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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


4. Die Wuarssentochter

Ein Mann hatte einen einzigen Sohn. Der Sohn war klug und L.4 sehr geschickt in allem. Er zeigte das aber nicht auf eine vernünftige Art. Der Sohn wuchs heran, und als er groß geworden war, tat er nichts anderes, als sich mit schlechten Burschen herumzutreiben und das Vermögen seines Vaters zu verbringen. Der Vater wollte zuletzt den Sohn verjagen. Die Mutter war aber hierfür nicht zu gewinnen. Die Mutter sagte: "Hab' Geduld, dein Sohn ist klug. Er wird anders werden."

Eines Tages sprach der Bursche mit der Negerin seines Vaters. Die Negerin sagte: "Du weißt, daß wir in diesem Ort einen sehr schlechten Agelith haben, mit dem alle Leute unzufrieden sind. Er ist geizig und teilt nicht mit den Leuten. Wenn ein anderer angesehener und wohlhabender Mann im Ort wäre, würden die Leute diesen Agelith schon längst verjagt und den anderen angesehenen und wohlhabenden Mann an seine Stelle gesetzt haben. Dein Vater ist angesehen genug. Aber er ist nicht nur nicht sehr wohlhabend, sondern du, sein Sohn, verbringst auch noch in schlechter Gesellschaft alles, was er hat. Du bist nun aber so klug, daß du sehr wohl imstande wärst, statt deinem Vater das Geld zu verbringen, ihn zu einem reichen Manne und somit zum Agelith zu machen. Wenn du ein Mann wärst, würdest du das tun."

Der Sohn hörte das mit an. Dann sagte er zu der Negerin: "Ich



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schwöre, daß ich mich so bald wie möglich auf den Weg machen will. Ich will nicht eher heimkommen, bis ich meinem Vater alles Geld, was ich durchbrachte, zurückgebracht habe, sondern ihn auch so reich machen kann, daß er Agelith wird." Der Sohn ging nach Hause und sagte zu seiner Mutter: "Bereite mir Essen: ich will eine lange Wanderung unternehmen." Die Mutter tat es.

Am andern Tage machte der Bursche sich auf den Weg. Er wanderte. Er wanderte weit weg, soweit, daß er zuletzt in ein anderes Land kam, in dem nur Wuarssen lebten. Eines Tages traf er im Walde den Agelith der Wuarssen. Der Agelith der Wuarssen sagte zu ihm: "Komme mit mir in mein Haus." Der Bursche ging mit und kam in das Haus des Wuarssen.

Der Wuarssen hatte daheim eine Frau und drei Töchter. Die jüngste dieser Töchter war sehr klug. Wenn sie einen Ratschlag vonnöten hatte, so brauchte sie nur den Nagel ihres kleinen Fingers zu befragen; der gab ihr Auskunft und Hilfe. Die Frau des Wuarssen war aber noch klüger als ihre jüngste Tochter. Sie konnte nämlich von allen Fingernägeln Hilfe und Ratschlag erlangen. Als der Bursche in das Haus des Wuarssen trat, sah er die jüngste Tochter. Er sah, daß sie sehr schön war. Der Bursche sagte bei sich: "Dieses Mädchen möchte ich heiraten." Die Jüngste sah den Burschen. Sie sagte bei sich: "Diesen soll mein Vater nicht verschlingen, den will ich für mich haben."

Der Wuarssen brachte den Burschen in das Haus und suchte nach einem Grunde ihn zu verschlingen. Der Wuarssen wollte (oder "konnte" nach einer zweiten Wiederholung) ihn nicht verschlingen ohne eine gute Begründung.

Am andern Tage sagte der Wuarssen: "Komm mit mir zur Arbeit in die Farm." Der Bursche folgte ihm. Der Wuarssen führte den Burschen auf ein Gebiet, in welchem alles voller Unterholz stand. Er gab dem Burschen Fruchtsamen und sagte zu ihm: "Bepflanze diesen Acker mit diesem Fruchtsamen. Beginne die Arbeit sogleich. Denn heute abend will ich schon die ersten Früchte genießen." Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.

Der Bursche begann ein wenig mit der Hacke das Unterholz wegzuschlagen. Er war aber bald müde, legte sich unter einen Baum und schlief ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: "Eine von meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld bringen." Die älteste und die zweite Tochter des Wuarssen sagten: "Ich



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mag nicht." Die jüngste Tochter sagte: "Dann will ich es tun." Die jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel und erkannte, daß der Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß der Wuarssen dem Burschen den Auftrag gegeben hatte, am Morgen Fruchtsamen zu pflanzen, der bis zum Abend aufgehen, aufwachsen und Früchte tragen sollte.

Im Hause des Wuarssen war ein Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte. Die jüngste Tochter nahm das Essen für den Burschen, aber sie ergriff auch den Stock. Mit dem Essen und dem Stock machte sie sich auf den Weg in den wilden Garten. Als sie dort ankam, suchte sie überall nach dem Burschen. Sie fand ihn aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten eines Baumes.

Die Jüngste weckte ihn und sagte: "Komm und iß!" Der Bursche wachte auf und sagte: "Das ist schon ganz recht, aber soll ich mich denn noch fetter machen. Dein Vater hat mir den Auftrag gegeben, Fruchtsamen hier zu pflanzen, der bis heute abend keimen, aufwachsen und Früchte tragen soll, die er heute noch genießen will. Das ist nicht möglich. Kein Mensch kann das. Also will dein Vater damit nur einen Grund finden, um mich zu verschlingen. Und du bringst mir nun das Essen, damit ich noch etwas fetter werde."

Die Jüngste lachte und sagte: "Glaubst du, daß ich meinem Vater hierbei helfen will? Glaubst du, daß ich mir die Mühe gemacht hätte, dir dein Essen zu bringen, wenn ich nicht gerne bei dir wäre? Iß nur. Nach dem Essen wollen wir uns vergnügen, und dann wird uns schon der Nagel meines kleinen Fingers helfen." Der Bursche aß mit der Jüngsten zusammen. Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann erhob sich das Mädchen und ergriff den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte.

