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Schweizer Märchen Sagen und Fenggengeschichten


Neu mitgeteilt von Curt Englert-Faye

1984

ZBINDEN VERLAG BASEL


Der Geißbub auf der Martinswand

Vor Zeiten dingten die Bauern im Wartau alle Jahre einen Buben aus den Triesnerbergen, damit er ihnen sommersüber am St. Martinsberg die Geißen hüte. Mehrere Jahre nacheinander hatten sie den Wisi, den Sohn einer Witwe, zum Geißler gewählt, denn er verstand sich vortrefflich auf die Tiere.

Einmal nun, um den ersten Maientag war's, da zog der Wisi mit seiner schellenden Schar äsend haldan über Weiden und Schrunde und kam unversehens bis auf die Höhe über die Martinswand. Es ging gegen Mittag, die Geißen hatten genug gefressen, jede suchte unter Steinen und Felsen ein kühles Plätzchen und legte sich hin, gemächlich wiederkäuend. Nur die Gitzi waren noch munter. Die sprangen und hüpften auf Felsköpfe, putschten gegeneinander oder zupften da und dort noch ein Gräslein ab an Stellen, wo sie kaum hinlangten. Von Zeit zu Zeit, wenn etwa eine Stechfliege oder eine Bremse kam, schüttelten die Geißen den Grind, und da erklangen Schellen und Glöcklein. sonst war es stille und feierlich wie in einer Kirche.

Jetzt stellte sich der Geißler zu äußerst auf die Wand hinaus, schwenkte sein Wetterhütchen und jauchzte. Am gegenüberliegenden Berg tut ihm von der Kuppe ein Mädchen kund. Er jauchzt noch einmal hinüber und von der Kuppe jauchzt's zurück. Das wird nur der Widerhall sein, dachte er, legte sich ab und äugte scharf gegen die Kuppe; aber es zeigte sich niemand, weder Bub noch Mädchen. Während er so lagernd ins Land schaute, entschlief er.

Im Traum kam ihm vor, als träte ein Mädchen vor ihn hin in einem Röcklein aus schneeweißer Seide mit feuerroten Flatterbändern dran. Auf dem Kopf trug es ein Strohhütchen. Das sagte zu ihm, heute sei Chilbi weit fort in einem prächtigen Schloß bei reichen Herren und vornehmen Damen. Es suche nur noch einen Tänzer. «Du wärest mir



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grad recht. Komm mit mir.» Juhui, jauchzte es, grad wie's von der Kuppe getönt. Aber der Wisi lachte und sagte: «Du Häxenärrli, was denkst du auch? Ich, mit meinen plätzeten Hosen, den ausgefransten Hemdsärmeln, dem verblichenen Hütlein und ohne Strümpf und Schuh? Zu vornehmen Herren und bildhübschen Damen hast du gesagt? Ha, ha, da könntest du dich meinen mit mir!» «Bah, bah, ich staffiere dich schon aus, das ist das mindeste. Du wirst staunen: alle haben die gleiche Montur!» «Aber meine Geißen, meine Geißen. Die Geißvögtin kann toben wie das Unwetter!» «Oh, das geht sauber und glatt. Ich schicke meinen Knecht in deinen Hösli und deinem Hütchen, die kannst du in der Zeit entbehren, und ich wette soviel du willst, sie merken nichts. Aber eins sei dir gesagt: es mag geben, was es will, kein Wörtchen darfst du sagen, kein Wörtchen. Sonst bhüetis -ist's aus mit der Chilbi. Hast du mich verstanden?» «Ja, ja», antwortete der Wisi, «wenn's nur an dem liegt, komme ich schon mit. Mich dünkt, du werdest mich nicht fressen und schweigen kann ich.»

Jetzt nimmt das Mädchen ein Nastuch hervor, ein schwarzes, spreitet's im Gras aus und sagt zum Wisi: «So, jetzt sitz drauf.» Er folgt ihm und es streicht mit einem Haselrütchen um ihn herum und brümmelt dazu. Dann sitzt es dem Wisi auf die Hosen und schlingt die Arme um seinen Hals. Dem Geißbub ist's, als bekäme das Nastüchlein Flügel. Im Flug geht es über Vilnas, übers Rheintal, den Bodensee, über Dörfer und Städte, über Felder und Wälder. Bei einem schneeweißen Schloß setzt sie der Fazenettlidrache ab. Von allen Seiten rücken Gäste heran, auf schwarzen Böcken trabten sie daher auf alten Geißen oder ritten auf Besenstielen und Ofengabeln durch die Luft. Andere kamen als schwarze Katzen, rote Hunde, Füchse oder weiße Hasen. Im Saal oben ertönte schon die Musik. toller und lauter als an einer Hochzeit. Das Mädchen packt den Wisi am Arm und hui, springt's treppauf in den Saal, daß



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es nicht zu spät komme. Wie es so schräg vor ihm hinaufeilt, sieht er, daß das Mädchen nichts mehr an sich hat als das Strohhütchen.

Wie sie in den Saal treten und er das nackte Volk sieht, schaut er beschämt an sich hinunter und erschrickt: ja, ja, alle haben sie die gleiche Montur.

Mitten im Saal war eine Art Bühne. etwa zwei Fuß hoch. Darauf stand ein Tisch mit einem großen goldbeschlagenen Buch. Darin mußten sich alle neuen Gäste einschreiben mit ihrem Blut. Ein großmächtiger Herr in einem schwarzen Mantel und einem riesigen Schlapphut schaute, daß alle es recht machten. Konnte einer nicht schreiben, kratzte er mit der Hühnerfeder das Zeichen eines Hahnenfußes und der Große schrieb daneben seinen Namen.

