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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


3. Odyssade

Ein kleiner Knabe war bei seinem Onkel (= chali; Plural: chuali ist stets Mutterbruder; der Onkel väterlicherseits heißt animi; das Wort animi wird von den französisch sprechenden Kabylen mit cousin übersetzt, was auf seine Anwendungsausdehnung schließen läßt; im übrigen heißt der Sohn des animi, also der richtige Vetter, mis-animi). Das Haus des Onkels war von dem seiner Mutter nur wenig entfernt. Die Nacht war nicht fern. Es regnete. Der Onkel sagte zu dem Knaben: "Bleibe bei mir zum Abendessen, nachher bringe ich dich nach Hause." Der Knabe sagte: "Ich will nicht hier bleiben, ich bin zu fremd hier." Der Onkel sagte: "Du bist bei deinem Onkel und zwei Schritte entfernt von deinem Hause. Du sagst, du seist zu fremd hier. Du weißt nicht, was die Fremde (=l'röbe) ist. Ich will dir deshalb erzählen, wie es ist, wenn man in der wahren Fremde reist."

Der Onkel erzählte:

Es waren 76; ich war der siebenundsiebzigste. Wir waren auf Reisen. Wir wanderten Tag und Nacht. Wir reisten bis zum äußersten. Wir haben herrliche Ebenen durchwandert. Nach



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langem Wandern kamen wir an ein großes Meer. Wir waren, als wir an das Meer kamen, schon sieben Jahre auf Reisen.

Auf dem Ufer bauten wir aus Brettern (=sfina; Plural: sfines) eine große Fläche (also ein Floß). Alle 77 stiegen darauf. Wir fuhren hinaus. Wir konnten keine Richtung sehen. Wir sahen nur Wasser und Himmel. So schwammen wir vier Jahre ohne (genügendes) Essen und Trinken. Nach vier Jahren zerbrachen die Planken (das Floß). Die meisten wurden mit den Brettern weggerissen und gingen unter. Nur ein Rest der gebundenen Bretter blieb über Wasser. Es waren sechs Mann darauf. Ich war der siebente. Wir fuhren weiter.

Eines Tages kam der große Vogel Ichidr (Plural: ihuder, wird als Strauß erklärt; einige sagen, es sei ein großer Adler). Ichidr packte einen von uns, zog ihn empor und trug ihn fort. Am andern Tage kam Ichidr wieder und trug einen fort. Er trug einen nach dem andern fort. Am siebenten Tage war ich nur noch allein übrig. Da kam Ichidr am siebenten Tage, packte mich, trug mich empor und hinweg über das Meer. Ichidr flog mit mir sehr schnell und sehr weit.

Ichidr flog, bis er an einige riesenhöhe Felsen kam. Auf die Spitze dieser Felsen flog er nieder und setzte mich dann in sein Nest, in dem seine Jungen waren. Die Jungen schliefen. Der Ichidr flog wieder fort. Ich sagte mir: "Du bist hier als Nahrung für die Jungen des Ichidr. Jetzt schlafen sie." Darauf tötete ich die Jungen des Ichidr. Dann stieg ich auf den Rand des Nestes und sah mich um. Der Felsen war ungeheuer hoch. Es lagen aber viele Haare von Frauen herum, die von den Jungen des Ichidr verzehrt waren. Ich band die Haare zusammen und machte ein Tau. Das Tau aus Frauenhaar band ich an einer Felsenspitze fest. Ich fing an, mich langsam und vorsichtig an dem Tau herabzulassen. Ich war schon ein ganzes Stück weiter, da blickte ich einmal zurück. Ich sah, daß mir eine siebenköpfige Schlange (=lef'ha, die Hydra) folgte. Ich erschrak. Ich beschloß, lieber auf der Erde zu sterben, als in der Luft aufgefressen zu werden. Ich schnitt den Strick durch. Ich stürzte. Ich kam auf die Erde.

