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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


Das Ungeheuerliche

Das Grauenvolle reizt die Kabylen, nimmt aber nur selten in ihren Volksdichtungen bedeutsame Formen an. Es sind vielmehr das Ungeheuerliche und das Fabelhafte, das sich zu märchenhaften Bildungen verdichtet. Das Ungeheuerliche (vorliegender Bd. II) überwiegt nun aber so stark im Volksinteresse, daß es wohl berechtigt ist, seine Aufschlüsse den Ergüssen des eigentlich Fabelhaften (Bd. III) voranzustellen.

Nicht etwa, als ob es an Grauenvollem mangelte. In Bd. 1 Nr. 24 S. 109 konnte ich schon einiges von den Schrecknissen berichten. Derartiges gibt es vielerlei. Da sind vor allem die "Zurückkehrenden" (thahaurith; Plural: tihaurihen; in anderem Dialekt: tharuhauith; Plural: thiruhainen), die als gespenstische Schatten den Menschen bedrängen. Dann gibt es die Tiuchilin (Sing.: teauchilt), das sind Frauen, die am Freitag nacht unsichtbar die Dörfer durchziehen, die stets unsichtbar bleiben, die angeblich nur Gutes tun, deren gespenstisches Wesen aber dennoch gefürchtet wird. Ferner ist da Imsisen (Plural: imsislien), ein mauleselartiges Wesen, das umherläuft, eine Art Glocke am Hals hat und diese schellend erklingen läßt; wenn Imsisen einem Menschen begegnet, so nimmt er ihn auf den Rücken und läuft mit ihm davon. Dann wiederum taucht hier und da eine Rauch- oder Wirbelsäule auf, die wie eine Wolke durch den Wald zieht und die Menschen vernichtet. — Dagegen konnte ich von den Subachen, die in Westafrika und in den Ländern südlich der westlichen Sahara eine so große Rolle spielen, nichts finden, und die Irrlichter (assassen luali; Sing.: lulia) sind nur harmlose Erscheinungen.

Dem Grauenvollen gegenüber das Ungeheuerliche! Für alle Arten Ungeheuer gibt es nur einen Ausdruck: luachsch; Plural: leuhausch. Es ist ungemein bezeichnend, daß Löwen und Leoparden für die Kabylen ganz ebenso "Luasch" sind wie die Riesen und die Hexen. Die alten Kabylen fürchteten Riesen, Hexen, Leoparden und Löwen offenbar als gleiche Erscheinungen. Aber ein Grauen vor ihnen gab es nicht. Die Ungeheuer waren dem Mutigen überwindbar, was auf die gespenstischen Erscheinungen nicht zutrifft. Ihrer konnte man sich nur mit Hilfe magischer Mittel erwehren. Ihnen gegenüber spielte der Mut keine Rolle.

Von den nicht der natürlichen Umwelt angehörigen Ungeheuern gab es keine große Auswahl: Riesen, Hexen und Drachen. Die Riesen (wuarssen oder awartheniu; Plural: iwarsnieuen oder iwarthuniän) sind die gleichen plumpen Wesen wie bei uns. Sie sind kannibalisch, aber auch dumm-gutmütig und durchaus phantasielos. Ganz anders der Charakter der Hexen (Sing.: teriel oder tzeriel; Plural:



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teriulat oder tzeriel). Diese sind bösartig, gerissen, rachsüchtig, hinterhältig. Sie repräsentieren den Frauentypus, den der Kabyle als Setut (Bd. 1 5. 40) bezeichnet. Sie sind Aliverschlinger und nachts, wenn sie schlafen, erklingen aus ihrem Bauch die Stimmen von Fröschen, Löwen und anderen Tieren. Merkwürdig ist es, daß eine ganze Reihe von Abenteuern erzählt werden, die von einem Zusammentreffen mit Teriel berichten und als wahre Geschehnisse gelten. Zum dritten endlich gehört die siebenköpfige Schlange, der Drache leph'ha oder lapha in die gleiche Sippe. Im Bd. III (S. 294 Nr. 53 Jäger) werden wir aber sehen, daß auch ein schönes Mädchen sich in ein Luasch, ein Ungeheuer verwandeln kann.

Die Erzählungen, in denen diese Ungeheuer die große Rolle spielen, nehmen bei den Kabylen etwa ein Drittel im ganzen Bereich der ursprünglich eigenen, wie der später von anderer Seite zugeflossenen Volksdichtung ein. So war es ganz selbstverständlich, daß wir uns oft über die Riesen und Hexen und auch über ihr Heimatland unterhielten. Als ich in Tirual nun die ersten Nachrichten über die auch aus dem Lande der Riesen stammenden Taubenfrauen erhielt, wurde mir zum erstenmal ganz spontan die Mitteilung zuteil, daß die Wuarssen am Himmel lebten: "bei den Sternen" (sie sagten aber nicht, daß es die Sterne wären). Dann kam auch zum ersten Male, ferner bei einer zweiten Erzählung der Grabwache (Nr. 75) heraus, daß die Helden dieser Erzählungen ihre Abenteuer am Himmel erleben - sicherlich ein wichtiger Ausspruch für Jünger der vergleichenden Mythologie.

Die Erzählungen von den Kämpfen und Abenteuern mit Riesen und Hexen zeigen eine große Mannigfaltigkeit. Alte liebe Geschichten, wie die von Amor und Psyche, von Polyphem, den Schwanenjungfrauen, den Amazonen usw. treten in neuen echt kabylischen Versionen zutage, und zwar - was mir sehr bedeutsam erscheint - nicht als von Fremden entlehntes Gut, sondern als genetisch mit der ganzen Fabulei Verwachsenes.


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