Die Jüngste stieß den Stock auf den Boden und sagte: "Sogleich soll dieser ganze Garten voller Blumen und Bäume stehen. Sogleich sollen diese Bäume voller Früchte hängen." Als die Jüngste ausgesprochen hatte, war der ganze Garten voller Blumen und Früchte tragender Bäume. Die Jüngste sagte aber zu dem Burschen: "Wenn es Abend wird, sammle einen Korb frischer Früchte. Bringe die meinem Vater in das Haus. Sage zu ihm: ,Hier sind deine reifen Früchte.' Gleichzeitig gib meinem Vater aber einen starken Schlag ins Gesicht." Der Bursche sagte: "So will ich es machen." Die Jüngste nahm Abschied und ging wieder nach Hause.



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Als es Abend war, sammelte der Bursche seine Früchte in einen Korb. Den Korb nahm er auf die Schulter und ging heim. Der Wuarssen sah den Burschen kommen und ging ihm entgegen. Der Bursche gab ihm die Früchte und sagte: "Hier sind deine reifen Früchte." Dann gab der Bursche dem Wuarssen einen Schlag ins Gesicht. Der Wuarssen sagte: "Dies hast du gekonnt." Der Bursche sagte: "Du glaubst klüger zu sein als ich! Warte das Ende ab!"

Der Wuarssen ging zu seiner Frau und sagte: "Ich habe dem Burschen den Auftrag gegeben, Fruchtsamen zu pflanzen, von dem ich am gleichen Abend noch die Früchte essen wollte. Der Bursche hat es wirklich gekonnt. Was kann ich nun tun, um ihn zu überwinden. Sage mir einen Auftrag, den er nicht ausführen kann." Die Frau des Wuarssen sagte: "Gib ihm ein Sieb, fordere von ihm, daß er mit dem Sieb das Wasser aus dem Meer in einen Brunnen schöpft, so daß der Meeresboden frei liegt. Vom trockenen Meeresboden soll er dir heute abend trockenen Sand bringen."

Am andern Morgen nahm der Wuarssen ein Sieb und sagte zu dem Burschen: "Komm mit mir an das Meer. Der Bursche ging mit dem Wuarssen an das Meer. Am Meer sagte der Wuarssen zu dem Burschen: "Schöpfe mir bis heute abend das Meer aus und in einen Brunnen, so daß der Meeresboden frei liegt. Heute abend bringe mir dann von dem trockenen Meeresboden trockenen Sand." Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.

Der Bursche begann ein wenig mit dem Sieb zu schöpfen. Er sah aber gleich ein, daß er damit nicht weit kommen werde. Er war deshalb sehr bald müde, sah sich nach einem Baum um, setzte sich in den Schatten nieder und schlief ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: "Eine von meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld bringen." Die älteste und die zweite Tochter des Wuarssen sagten: "Ich mag nicht." Die jüngste Tochter sagte: "Dann will ich es tun." Die jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel und erkannte, daß der Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß der Wuarssen dem Burschen den Auftrag gegeben hatte, bis zum Abend mit einem Siebe alles Wasser aus dem Meer in einen Brunnen zu schöpfen, so daß der Meeresboden frei werde und vom trockenen Meeresboden trockenen Sand zu bringen.

Die Jüngste nahm das Essen und ergriff den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte. Mit dem Essen und mit dem



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Stock machte sie sich auf den Weg zum Ufer des Meeres. Als sie dort ankam, suchte sie überall nach dem Burschen. Sie fand ihn aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten eines Baumes.

Die Jüngste weckte ihn und sagte: "Komm und iß!" Der Bursche wachte auf und sagte: "Das ist schon ganz recht, aber ehe ich mich fetter esse, mußt du wissen, daß dein Vater mich heute abend verschlingen will und mir durch dich nur deshalb das Essen schickt, daß ich bis dahin nicht abmagere. Er hat mir den Auftrag gegeben, mit diesem Sieb alles Wasser aus dem Meere in einen Brunnen zu schöpfen, so daß der Meeresboden frei liegt. Ich soll ihm bis zum Abend trockenen Sand vom trockenen Meeresboden bringen. Sage mir, wie ich das machen kann. Ich nehme an, daß du mich noch gerne hast und mir helfen willst."

Die Jüngste lachte und sagte: "Wenn es weiter nichts ist, so wollen wir nun ungestört essen. Nach dem Essen wollen wir uns wie gestern vergnügen, und dann wird uns der Nagel meines kleinen Fingers helfen." Der Bursche aß mit der Jüngsten zusammen. Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann erhob sich das Mädchen und ergriff den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen konnte.

Die Jüngste stieß den Stock auf den Boden und sagte: "Ich stoße das Meer mit meinem Stock zurück!" Sogleich wich das Meer zurück. Der Boden des Meeres lag frei da. Das Mädchen nahm von dem trockenen Meeresboden trockenen Sand und gab ihn dem Burschen. Die Jüngste sagte: "Nimm diesen Sand. Wenn es Abend wird, bring diesen Sand nach Hause. Du wirst meinen Vater neben meiner Mutter vor dem Hause sitzen sehen. Gehe auf meinen Vater zu und schütte den Sand meinem Vater auf den Kopf. Sage zu meinem Vater: ,Hier hast du den trockenen Sand vorn trockenen Boden des Meeres.' Dann gehe unbekümmert in das Haus." Der Bursche sagte: "So will ich es machen." Die Jüngste nahm Abschied und ging wieder nach Hause.

Als es Abend war, nahm der Bursche den trockenen Sand vorn trockenen Meeresboden und ging heim. Als er an das Haus kam) sah er den Wuarssen neben seiner Frau sitzen. Er ging auf den Wuarssen zu, schüttete den Sand über den Kopf des Wuarssen und sagte: "Hier hast du den trockenen Sand vom trockenen Boden des Meeres." Dann ging der Bursche unbekümmert in das Haus.



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Der Wuarssen sagte zu seiner Frau: "Du siehst, der Bursche hat auch diesen Auftrag richtig ausgeführt. Was kann ich jetzt tun, ihn zu überwinden? Sage mir einen Auftrag, den er nicht ausführen kann." Die Frau des Wuarssen sah auf die Nägel ihrer Finger und sagte: "Der Bursche hat deine beiden Aufträge ausgeführt mit dem Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen kann. Ich werde diesen Stock an mich nehmen und so verwahren, daß niemand ihn nehmen kann. Fordere von dem Burschen morgen, daß er von dem hohen Felsen, auf dem der Adler nistet, dessen Nest mit den sieben Jungen herabhebe und sie dir zum Abend bringe. Wenn der Bursche den Stock, mit dessen Hilfe man alles erreichen kann, nicht hat, wird er dies nicht ausführen können."