Auf der Erde fiel ich gerade vor der Höhle (=l'hrar) einer Löwin nieder. Ich hatte mir die Arme und Beine gebrochen. Ich kroch auf Händen und Füßen in die Höhle. In der Höhle waren nur die Jungen. Ich versteckte mich zwischen den Jungen. Nach einiger Zeit kam die Löwin nach Hause. Die Löwin legte sich nieder. Die



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Jungen der Löwin drängten sich an ihre Brust und tranken. Ich drängte mich auch, heran. Ich trank auch von der Brust der Löwin. Einmal wandte die Löwin den Kopf. Sie sah mich. Sie brüllte und schrie: "Ein Mensch! Wenn du nicht von meiner Milch getrunken hättest, würde ich dich verschlingen. Da du aber von meiner Milch getrunken hast, will ich dich beschützen." Die Löwin brachte mir alle Tage Essen. Die Löwin pflegte meine zerbrochenen Glieder. Meine Wunden heilten. Ich wurde wieder gesund und konnte gehen. Als ich wieder stark war, bat ich die Löwin um die Erlaubnis weiterzuziehen. Die Löwin erlaubte es mir.

Ich nahm von der Löwin Abschied und wanderte von dannen. Ich wanderte weiter. Ich traf unterwegs sechs Männer. Ich war der siebente. Wir sieben gingen zusammen weiter. Wir gingen weit weg zusammen. Eines Tages begegneten wir aber einem Wuarssen, der war riesengroß und hatte nur ein Auge auf dem Kopfe. (Der kabylische Name für den Zyklopen ist thiet' de kuoro, d. h. thiet' =Auge, de seines; kuoro = Kopfes. Die Zyklopen haben nach kabylischer Ansicht das Auge sehr hoch auf der Stirne.) Der Wuarssen hütete seine Schafe. Meine sechs Kameraden sagten zum Wuarssen: "Wo können wir diese Nacht bleiben?" Der Wuarssen sagte: "Kommt, schlaft bei mir." Ich erschrak hierüber. Die sechs Kameraden sagten: "Es ist gut, wir werden bei dir schlafen." Ich erschrak noch mehr. Aber ich konnte nicht widersprechen; hätte ich als einziger widersprochen, so hätte der Wuarssen mich sogleich verschlungen. Ich schwieg.

Der Wuarssen zeigte uns den Weg in seine Höhle (l'hrar). Wir kamen bei der Höhle an. Der Wuarssen schob einen großen Stein mit der Kraft von 99 Leuten beiseite. Das war die Tür seiner Wohnung. Der Wuarssen trieb seine sämtlichen Schafe in die Höhle. Er ließ uns auch eintreten. Als wir in der Höhle waren, schob der Wuarssen wieder den Stein vor den Eingang. Die Wohnung war verschlossen. Der Wuarssen schlachtete dann einen Hammel und setzte uns gutes Essen vor. Wir aßen gut und viel. Dann legten wir uns hin und schliefen auch bald ein, denn wir waren müde. Als es Mitternacht war, erhob sich der Wuarssen. Er kam vorsichtig heran und sah, ob wir schliefen. Dann nahm er eine Eisenstange und machte sie im Feuer glühend. Mit der glühenden Eisenstange stach er in den meiner Kameraden, der ihm am nächsten lag, hinein. Er stach mit dem glühenden Eisen so lange hinein, bis der Mann geröstet und gar war. Dann fraß der Wuarssen den Mann.



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Am andern Morgen rüstete der Wuarssen zum Weggehen. Ich sagte zu meinen Kameraden: "Wir wollen den Wuarssen bitten, daß er uns erlaubt weiterzugehen." Die andern fünf sagten: "Nein, wir wollen hier bleiben. Hier haben wir wenigstens zu essen." Ich sagte: "Seht, gestern waren wir noch sieben, heute sind wir nur noch sechs!" Die andern sagten: "Der eine Fehlende ist vielleicht über Nacht weggelaufen." Ich sagte: "Glaubt mir doch, daß der Wuarssen ihn gefressen hat." Die andern sagten: "Wir bleiben." Der Wuarssen öffnete die Höhle, trieb seine Herde heraus und schob dann von außen den Stein mit der Kraft von 99 Männern wieder vor den Eingang. Als es Nacht wurde, kam er wieder, öffnete die Höhle, trieb die Schafe hinein und schloß hinter sich. In der Nacht fraß er wieder einen von meinen Kameraden.

