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Schweizer Märchen Sagen und Fenggengeschichten


Neu mitgeteilt von Curt Englert-Faye

1984

ZBINDEN VERLAG BASEL


Das Kind in der Hostie

Es war einmal ein frommer Priester, der diente Gott dem Herrn alle Tage ohne Falsch und war von solcher Herzenseinfalt, daß alle andern ihn für einen Dümmling hielten. Und doch bewirkte er eben durch diese Einfalt ein Wunder, davon der Ruf weithin erscholl. Nie geschah es, daß er bei seinem Amte etwas versäumte, nie bei seinem Dienste am heiligen Meßopfer. Nur einen Zweifel hegte er in seinem Herzen: er glaubte nicht, daß Wein und Brot bei des Priesters Worten verwandelt würden in den wahren Leib und das wahre Blut unseres Herrn Jesu Christi. Also nahm er einmal Hostie und Wein von der Messe zur Probe mit heim und verschloß beides in einem Schreine, um zu schauen, ob hier die Wandlung sich erwahren werde. Als er am Abend des ersten Tages das Schränklein auf tat, gewahrte er, daß die Stücklein der Hostie, die im Kelche lagen, sich rot gerändert hatten. Dies rühre wohl vom Kelchwein her, dachter er bei sich und schloß einstweilen alles wieder ein; allein am Morgen drauf war alles rot wie Blut geworden. Am zweiten Tage ward es gar geronnen Blut, dann mehr und mehr zu Fleisch und Gliedmaßen und am dritten Tage endlich, siehe da nahm es wirklich eines Kindleins Gestalt an. das bis zum Abend sich in allen Teilen vollkommen ausgeformt. Erschauernd ob dem Ungeheuren, was geschehen und ratlos vor seiner Tat und was daraus noch werden solle, trat der Priester vor seinen Bischof. fiel ihm zu Füßen und bekannte ihm unter heißen Tränen der Reue seine frevelhafte Neugier. Allein der Kirchenfürst. der vordem oftmals schon an dem törichten Menschen Ärgernis gehabt, gab diesmal kein Gehör, sondern schob ihn barsch zur Türe hinaus.

Doch das war allzu jäh und hart getan, und eine höhere Mündigkeit begann zu walten: «Warum», so fragte den Bischof des Nachts im Traume eine Stimme, die nicht von der Erde war, «warum hast du die Reuebeichte jenes Einfältigen



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nicht einmal anhören wollen, und ich, ich habe es nicht verschmäht, so ungeheuerliche Sünde von ihm zu dulden!» In Demut erkannte der Bischof seine Geistespflicht und früh bei Tag schon ließ er gleich den Priester zu sich rufen und hörte seine Rede an. Und alsdann ging's im heiligen Aufzug mit Kreuz und Heiligtümern dem Pfarrhaus zu. Hier fand man in dem Kelche das ausgestaltete Kindlein und trug es gleich in höchster Andacht und Verehrung in die Kirche der Franziskaner.

Da wird es noch heutigen Tages, in Kristall gefaßt, den Gläubigen vorgewiesen. Und alle erblicken wirklich das Knäblein, doch schier ein jeder auf andere Weise: die einen sehen es am Kreuze hangen, die andern schauen den Gegeißelten, einige den Kreuztragenden und einige den Auferstandenen.


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