Am andern Morgen rief der Wuarssen den Burschen und sagte zu ihm: "Komm mit mir zu dem Felsen!" Der Bursche ging mit dem Wuarssen zu dem Felsen. An dem Felsen sagte der Wuarssen zu dem Burschen: "Du siehst dort oben den Adler nisten! Bring mir das Nest des Adlers mit seinen sieben Jungen herab. Bringe es mir bis zum Abend." Dann ging der Wuarssen nach Hause zurück.

Der Bursche betrachtete den Felsen. Er ging um ihn herum. Er sah, daß er keinen Aufstieg fand. Er war des Suchens bald müde, sah sich nach einem Baume um, legte sich in dessen Schatten nieder und schlief bald ein. Als es Mittag war, sagte der Wuarssen: "Eine von meinen Töchtern soll dem Burschen das Essen auf das Feld bringen." Die älteste und die zweite Tochter sagten: "Ich mag nicht!" Die jüngste Tochter sagte: "Dann will ich es tun." Die jüngste Tochter sah auf ihren Fingernagel und erkannte, daß der Vater vorhabe, den Burschen am Abend zu töten. Sie sah, daß der Wuarssen dem Burschen den Auftrag gegeben hatte, von dem hohen Felsen das Nest des Adlers und seine sieben Jungen herabzuholen und am Abend dem Wuarssen zu geben.

Die Jüngste nahm das Essen. Sie wollte den Stock ergreifen, mit dessen Hilfe man alles erreichen kann. Sie fand den Stock nicht. Sie suchte den Stock. Sie sagte sich: "Meine Mutter ist klug. Sie hat auf ihre Nägel gesehen und erkannt, daß der Bursche seine Aufgaben mit Hilfe des Stockes, mit dem man alles erreichen kann, ausgeführt hat, sie hat den Stock verschlossen. Meine Mutter hat aber noch nicht gesehen, daß ich dem Burschen geholfen habe. Ich muß also etwas anderes ersinnen." Die Jüngste nahm das Essen und machte sich auf den Weg. Sie kam zu dem Felsen, auf dessen Spitze der Adler sein Nest hatte. Sie suchte überall nach dem Burschen;



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sie fand ihn aber nirgends. Endlich entdeckte sie ihn schlafend im Schatten eines Baumes.

Die Jüngste weckte den Burschen und sagte: "Komm und iß!" Der Bursche wachte auf und sagte: "Das ist schon ganz recht; ich freue mich darauf, mit dir zu essen, und ich freue mich noch mehr darauf, mich nachher mit dir zu vergnügen. Ich habe aber von deinem Vater den Auftrag erhalten, auf diesen hohen Felsen zu steigen, auf dem der Adler sein Nest hat und das Nest mit den sieben Jungen herabzuholen. Ich soll es schon heute abend bringen. Wenn ich es nicht bringe, wird er mich verschlingen. Hast du nun ein Mittel, diesen Felsen zu besteigen und das Nest herunterzuholen ?"

Die Jüngste sagte: "Das ist nicht so schlimm. Wir können ungestört essen. Nach dem Essen wollen wir uns wie gestern und vorgestern vergnügen, und dann wird uns schon der Nagel meines kleinen Fingers helfen." Der Bursche aß mit der Jüngsten zusammen. Nach dem Essen vergnügten sie sich miteinander. Dann erhob sich die Jüngste.

Die Jüngste sagte zu dem Burschen: "Wir haben es heute nicht ganz so einfach wie sonst, weil meine Mutter den Stock, mit dem man alles erreichen kann, verschlossen hat. Nimm hier dies Messer und diesen Duft (Wohlgeruch). Mit dem Messer zerschneide mich. Meine einzelnen Teile werden am Felsen festkleben, und du wirst an mir bequem hinaufsteigen können. Du wirst das Nest des Adlers mit den sieben Jungen herabtragen können. Wenn du wieder herabsteigst, nimmst du die einzelnen Teile von mir wieder mit herab. Unten setzt du alle Teile wieder zusammen, und wenn alles wieder zusammengesetzt ist, blase mit diesen Duft in die Nase. Dann werde ich wieder leben wie zuvor. Hast du mich gut verstanden und wirst du so handeln?" Der Bursche sagte: "Ich habe dich verstanden und werde danach handeln."

Der Bursche nahm das Messer. Er zerschnitt die Jüngste in Stücke. Die einzelnen Stücke klebte er an den Felsen. Sie klebten sehr fest. Der Bursche stieg nun mit ihrer Hilfe zu dem Felsen empor. Er kam an das Nest des Adlers, in dem die sieben Jungen saßen. Der Bursche ergriff es und stieg wieder herab. Beim Herabsteigen nahm er die einzelnen Teile der Jüngsten vom Felsen ab und brachte sie wieder auf die Erde. Als er unten angekommen war, setzte er das Nest mit den sieben Jungen des Adlers beiseite und fügte die einzelnen Teile der Jüngsten wieder aneinander. Als er



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die einzelnen Teile wieder zusammengesetzt hatte, bließ er der Jüngsten den Duft in die Nase. Die Jüngste erhob sich. Sie lebte wieder.

Die Jüngste betrachtete sich und sagte: "Du hast alles richtig gemacht. Du hast aber meine kleine Zehe an dem Felsen kleben lassen und vergessen, sie wieder mit herabzubringen. Nun fehlt sie mir. Aber das ist nur gut, dann wirst du mich nun immer wieder erkennen. Nun merke auf! Bringe meinem Vater heute abend das Nest mit den sieben Jungen des Adlers. Mein Vater wird dir dann die Wahl lassen zwischen seinen drei Töchtern. Er wird uns dich aber nicht so vorführen, wie wir sind. Er wird uns als Rebhühner vorführen. Sieh dann auf die Füße. Die Zehe, die du oben am Felsen ließest, wird mir auch als Rebhuhn fehlen. Darauf achte." Der Bursche sagte: "So will ich es machen!" Die Jüngste nahm Abschied und ging wieder nach Hause.