So fraß der Wuarssen jede Nacht einen meiner Kameraden. Am siebenten Tage war ich nur noch ganz allein übrig. Als es Nacht wurde und wir gegessen hatten, sagte ich zu dem Wuarssen: "Wir wollen uns heute unterhalten. Wir wollen uns eine Geschichte erzählen. Soll ich erzählen, oder willst du erzählen?" Der Wuarssen sagte: "Erzähle du! Wenn ich darüber einschlafe, mach du mit mir, was du willst. Wenn du darüber einschläfst, werde ich mit dir machen, was ich will." Ich begann nun eine lange Geschichte zu erzählen. Ich erzählte und erzählte und erzählte. Der Wuarssen wurde immer müder. Als es Mitternacht war, war er so müde, daß er einschlief.

Ich erhob mich. Ich machte die Eisenstange ganz heiß. Ich machte sie glühend. Als sie glühend war, näherte ich mich dem schlafenden Wuarssen und bohrte die glühende Stange ihm in das eine Auge. Es machte: tschuch-tschuk (d. i. das Aufzischen). Der Wuarssen sprang auf. Der Wuarssen brüllte laut. Der Wuarssen rannte in der Höhle umher und zerschlug alle Töpfe und Krüge. Ich rannte vor ihm weg und versteckte mich in den Winkeln. Er rannte und schlug bald hierhin, bald dorthin. Ich sprang umher und versteckte mich dort und hier. So jagte er brüllend nach mir bis zum andern Morgen.

Am Morgen beruhigte sich der Wuarssen etwas. Ich nahm nun einen der schwarzen Widder, tötete und häutete ihn. Den Kopf des Widders legte ich auf meinen Kopf und schlang die Haut des Widders um mich. Nachher aß der Wuarssen. Ich schlich mich heran und aß auch von einer Schüssel. Als er es merkte, schlug er nach mir. Ich sprang zur Seite. So lebten wir zwei Tage lang nebeneinander



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in der Höhle. Der Wuarssen hörte nicht auf mich zu verfolgen.

Nach zwei Tagen sagte der Wuarssen: "Die Schafe haben zwei Tage lang nichts zu fressen bekommen. Es wird Zeit, daß sie fressen. Sie müssen auf die Weide. Aber ich werde wohl darauf achten, daß nur meine Schafe herauskommen." Der Wuarssen rückte den Felsblock mit der Kraft von 99 Männern zur Seite. Dann setzte er sich in den Eingang und sagte: "Kommt heraus, ihr Schafe. Ich will euch der Reihe nach befühlen. Und welches keine Wolle hat, das werde ich verschlingen."

Die Schafe drängten heraus. Ich drängte mich an ihre Spitze. Ich ging auf den Knien, hielt den Widderkopf vor mir mit den Händen und hielt das Widderfell dicht um mich geknotet. Ich kam an der Spitze der Schafe an ihm vorbei. Er befühlte mit der Hand den Kopf und strich mit der Hand über meinen Rücken hin. Er ließ mich vorüber. Als ich mit den Schafen draußen war, nahm ich den Kopf des Widders und warf ihn dem Wuarssen zu. Ich rief: "Hier hast du den Kopf deines schwarzen Widders." Der Wuarssen schrie vor Wut. Ich ließ den Wuarssen in seiner Höhle.

Ich trieb die Schafherde des Wuarssen vor mir her. Ich ließ sie weiden und trieb sie den ganzen Tag vor mir her. Abends kam ich in einen Wald. In dem Wald legte ich mich inmitten meiner Schafe zum Schlafen nieder. Um Mitternacht kamen sechs Räuber den Weg entlang. Sie kamen in den Wald und sahen meine Schafe. Sie weckten die Herde und trieben sie mit sich fort. Einer wandte sich um und sah nach der Stelle, wo ich lag, zurück. Er sagte: "Da liegt noch etwas Weißes." Die Räuber kehrten zurück und fanden mich. Sie nahmen mich mit sich.