In einer Ecke spielten vier Musikanten auf. Eine solche Weise hatte der Wisi noch nie gehört, es hat ihn grad gelüpft und mitgerissen. Um die Bühne herum wirbelte und tanzte das wilde Volk, Arme und Beine verschlungen wie außer sich und lachte und jauchzte wie lätz.

Den Wänden entlang standen Tische mit köstlichen Speisen und kühlen Trünken. Der Wisi war hungrig und hätte gern zugegriffen, aber anständig wie er war, wollte er sich erst in dem großen Buch einschreiben. Aber das Mädchen ließ ihn nicht fort, das pressiere nicht halb so, man könne es immer noch machen. «Komm nur, komm, jetzt wollen wir tanzen.» Wie in einer Trülle dreht es ihn wieder in den Ring, sie springen und fliegen im Wirbel wie die andern alle bis der Wisi nicht mehr weiß, wo er ist. Nach einem Kehr führt ihn das Meitschi aus dem Ring zu den Tischen und reicht ihm selber das Beste dar. Aber statt Salz streut es ihm «Lauf-mer-nach» drauf, eine tüchtige Messerspitze voll und statt Brot reicht's ihm «Bischgrad-mi». Es schenkte ihm auch ein, alipott und grad wieder, aber keinen Wein, sondern Paradiesapfelsaft. Der Wisi hat gegessen und getrunken und bekam je länger desto mehr Hunger



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und Glust. Er schaute und staunte. Dieses Getümmel und diese Pracht! Und sein Mädchen, wie die liebe Sonne. Wenn er auch hätte reden dürfen, er hätte kein Wort hervorgebracht vor Staunen und Schauen.

Nachdem sie gegessen hatten, springt das Mädchen auf wie ein Blitz: «Komm, komm. Jetzt wollen wir wieder einen Tanz drehen, aber ganz einen tollen Kehr, bis wir nichts mehr wissen von uns und die Welt im Nebel verschwimmt!» Kaum begonnen, muß das Mädchen niesen. Treuherzig sagt der Wisi, wie seine Mutter daheim, wenn er selber niesen muß: «Helf dir Gott!» Da - ein Donnerschlag - alles ist wie weggeblasen. Still ist es, wie in einem Grab, und der Wisi erwacht mühsam unter der Martinswand, erfaßt noch grad, wie er durch die Äste der mächtigen Tannen auf den Waldboden purzelt. Aber merkwürdig! Das Gesicht hat's ihm ungehörig verkratzt und den Haarschopf verstrubbelt, sonst ist kein Knöchli gebrochen. Kein Schranz in der Haut. Nur die Hösli sind verrissen.

So saß er im Moos und mußte sich besinnen, wie er dahin gekommen und was ihm geträumt. Alles drehte sich ihm noch ringsum, als säße er in einer Trülle. Aber wie auf der Wand oben ein Gitzi zuäußerst am Bord steht, den Hals streckt und meckert, als riefe es der Mutter, da tagete es ihm: «Ja, ja, von dort herunter kam ich, drei Kirchtürme hoch!» Es schauderte ihn. Als hätte er Blei in den Knochen, steigt er durch die holprige Gaß hinauf, zurück auf den Martinsberg zu seiner Geißenherde.

Von seinem Traum und seiner Fahrt ins Tal sagte er keinem Menschen ein Wörtlein. Aber wie er im Herbst in die Triesnerberge zu seiner Mutter heim kam, da hat er ihr alles haargenau gebeichtet. «Herr Jesses, Herr Jesses! Du hast Glück gehabt, ein unerhörtes Glück. Dem Tod entronnen bist du und dem leibhaftigen Teufel auch noch. Dafür solltest du wallfahrten zur Mutter Gottes nach Einsiedeln, in jedem Winter, deiner Lebtag, das wäre sicher nicht zuviel!»



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Aber wie es so geht, die Mutter konnte nicht schweigen. Dieser und jener Base erzählte sie es in strengem Vertrauen. Für die einen war der Bub ein Meerwunder. die anderen sagten, es habe ihm alles nur geträumt, die Tüfelschilbi samt der Fahrt über die Martinswand. Über diese Wand hinaus sei er und sei nicht z'Hudle und z'Fätze? Man schaue nur hinüber, das möge glauben wer wolle.

Das Gerede verdroß den Wisi. Er hatte nie gelogen oder irgend etwas größer gemacht als es gewesen ist. Drum wurmte es ihn, als ihm ein hablicher Bauer sagte, wenn das wahr sei, so solle er's beweisen und noch einmal über die Wand hinaus. Komme er heil davon, gebe er ihm das schöne rote Chueli. — Der Wisi nahm an.

Am Sonntag drauf gingen sie ins Wartauische hinüber auf den St. Martinsberg. Als sie über der Wand standen, hielt ihn der Bauer mit verkrampften Fingern zurück und rief: «Nein, tu's nicht, das ist Gott versucht, da muß einer erfallen!» Der Wisi lachte und sagte: «Du hast scheint es Angst um dein Chueli», reißt sich los und springt in die Tiefe.

Aber dieses Mal haben ihn die Äste nicht gehalten und getragen, hinunter sauste er wie das Wasser im Rhein. Im Wald unten ein Schrei, und ein Widerhall hoch oben in der Kuppe.


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