Als es Abend war, nahm der Bursche das Nest mit den sieben Jungen des Adlers und ging heim. Als er den Wuarssen sah, gab er ihm das Nest mit den sieben Jungen und sagte: "Hier hast du das, was du wünschtest." Der Wuarssen ging zu seiner Frau und sagte: "Der Bursche hat auch diesen Auftrag ausgeführt. Was kann ich jetzt noch tun, um ihn zu überwinden?" Die Frau sah auf die Fingernägel und sagte: "So gib ihm eine deiner Töchter zur Frau. Wenn er eine deiner beiden älteren wählt, wird diese dir ihn gleich geben. Und wenn er wirklich die jüngste nimmt, kannst du ihn doch immer in der Hochzeitsnacht verschlingen."

Der Wuarssen sagte zu dem Burschen: "Du hast alle drei Aufträge gut ausgeführt. Zum Lohn hierfür wähle dir eine unter meinen drei Töchtern zur Frau." Der Wuarssen führte die drei Mädchen als Rebhühner vor. Er hing dem Burschen ein schwarzes Tuch über den Kopf. Der Bursche sah unter dem schwarzen Tuch weg auf die Füße der Rebhühner und erkannte die Jüngste an der fehlenden Zehe. Er ergriff das Rebhuhn bei den Füßen und sagte: "Diese hier möchte ich zur Frau haben." Der Wuarssen sagte: "Nimm doch nicht die, die ist ja häßlich! Nimm die andere!" Der Bursche sagte: "Nein, diese hier will ich haben." Da gab der Wuarssen dem Burschen die Jüngste zur Frau.

D er Wuarssen gab dem Burschen und seiner jungen Frau ein eigenes kleines Haus. Sie gingen hinüber. In der Nacht sagte die junge Frau zu dem Burschen: "Heute nacht wird mein Vater noch



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versuchen, dich zu verschlingen. Wir müssen fliehen. Gehe also hinüber zum Hause des Vaters und bringe ein Pferd herüber. Wähle 'aber unter den Pferden ja nicht ein wohlgenährtes aus. Du mußt das magerste und elendeste unter den Pferden wählen, welches im Stalle ist. Nur dieses kann uns helfen." Der Bursche ging. Er kam in den Stall des Wuarssen. Er sah das ganz magere und elende Pferd. Er sagte: "Wie soll ich ein so schlechtes Pferd nehmen, wo hier so viel gute Pferde stehen?" Der Bursche nahm das beste Pferd, das er im Staue fand und sagte: "Dies wird uns am schnellsten auf der Flucht forthelfen." Er brachte das gute Pferd zu dem Hause, das ihm und seiner jungen Frau angewiesen war, hinüber. Als die jüngste Tochter des Wuarssen das Pferd sah, erschrak sie und sagte: "Warum hast du nicht meiner Anordnung gefolgt? Nun wird mein Vater uns einholen. Wir werden nun andere Mittel finden müssen, ihm zu entrinnen." Der Bursche bestieg nun mit der Jüngsten das Pferd und ritt von dannen.

In der Nacht sagte der Wuarssen zu seiner Frau: "Ich will jetzt den Burschen töten und dann verschlingen." Der Wuarssen nahm große Felsblöcke und warf sie auf das Haus des Schwiegersohnes. Das Haus stürzte ein. Der Wuarssen ging hin und suchte den Burschen unter den Trümmern. Der Wuarssen fand den Burschen nicht. Er kam zu seiner Frau und sagte: "Der Bursche ist nicht zu finden." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte zu dem Wuarssen: "Der Bursche ist mit seiner Frau, deiner jüngsten Tochter, auf einem deiner Pferde entflohen. Er hat aber nicht das beste Pferd gewählt, besteige du das beste Pferd und reite schnell hinterher, so kannst du ihn noch einholen."

Der Wuarssen bestieg das magerste Pferd und ritt schnell hinter dem Burschen und seiner jüngsten Tochter her. Er kam ganz nahe an sie heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: "Mein Vater ist ganz nahe!" Sie wusch ihren Fingernagel mit Wasser und sagte: "Das Pferd soll eine Hütte (=akabub), ich soll ein Garten mit Melonen, mein Mann soll ein alter Gärtner werden!" Sogleich war das Pferd eine Hütte, das Mädchen ein Garten mit Melonen, der Bursche ein alter Gärtner.

Der Wuarssen kam dicht heran. Er sah den alten Gärtner. Er fragte den alten Gärtner: "Hast du nicht in der Nähe einen jungen Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferd vorbeireitet sehen ?" Der alte Gärtner sagte: "Das hängt davon ab, was du dafür bezahlen willst. Ich habe Melonen für ein Kupferstück und solche



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für zehn Kupferstücke." Der Wuarssen sagte: "Ich habe nicht nach dem Preise der Melonen gefragt. Ich fragte dich, ob du einen Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferde hier hast vorbeireiten sehen." Der alte Gärtner sagte: "Ich wiederhole dir meine Preise. Ich habe Melonen für ein, zwei, drei bis zehn Kupferstücke. Das ist gewiß nicht teuer." Der Wuarssen sagte (ärgerlich): "Das ist ein Narr." Er wandte sein Pferd und ritt wieder nach Hause. Als er nur wenig fort wal, verwandelte die Jüngste das Pferd, sich und den Burschen wieder in ihre alte Gestalt. Der Bursche ritt mit ihr lustig weiter.

Der Wuarssen kam nach Hause. Seine Frau fragte ihn: "Hast du sie nicht eingeholt?" Der Wuarssen sagte: "Nein, ich konnte sie nicht einholen. Ein alter Gärtner, der in seinem Melonengarten vor einer Hütte stand, gab mir närrische Antworten. So verlor ich den Weg." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte: "Der Garten war deine jüngste Tochter. Die Hütte war dein Pferd. Der alte Gärtner war der Bursche. — Schnell reite zurück und sieh, ob du sie nicht doch noch erreichst." Der Wuarssen wandte das Pferd und ritt so schnell er konnte wieder hinter dem Burschen her.

Der Wuarssen kam wieder ganz nahe an den Burschen und an die Jüngste heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: "Mein Vater ist wieder ganz nahe." Sie wusch ihren Fingernagel mit Wasser und sagte: "Das Pferd soll ein Weg, ich will ein Korb (= akschueh; nach anderer Angabe ein Karren), mein Mann soll ein alter Arbeiter werden!" Sogleich wurde das Pferd ein Weg, die Jüngste ein Korb, der Bursche ein alter Arbeiter.