Die Räuber kamen mit meiner Herde und mir an einem Dorf vorüber. Die Räuber gingen an dem Ort vorüber. Es begegnete uns ein Mann aus dem Dorfe, der weinte und klagte. Wir fragten den Mann: "Warum weinst du?" Der Mann sagte: "Wir haben hier eine Hydra (levha), die lebt an der Quelle, aus der wir unser Wasser holen. Die Hydra läßt uns aber kein Wasser nehmen, wenn wir ihr nicht täglich eine unserer jungen Töchter geben. Das geht der Reihe nach in den Familien um. Heute ist nun meine Familie an der Reihe, und ich muß ihr meine Tochter geben." Die sechs Räuber sagten: "Wir wollen dir diesen Mann hier geben, vielleicht kann er dir helfen. Willst du den Mann kaufen?" Der Mann kaufte mich und nahm mich mit sich nach Hause.



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Als wir zu Hause angekommen waren, fragte mich der Mann: "Kannst du mir helfen?" Ich sagte: "Diese Hydra hat das ganze Dorf vernichtet. Nun wollen wir die Hydra vernichten. Ich will dich über und über mit Honig bestreichen. Die Hydra wird dich ganz und gar ablecken und darüber vergessen, deine Tochter zu nehmen." Der Mann sagte: "So wollen wir es machen. Du und meine Tochter, ihr könnt mich zur Quelle begleiten." Ich bestrich den Mann dann über und über mit Honig. Es blieb aber auf dem Nacken (= amgurr) eine Stelle von der Größe eines Duro frei vom Honig. Dann ging der Mann mit seiner Tochter und mir zur Quelle.

Wir kamen an die Quelle. Die Hydra stürzte, als sie uns sah, sogleich auf uns. Sie witterte den Honig. Sie begann an dem Honig, mit dem der Mann bedeckt war, zu lecken. Die Hydra leckte den ganzen Honig ab. Sie kam an die Stelle, die nicht mit Honig bedeckt war. Die Hydra begann an der Stelle zu schlürfen (= tsum). Sie schlürfte von der Stelle am Nacken das Innere des Mannes aus. Sie schlürfte alle seine Eingeweide, das Blut und das Fleisch aus. Es blieb nur die Haut übrig. Die Haut fiel wie ein Sack hin. Dann war die Hydra satt und wandte sich ab. Ich nahm das Mädchen mit fort.

Wir gingen ein Stück. Da begegnete uns ein Esel, der mit einem leeren Doppelsack (aus Schilf, in einem Stück geflochten =asimbf) versehen war. Wir setzten uns jeder auf eine Seite. Wir ritten auf dem Esel weiter. Wir ritten, bis es Nacht wurde. Als es Nacht war, trug uns der Esel weiter. Aber wir schliefen ein. Ich war schwerer als das Mädchen. Ich zog mit meinem Gewicht meine Seite herunter. Ich fiel herab. Das Mädchen fiel auch herab. Wir waren aber so müde, daß wir nicht aufwachten, sondern, auf der Straße liegend, weiterschliefen. Der Esel ging ohne uns weiter.

Gegen Morgen kam ein Löwe. Er begann das Mädchen aufzufressen. Er begann an den Füßen und fraß es bis zur Hüfte. Als er soweit war, kamen sechs Agelith des Weges. Der Löwe erschrak darüber und lief weg in den Wald. Die sechs Agelith kamen zu uns heran. Sie sahen das halb aufgefressene Mädchen. Sie sagten zu mir: "Du hast die Hälfte des Mädchens gefressen. Wir werden dich zu dem großen Agelith führen. Der soll darüber entscheiden, ob dir der Kopf abgeschlagen werden soll." Ich wurde zu dem großen Agelith geführt. Der große Agelith ließ mich in ein Haus einschließen. Ich war gefangen. Am Abend wurde mein



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Haus geöffnet, und ich durfte in dem großen Garten spazieren gehen.

Alle Tage wurde ich eingeschlossen, und nur abends durfte ich im Garten spazieren gehen. Eines Tages sah ich, daß der Garten an einer Stelle nur eine niedrige Mauer hatte. Ich sprang über die Mauer und rannte von dannen. Ich lief, bis ich nach Hause kam.

Sieh, mein Neffe, das ist eine Reise in die Fremde. Das ist die Fremde.

Als der Onkel geendet hatte, sagte der Knabe: "Onkel, ich gehe nachher allein in der Nacht nach Hause. Du brauchst mich nicht zu begleiten. Ich weiß jetzt, was die Fremde ist."

NB. Nach einer anderen Version war der Knabe nach Anhören der Geschichte für mehrere Monate krank.


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