gehen tagsüber in den Wald und jagen. Seid ihr damit einverstanden?" Die andern drei sagten: "Wir sind damit einverstanden."

So blieb denn jeden Tag einer daheim und bereitete für die andern drei das Essen. Einmal war die Reihe an dem Lippenmann. Er bereitete wie gewöhnlich das Essen, und da es , als es fertig war, noch früh war, ging er nachher noch etwas vor das Gehöft und legte sich im Freien hin, um sich auszuruhen. Als er so dalag, kam ein Löwe, der brüllte und sagte: "Entweder du gibst mir das Essen, das du für dich und deine drei Kameraden bereitet hast, oder ich verschlinge dich!" Der Lippenmann erschrak und sagte: "Dann nimm nur lieber das Essen." Er brachte dem Löwen das Essen, und der verschlang es. Es blieb nichts übrig, und als die andern abends von der Jagd nach Hause zurückkehrten, fanden sie nichts zum Essen vor, und der Lippenmann sagte: "Als ich gerade fort war, brach ein Löwe ein, fraß alles und lief wieder fort. Ich konnte ihn nicht mehr einholen."

Am andern Tage blieb der Bartmann zu Hause. Und der Bartmann kochte beizeiten, legte sich dann ins Freie und ruhte ein wenig aus. Wie am Tage vorher kam auch bald der Löwe, der brüllte und sagte: "Entweder du gibst mir das Essen, daß du für die andern drei gekocht hast, oder ich verschlinge dich." Der Bartmann erschrak wie der Lippenmann, gab das Essen und berichtete, als abends die andern drei von der Jagd heimkehrten und kein Essen vorfanden, ebenso wie am Tage vorher der Lippenmann. Am dritten



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Tage hatte der Baumstarke die Küchenpflege, während der Jüngste mit dem Lippenmann und dem Bartmann zur Jagd fortgingen. Es kam aber geradeso wie an den beiden Tagen vorher, und als die heimkehrenden Jäger wieder kein Essen vorfanden, sagte der Baumstarke: "Ich hatte gerade einen kleinen Weg in den Wald gemacht, um etwas Holz zum Brennen zu holen, als der Löwe kam, alles Essen mit sich nahm und so schnell von dannen lief, daß ich ihn nicht mehr einholen konnte." Der Jüngste sagte: "Morgen werde ich die Küche besorgen und ihr drei geht in den Wald."

Am andern Tage kochte der Jüngste, nachdem die andern weggegangen waren, das Essen. Nachdem er damit fertig war, legte er sich in das Freie, um etwas auszuruhen. Seine Debus legte er aber neben sich. Er lag noch nicht lange, so kam der große Löwe, brüllte und schrie: "Entweder du gibst mir das Essen, das du für dich und deine Kameraden bereitet hast, oder ich verschlinge dich!" Der Jüngste sagte: "Dann komm und verschlinge mich!" Der Löwe sprang dicht heran. Der Jüngste nahm seine Debus und schlug ihm das Genick durch. Als der Löwe tot war, schnitt er ihm den Kopf ab, warf den Körper in den Busch und legte das Löwenhaupt vor den Wasserkrug.

Die andern drei kamen nach Hause. Der Jüngste sagte: "Das Essen ist bereitet. In meiner Abwesenheit ist kein Löwe gekommen, um das Essen zu verschlingen. Kommt und eßt." Sie setzten sich alle vier um das Essen. Nach einiger Zeit sagte der Jüngste: "Ich habe Durst, schöpfe mir doch einer Wasser." Der Lippenmann ging. Er kam zu der Wasserurne, erschrak, als er den Löwenkopf sah, kam zurück und sagte: "Ich kann nicht recht sehen." Der Jüngste sagte: "Ein anderer kann vielleicht besser sehen!" Der Bartmann stand auf, ging hin, erschrak vor dem Löwenkopf, kam zurück und sagte: "In dem Kruge ist kein Wasser." Der Jüngste sagte: "Du hast in den falschen gesehen, es muß Wasser da sein, denn ich habe es selbst vorher noch gesehen!"

Der Baumstarke ging hinein, erschrak vor dem Löwenkopf, kam sogleich zurück und sagte: "Der Topf ist zerbrochen, es ist kein Wasser da." Da erhob sich der Jüngste, ging hin, nahm den Wasserkrug und stellte ihn neben die andern drei. Er nahm den Löwenkopf, warf ihn zwischen sie und sagte: "Ihr seid zu schwach und zu furchtsam. Mit euch zusammen kann ich nicht leben."

Er nahm seine eiserne Debus und ging allein fort in den Wald.


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