Der Wuarssen kam dicht heran. Er sah den alten Arbeiter. Er fragte den alten Arbeiter: "Hast du nicht in der Nähe einen Burschen mit einer jungen Frau vorbeireiten sehen?" Der alte Arbeiter sagte: "Wenn du arbeiten willst, zahlt man dir hier einen Duro für die Woche; für brauchbare Leute zahlt man aber auch mehr." Der Wuarsssen sagte: "Ich habe nicht gefragt, ob ich hier als Arbeiter Arbeit finde und was man zahlt. Ich frage dich, ob du einen jungen Burschen mit seiner jungen Frau auf einem Pferde hier hast vorbeireiten sehen." Der alte Arbeiter sagte: "Ich sagte dir schon, daß der Preis ganz nach der Arbeit ist. Bis zwei Duro. Ich finde, das ist gut bezahlt." Der Wuarssen sagte (ärgerlich): "Das ist ein Narr." Er wandte sein Pferd und ritt wieder nach Hause. Als er nur wenig fort war, verwandelte die Jüngste das



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Pferd, sich und den Burschen wieder in ihre alte Gestalt. Der Bursche ritt mit ihr eilig weiter.

Der Wuarssen kam nach Hause. Seine Frau fragte ihn: "Hast du sie nicht eingeholt?" Der Wuarssen sagte: "Nein, ich konnte sie nicht einholen. Ein alter Arbeiter, der mit einem Korbe auf einem Wege stand, gab mir närrische Antworten. So verlor ich den Weg." Die Frau sah auf ihre Fingernägel und sagte: "Der Weg war dein Pferd, der Korb war deine jüngste Tochter. Der alte Arbeiter war der Bursche. Bleib nun hier. Ich werde mich nun selbst auf den Weg machen." Die Frau des Wuarssen machte sich nun selbst auf den Weg und eilte so schnell sie konnte hinter dem Burschen und der Jüngsten her.

Die Frau des Wuarssen kam ganz nahe an den Burschen und die Jüngste heran. Die Jüngste blickte zurück. Sie rief: "Meine Mutter verfolgt uns jetzt! Sie ist schon ganz nahe. Reite an das Ufer." Der Bursche ritt zur Seite an das Ufer des Meeres. Die Jüngste wusch ihren Fingernagel mit Wasser und sagte: "Das Pferd soll ein großes Brett im Meere sein!" Sogleich wurde das Pferd ein großes Brett, das im Meere schwamm. Der Bursche und die Jüngste sprangen in das Meer und auf das große Brett. Mit dem Brett schwammen sie vom Ufer weg auf das Meer hinaus.

Die Frau des Wuarssen kam ganz dicht an das Ufer des Meeres heran. Sie sah den Burschen mit der Jüngsten auf dem Brett im Meere schwimmen. Die Frau des Wuarssen rief: "Meine Tochter, willst du nicht mit mir in das Haus deines Vaters zu deinen Schwestern zurückkehren?" Die Jüngste antwortete: "Nein, meine Mutter; ich will bei meinem Manne bleiben." Die Frau des Wuarssen rief: "Du willst deine Mutter verlassen?" Die Jüngste rief: "Meine Mutter, ich will bei meinem Manne bleiben." Die Frau des Wuarssen rief: "Eines Tages wird dein Mann zu seinen Eltern zurückkehren wollen. Dann kann er dich leicht vergessen. Beschwöre ihn, daß er sich von den Seinen nie küssen läßt. Das ist mein letztes Wort." Die Jüngste rief: "Ich danke dir, meine Mutter." Die Frau des Wuarssen kehrte in das Haus ihres Mannes zurück.

Während dreißig Tagen schwammen der Bursche und seine junge Frau mit dem Brett auf dem Meere umher. Am dreißigsten Tage schwammen sie an einen Felsen. Sie stiegen auf den Felsen an das Land. Auf dem Felsen fanden sie eine große Kiste (=tachasent), die das Meer herangeschwemmt hatte. Der Bursche öffnete die



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Kiste. Sie war angefüllt von Gold. Der Bursche sagte: "Nun bin ich reich. Ich habe dich und das Gold. Hier wollen wir wohnen." Die Jüngste sagte: "Gut, dann wollen wir hier wohnen." Sie wusch ihren Fingernagel und sagte: "Hier soll ein großes Haus stehen! Hier soll ein großer Garten sein! Hier sollen Bäume mit Früchten und Felder mit Korn aufwachsen." Sogleich stand ein großes Haus da, dahinter ein Garten mit Fruchtbäumen, dahinter lagen die Felder.

Der Bursche lebte mit seiner Frau in dem Lande voll Überfluß lange Zeit glücklich. Er dachte aber oft an seine Eltern und seinen Schwur und wurde traurig (=ichak). Die junge Frau sah, daß ihr Mann traurig wurde und sagte eines Tages zu ihm: "Ich sehe, daß du traurig bist; sage mir, was du hast." Der Bursche sagte: "Ich habe daheim Vater und Mutter. Als ich von Hause fortging, schwur ich, daß ich meinem Vater alles Geld, das ich früher unnütz verschwendete, ihm zurückerstatten und ihn so reich machen wolle, daß er Agelith würde. Nun bin ich inzwischen reich geworden und lebe im Überfluß. Meinen Schwur habe ich aber nicht gehalten, und das macht mich traurig." Die junge Frau sagte: "So kehre nach Hause zurück. Nimm alles mit, was dazu gehört, deinem Vater das Seine zurückzuerstatten und ihn so reich zu machen, daß er Agelith wird. Was du geschworen hast, sollst du halten. Wenn du weggehst, mußt du nun aber mir schwören, daß du mich nie vergessen willst. Du wirst mich aber vergessen, sobald dich eines deiner Familie auf die Stirne küßt. Darum schwöre mir, daß du dies nicht zulassen willst." Der Bursche schwor es.

Der Bursche packte Essen ein und so viel Gold, als nur möglich war. Er nahm von seiner jungen Frau Abschied und ritt von dannen. Er ritt auf seine Heimat zu. Er ritt sehr weit. Er kam in dem Ort, in dem seine Eltern lebten, an.

