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Schweizer Märchen Sagen und Fenggengeschichten


Neu mitgeteilt von Curt Englert-Faye

1984

ZBINDEN VERLAG BASEL


Rabiusa

Im Tal Domleschg in Rhätien lebte vor bald tausend Jahren ein Ritter, Rudolf von Rotenbrunn genannt. Er hauste in einem festen Schloß hoch auf einem Felsklotz. zu dessen Füßen der junge Rhein schon seit ewigen Zeiten rauschte. Ringsum im breiten Tal, auf Höhen und Felsköpfen reckten noch andere Burgen trotzig ihre Mauern in die Höhe und drüberhin glänzten die Silberkronen der Alpen.

Der Rotenbrunner war ein rauher und trotziger Ritter. Von seiner hohen Burg aus unternahm er Streifzüge in die benachbarten Täler und überfiel unversehens seine Nachbarn mit Fehde und Raub oder plünderte reiche Kaufleute, die nach Welschland zogen oder mit Waren beladen von dorther kamen. Und wenn ein Angegriffener sich zur Wehr setzte, schlug oder stach er ihn zu Tode. Wegen seines Gebarens war er im ganzen Tal und weitherum im Land gefürchtet. Man mied es, mit ihm in Berührung zu kommen und hütete sich, ihn gar zu reizen.

Zu jener Zeit war aber schon längst das Licht des Christentums selbst in die dunklen Täler der Rheinquellen gedrungen. Aus freiem Willen hatten sich schon vor Jahrhunderten fromme Männer und Ritter aus Irland für die Verbreitung der göttlichen Lehre schwere Entsagungen und Prüfungen auferlegt. In wilden Gegenden bis weit hinein in die Alpentäler hatten sie Kapellen und Klöster gestiftet, welche in jenen Zeiten die einzigen Mittelpunkte und Pflanzstätten der christlichen Kultur waren. Und wo mancherorts früher kein Mensch sich hingewagt. war nun der finstere Wald gelichtet und ein sicherer Zufluchtsort bot Herberge und Schutz.

In der alten Stadt Chur sorgte ein Bischof für Heil und Wohl der Talleute ringsherum und schützte sie sogar nach Kräften vor den Angriffen des räuberischen Adels. Solches gefiel aber dem Rotenbrunner übel, denn er war ein Heide



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geblieben und verachtete den neuen Glauben und das einfache Leben seiner Lehrer und Bekenner. Desto mehr hing er an den Freuden des Lebens und liebte es, in Gesellschaft junger Ritter und Damen in den weiten Wäldern zu jagen oder auf seiner Burg lärmende Feste zu feiern.

Einst ritt er allein durch den großen Wald hinten im Tal, da fand er eine Jungfrau schlafend im Grase liegen, bei deren Anblick ihn Bewunderung und Staunen erfaßte. Ihre schlanke Gestalt lehnte auf einer Böschung, die wohl ehemals den heidnischen Vätern beim Opferdienst als Altar gedient haben mochte. Das von einer Fülle schwarzer Haare umrahmte Haupt von bräunlicher Hautfarbe ruhte auf einem Kissen von weichem Moos. Der Ritter stieg vom Pferd, band es an einen nahestehenden Baum und betrachtete die Schlafende. Noch nie hatte ein Wesen solchen Eindruck auf ihn gemacht. Er wagte nicht, die Jungfrau zu wecken, sondern wartete und schaute sie staunend an. Endlich schlug sie die schwarzen Augen auf, richtete sich empor und schaute um sich. Der Ritter grüßte sie freundlich und bat sie, mit ihm auf sein Schloß zu kommen, denn er hatte Wohlgefallen gefunden an ihr. Die Jungfrau aber sagte zu ihm: «Ich kann dir nicht folgen, ehe meine Feindin besiegt ist, welche in einem Tal jenseits dieser Berge wohnt und auf meine Schönheit. mein heiteres Wesen und meine Art zu leben böse zu sprechen ist. Sie macht mir meine Herrschaft streitig, obwohl diese älteren Ursprungs ist als die ihre.»