Der Bursche setzte sich bei einem Kaffeewirt nieder. Er blieb bei dem Kaffeewirt. Eines Tages kamen sein Vater und seine Mutter vorüber. Sie erkannten ihren Sohn nicht. Er erkannte aber seine Eltern. Der Bursche sagte zu seinen Eltern: "Kommt und trinkt mit mir eine Tasse Kaffee." Die beiden Eltern setzten sich neben ihn und sprachen mit ihm. Sie erkannten ihren Sohn nicht. Der Sohn ging beiseite und warf in jede der beiden Tassen ein Goldstück. Der Kaffeewirt brachte den Kaffee. Die Eltern tranken den Kaffee. Sie fanden auf dem Grunde die Goldstücke. Sie fragten



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erstaunt: "Woher kommt dies?" Der Sohn sagte: "Es ist offenbar euer." Die Eltern bedankten sich und luden den Burschen zum Abendessen ein. Dann gingen sie. Die Mutter sagte zu dem Vater auf dem Heimweg: "Sollte das unser Sohn sein?" Der Vater sagte: "Unser Sohn war ein Verschwender; er kann sicher nur Geld verbrauchen, aber nicht geben."

Der Bursche kam in das Haus seiner Eltern. Die alte Negerin öffnete ihm. Die Negerin sah ihn an und erkannte ihn. Sie sagte aber nichts. Der Sohn aß mit seinen Eltern. Er ließ unter seinem Platz einen Sack mit Gold liegen, als er ging. Als er gegangen war, fanden die Eltern an seinem Platz das Gold. Der Vater sagte: "Was soll das?" Die Mutter sagte: "Glaube mir, das ist unser Sohn." Der Vater sagte: "Unser Sohn war ein Verschwender, er kann sicher nur Geld verbrauchen, aber nicht geben."

Auch die Negerin sah das Gold. Sie lief in den Ort. Sie ging zu den Leuten. Sie sagte: "Ihr wißt doch, daß ihr einen sehr schlechten Agelith habt, mit dem ihr alle unzufrieden seid?" Die Leute sagten: "So ist es!" Die Negerin sagte: "Ihr habt ihn doch bis jetzt nur deshalb nicht verjagt, weil ihr keinen anderen angesehenen und wohlhabenden Mann unter euch habt?" Die Leute sagten: "So ist es." Die Negerin sagte: "Der Sohn meines Herrn, den ihr alle kennt, ist heimgekehrt und hat seinem Vater eine große Menge Goldes mitgebracht." Die Leute sagten: "So schwöre uns dies!" Die Negerin schwor.

Da kamen alle Männer am andern Tage zusammen und gingen zu dem Hause des Agelith und riefen: "Wir haben von diesem geizigen Manne, der nie mit den andern teilt, genug!" Dann verjagten sie den Agelith. Hierauf zogen sie zu dem Hause des Vaters des Burschen und sagten: "Du sollst unser Agelith sein." Der Vater kam heraus. Er brachte das Gold heraus, das sein Sohn bei ihm zurückgelassen hatte, legte es hin und sagte: "Dies ist alles, was ich habe. Teilt dies unter euch; mehr habe ich nicht." Der Bursche befand sich aber unter den Leuten. Er trat hervor. Er rief: "Das ist nicht wahr, aber mein Vater weiß es nicht besser." Er zog aus dem Kleide einige Beutel Gold, legte sie vor seinen Vater hin und sagte: "Dies ist nur das, was ich von deinem Besitz unnütz verschwendet habe." — So wurde der Vater des Burschen Agelith. Sein Sohn zog aber mit seinem Gold zu seinen Eltern und ward glücklich. Er war nur traurig, wenn er an seine junge Frau dachte.



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Eines Tages kam die Schwester seiner Mutter (=kholti) in den Ort, um den Sohn ihrer Schwester, der so glücklich heimgekehrt war, zu begrüßen. Er schlief schon, als sie kam, denn es war spät am Abend. Sie trat an sein Lager und küßte ihn auf die Stirne. Als der Bursche am andern Morgen erwachte, hatte er seine junge Frau vergessen.

Die junge Frau des Burschen, die jüngste Tochter des Wuarssen, war inzwischen allein in ihrem Hause. Sie wartete auf die Rückkehr ihres Mannes. Von Zeit zu Zeit sah sie auf den Nagel ihres kleinen Fingers. Sie sah stets, daß ihr Mann, der Bursche, sie noch nicht vergessen hatte. Eines Tages betrachtete sie wieder den Nagel ihres kleinen Fingers. Sie sah, daß der Bursche von seiner Tante geküßt worden war und sie vergessen hatte. Sie betrachtete wieder den Nagel ihres kleinen Fingers und sah, daß der Bursche nicht schlecht geworden war. Da packte sie ihre Sachen, füllte einige Säcke mit Gold, bereitete sich Essen für die Reise, bestieg einen Maulesel und machte sich auf den Weg.

Die junge Frau ritt viele Tage, bis sie an den Ort kam, in dem ihr Mann als Sohn des Agelith im Hause seiner Eltern ein glückliches Leben führte. Sie ritt in den Ort ein und nahm ein Zimmer bei dem Kaffeewirt. Am andern Tage fragte sie den Kaffeeinhaber: "Willst du dein Kaffee nicht verkaufen? Was willst du dafür haben?" Der Kaffeewirt sagte: "Ich muß 500 Goldstücke dafür erhalten, dann gebe ich es einem andern." Die junge Frau sagte zu dem Kaffeewirt: "Komm mit in mein Zimmer, ich will dir die 500 Goldstücke zahlen, wenn es auch viel zu teuer ist." Der Kaffeewirt erhielt die 500 Goldstücke. Die junge Frau besaß das Kaffeehaus.

Alle Leute erzählten sich in der Stadt: "Der Kaffeeinhaber hat sein Kaffee an eine sehr reiche junge Frau verkauft; die jetzige Inhaberin ist schön wie die Sonne." Viele Leute kamen nun in das Kaffee, um die reiche, junge Kaffeewirtin zu sehen und mit ihr zu plaudern. Alle jungen Leute gingen bei der jungen, schönen Kaffeewirtin aus und ein, aber der Sohn des Agelith blieb daheim und kam nicht in das Kaffee. Die junge Frau blickte wieder auf den Nagel ihres kleinen Fingers und sagte: "Auf diese Weise werde ich meinen Mann nicht wiedersehen. Mein Mann hat aber zwei leichtsinnige Freunde, die werden ihn mit sich zu mir bringen."

Am Abend waren wieder viele junge Leute im Hause der Kaffeewirtin versammelt. Als es Mitternacht war, sagte die junge Frau zu ihren Gästen: "Es ist Mitternacht und ich schließe." Die Gäste



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sagten wie schon öfter: "Willst du nicht einen von uns bei dir bebehalten, daß er die Nacht mit dir plaudere?" Die junge Frau sagte: "Ich weiß, daß jeder von euch mich gerne heiraten möchte, weil ich reich und schön bin. Ich schließe aber heute mein Kaffeehaus um Mitternacht. Wenn morgen einer von euch 500 Goldstücke zahlen will, kann er die ganze Nacht bei mir plaudern." Die Gäste gingen aus dem Hause. Die junge Frau rief ihre Negerin und ließ das Haus verschließen.

Unter den Gästen waren zwei reiche junge Leute, die das Geld ihres Vaters verbrauchten. Sie waren mit dem Sohne des Agelith befreundet. Sie gingen am andern Tage zu dem Sohne des Agelith und sagten ihm: "Komm heute nur ein einziges Mal mit in das Haus der jungen, schönen Kaffeewirtin. Sie will dem, der ihr 500 Goldstücke zahlt, erlauben, die Nacht über mit ihr zu plaudern. Sie wird den sicher nachher heiraten. Komm mit und sage uns, ob sie es nicht wert ist, daß man ihr 500 Goldstücke zahlt und sie zur Frau nimmt." Der Bursche war neugierig, diese Frau zu sehen, die so schön war, daß seine Freunde bereit waren, 500 Goldstücke zu zahlen, um eine Nacht mit ihr zu plaudern. Er begleitete seine Freunde abends mit in das Kaffeehaus.

Als er in das Kaffeehaus kam und die junge Frau sah, erkannte er sie nicht wieder. Er sagte nur: "Diese Frau ist wirklich schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann wieder und lachte ihn an. Er saß mit seinen Freunden zusammen. Seine Freunde sagten: "Ist sie nicht so schön, daß man gern 500 Goldstücke zahlt, um mit ihr zu plaudern?" Der Bursche sagte: "Ja, sie ist sehr schön." Die junge Frau setzte sich zu den drei Freunden. Einer der beiden Freunde des Burschen sagte zu der jungen, schönen Frau: "Darf ich heute nach Mitternacht bei dir bleiben, um mit dir zu plaudern? Ich will dir gerne 500 Goldstücke bezahlen." Die junge, schöne Frau sagte: "Wenn du mir schwörst, vorher eine kleine Arbeit für mich zu verrichten, darfst du die ganze Nacht an meinem Lager sitzen und mit mir plaudern." Der junge Mann sagte: "Was für eine Arbeit ist dies?" Die junge, schöne Frau sagte: "Das wirst du erfahren, wenn du mir nachher die 500 Goldstücke bezahlt hast." Der junge Mann war einverstanden.

Als es Mitternacht war, schloß die junge schöne Frau ihr Haus. Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde und allen andern nach Hause. Die junge, schöne Frau nahm den jungen Mann mit in ihr Zimmer. Der junge Mann gab ihr die 500 Goldstücke und



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sagte: "Welche kleine Arbeit habe ich nun zu verrichten?" Die junge, schöne Frau sagte: "Es ist nichts weiter, schließe nur das Fenster. Während du das Fenster schließt, werde ich mich niederlegen und einschlafen. Wenn du es geschlossen hast, wecke mich und wir können bis zum Morgen miteinander plaudern." Der junge Mann sagte: "Es lohnt nicht, daß du erst einschläfst. Ich werde es gleich geschlossen haben." Die junge, schöne Frau sagte: "Dann ist es desto besser für dich." Dann legte sie sich nieder und schlief sogleich ein.

Der junge Mann trat an das Fenster, um es zuzuschieben. Als er es zugeschoben hatte, ging es aber sogleich wieder auf. Er schob wieder und das Fenster ging wieder auf. Der junge Mann merkte, daß er seine Hand nicht eher vom Fenster wegnehmen konnte, als bis es zu war. So schob er die ganze Nacht das Fenster zu, das immer wieder aufging. Er schob, bis am andern Morgen die junge, schöne Frau aufwachte. Sogleich ging das Fenster zu. Der junge Mann sagte: "Nun wollen wir plaudern." Die junge, schöne Frau stand aber auf und sagte: "Nun ist es zu spät. Die Sonne ist aufgegangen. Du hast deine 500 Goldstücke schlecht benutzt." Der junge Mann ging.

Am Abend kamen die drei Freunde zusammen. Der junge Mann, der die Nacht im Zimmer der jungen, schönen Frau zugebracht hatte, sagte zu seinen Freunden: "Es war eine herrliche Nacht. Das nächste Mal werde ich 1000 Goldstücke bezahlen." Der andere junge Mann sagte: "Heute nacht werde ich die 500 Goldstücke bezahlen." Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde wieder in das Kaffeehaus der jungen, schönen Frau. Als er sie sah, erkannte er sie wieder nicht. Er sagte aber bei sich: "Diese Frau ist wirklich schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann und lachte ihn an.

Er saß mit seinen Freunden zusammen. Der zweite der jungen Männer sagte zu der jungen, schönen Frau: "Darf ich heute nach Mitternacht bei dir bleiben, um mit dir zu plaudern? Ich will dir gerne 500 Goldstücke bezahlen." Die junge, schöne Frau sagte: "Wenn du mir schwörst, vorher eine kleine Arbeit für mich zu verrichten, darfst du die ganze Nacht an meinem Lager sitzen und mit mir plaudern." Der zweite junge Mann sagte: "Was für eine Arbeit ist das?" Die junge, schöne Frau sagte: "Das wirst du erfahren, wenn du mir nachher die 500 Goldstücke bezahlt hast." Der zweite junge Mann war einverstanden.



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Als es Mitternacht war, schloß die junge, schöne Frau ihr Haus. Der Sohn des Agelith ging mit seinem Freunde und allen andern nach Hause. Die junge, schöne Frau nahm den zweiten jungen Mann mit in ihr Zimmer. Der junge Mann gab ihr die 500 Goldstücke und sagte: "Welche kleine Arbeit habe ich nun zu verrichten?" Die junge, schöne Frau sagte: "Es ist nichts weiter. Fülle mir nur diesen Topf Wasser aus dem Krug! Während du den Topf füllst, werde ich mich niederlegen und einschlafen. Wenn du ihn gefüllt hast, wecke mich und wir können bis zum Morgen miteinander plaudern." Der junge Mann sagte: "Es lohnt nicht, daß du erst einschläfst; ich werde den Topf sogleich gefüllt haben." Die junge, schöne Frau sagte: "Dann ist es desto besser für dich." Dann legte sie sich nieder und schlief sofort ein.

Der zweite junge Mann ergriff den Topf und wollte ihn aus dem Kruge füllen. Als er den Topf aber wieder aus dem Wasser emporhob, war er leer wie zuvor. Er führte ihn wieder in das Wasser und zog ihn leer wieder heraus. Der zweite junge Mann merkte, daß er seine Hände nicht eher von dem Topf und dem Krug wegnehmen konnte, als bis der Topf voll sei. Er schöpfte die ganze Nacht. Der Topf blieb leer. Er schöpfte, bis am Morgen die Sonne aufging. Als die Sonne aufging, erwachte die schöne, junge Frau. Sogleich war der Topf mit Wasser gefüllt. Der zweite junge Mann sagte: "Nun wollen wir plaudern." Die junge, schöne Frau stand auf und sagte: "Nun ist es zu spät. Die Sonne ist aufgegangen. Du hast deine 500 Goldstücke schlecht benutzt." Der zweite junge Mann ging.

Am Abend kamen die drei Freunde zusammen. Der zweite junge Mann sagte zu seinen Freunden: "Es war eine herrliche Nacht. Das nächste Mal werde ich 1000 Goldstücke bezahlen." Der Sohn des Agelith ging mit seinen beiden Freunden in das Kaffeehaus der jungen, schönen Frau. Als er sie sah, erkannte er sie wieder nicht. Er sagte bei sich: "Diese Frau ist wirklich schöner als die Sonne." Die junge Frau erkannte aber ihren Mann und lachte ihn an.

Der Sohn des Agelith saß mit seinen Freunden zusammen. Er sprach nicht. Als es Mitternacht war, sagte die junge, schöne Frau: "Es ist Mitternacht. Ich schließe jetzt das Kaffeehaus." Der Sohn des Agelith sagte: "Ich habe die 500 Goldstücke. Ich werde die kleine Arbeit vorher verrichten. Darf ich zum plaudern bei dir bleiben?" Die junge, schöne Frau sagte: "Es ist recht." Die andern



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Gäste verließen das Haus. Die junge, schöne Frau schloß das Haus hinter ihnen.

Die junge, schöne Frau nahm den Sohn des Agelith mit in ihr Zimmer. Der Sohn des Agelith legte die 500 Goldstücke hin. Die junge, schöne Frau sagte: "Nun schließ nur die Türe. Während du die Türe schließt, werde ich mich niederlegen und einschlafen. Wenn du die Türe geschlossen hast, wecke mich und wir können bis zum Morgen miteinander plaudern." Der Sohn des Agelith sagte nichts. Die junge, schöne Frau legte sich nieder und schlief sogleich ein. Der Sohn des Agelith trat an die Tür, um sie zu schließen. Er drückte die Tür heran; sie sprang wieder auf. Er drückte die Tür zum zweitenmal heran; sie sprang wieder auf. Er drückte die Tür zum drittenmal heran; sie sprang wieder auf. Der Sohn des Agelith wollte die Hand von der Tür ziehen. Die Hand war fest an der Tür. Er sah sich um. Er sah, daß die junge, schöne Frau eingeschlafen war. Da riß er die Tür heraus, trat mit der Türe im Arm an das Lager der jungen, schönen Frau, weckte sie und sprach: "Sorge, daß die Tür zugeht." Die junge Frau lachte. Sie sagte: "Du bist klüger; stelle die Tür wieder hin, wo sie hingehört. Sie wird jetzt schließen. Dann komm und setze dich an mein Lager." Der Sohn des Agelith trug die Tür zurück, hängte sie ein und schloß sie. Dann kehrte er an das Lager der jungen, schönen Frau zurück.

Er setzte sich an das Lager der jungen, schönen Frau. Sie fragte den Sohn des Agelith: "Du kennst mich nicht?" Der Sohn des Agelith sagte: "Nein, ich kenne dich nicht." Da gab die junge Frau ihm einen Schlag ins Gesicht. Im gleichen Augenblick erkannte er seine junge Frau wieder und fiel ihr um den Hals. Der Sohn des Agelith lachte. Die junge, schöne Frau lachte. Die junge Frau sagte: "Du hattest mich vergessen, weil deine Tante dich auf die Stirne geküßt hat. Du schliefst. Es war nicht deine Schuld." Der Sohn des Agelith sagte: "Komm morgen mit in das Haus meines Vaters. Wir wollen hier bleiben." Die junge, schöne Frau sagte: "Ich will es tun. Du bist klüger als die andern jungen Männer in der Stadt." Die junge Frau erzählte, wie die beiden Freunde die ganze Nacht mit dem Schließen des Fensters und dem Schöpfen des Wassers verbracht hatten, ohne zu wagen, sie zu wecken. Die junge, schöne Frau und der Sohn des Agelith lachten.

Der Sohn des Agelith blieb die ganze Nacht bei seiner jungen Frau und plauderte mit ihr. Als es Morgen war, sandte er die Negerin des Hauses zu seinem Vater und ließ ihm sagen: "Meine



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junge Frau ist angekommen. Bereite ein großes Fest. Kommt und holt uns ein!" Alsbald kam der Vater mit seinen Leuten und einer Sänfte. Der Agelith begrüßte seine Schwiegertochter und sagte: "Sie ist wirklich schöner als die Sonne." Er brachte seinen Sohn und seine Schwiegertochter heim. Unterwegs verteilte die junge Frau die 1000 Goldstücke, die sie von den jungen Männern empfangen hatte.

Der Agelith feierte seinem Sohne und seiner Schwiegertochter ein großes Fest. Alle Leute waren fröhlich und jedermann mit dem neuen Agelith zufrieden. Als der Agelith aber starb, war sein Sohn sein Nachfolger.


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