Als der Ritter diese Worte vernahm, erklärte er sich sofort bereit, auszuziehen und die Feindin der Schönen gefangen zu nehmen und herzuführen. Die dunkeläugige Waldestochter aber sagte: «Bedenke es wohl, denn es ist schwer zu ihr zu gelangen. Sie hat selbst über die Tiere der Berge Gewalt und es bewachen ihrer drei den Zugang zu ihrer Wohnung. Wenn du jedoch Mut hast, gegen Rabiusa, meine Feindin zu kämpfen, so gebe ich dir drei Mittel dazu. Und solltest du in dringender Gefahr meine Hilfe benötigen,



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so rufe mich bei meinem Namen. Ich heiße Hulda.»

Bei diesen Worten überreichte sie dem Ritter drei vergoldete Pfeile. Sie riet ihm, sich noch eine Weile zur Ruhe zu legen. Während er sich neben sein Pferd ins Moos streckte und entschlief, nahm sie einen Frosch und legte ihn auf die Stirne des Entschlummerten. Die Jungfrau war nämlich zauberkundig, und der Frosch sollte bewirken, daß der Ritter nur an sie denken mußte, und alle Verführungskünste anderer bei ihm fruchtlos blieben. Sodann weckte sie den Schläfer und sagte zu ihm: «Beeile dich nun, damit du zum Ende des Sommers wieder hier bist: denn danach muß ich wieder auf den Julberg zur Feier des Julfestes und es dauert Menschenalter, ehe ich wieder unter Menschen erscheinen darf.»

Der Ritter verabschiedete sich und machte sich auf den Weg. Er folgte dem Rheinstrom und suchte das Tal, in dem Rabiusa wohnte. Oftmals war er dem Lauf frischer Bergströme gefolgt, die aus hundert Tälern sich rechts und links in den Rhein ergießen. Aber immer wieder fand er sich von Felsen und wilden Wäldern eingeschlossen, so daß er unverrichteter Dinge umkehren mußte. Er konnte Tal und Berg, wo Rabiusa wohnen sollte, nicht finden und dachte, seine schöne Waldfee habe ihn getäuscht und ihm einen Possen gespielt. Schon war er im Begriffe, nach seiner Burg zurückzukehren, als ihm einfiel, ihren Namen zu rufen, um die Wahrheit ihres Versprechens zu erproben. Und siehe, kaum hatte er gerufen, so flog ein kleiner geflügelter Drache durch die Luft und wies ihm den Weg ins Tal. Weit in der Ferne erblickte er die hohen Häupter der Berge, welche das Tal umschlossen, und es schien ihm, als leuchte aus dem bläulichen Dunst einer mächtigen, schneebedeckten Fluh deutlich die Gestalt eines Kreuzes hervor. Er ritt noch so weit ins Tal hinein, bis der Abend einbrach. Dann stieg er vom Pferd, ließ es frei weiden und legte sich ins Gras zu Füßen eines gewaltigen Ahornbaumes, der wohl seit Anfang



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der Welt hier gestanden haben mochte. Von dem anstrengenden Ritt ermüdet, fiel er bald in einen tiefen Schlaf.

Der junge Tag säumte kaum die Spitzen der Berge mit seinem Gold, als der Ritter erwachte und sich anschickte, tiefer in das Tal zu dringen. Aber bald schreckte ein fürchterliches Gebrumm sein Pferd, so daß es sich aufbäumte und den Ritter zu Boden warf. Wie er sich wieder aufrichtete, war das Pferd verschwunden, und einige Schritte vor ihm stand ein mächtiger Bär. Zähnefletschend erhob sich dieser und trottete ihm wild brummend entgegen. Rasch entschlossen ergriff der Ritter die Armbrust, legte einen der vergoldeten Pfeile auf und schoß. Ein Hohngelächter erscholl als Antwort. Der Bär war verschwunden, und der Ritter sah den Pfeil im Stamm eine Ahorns zittern. Aber er vermochte nicht, ihn herauszuziehen, und so mußte er den Weg um sein Pferd und einen Pfeil ärmer zu Fuß fortsetzen.

Der Pfad führte ihn jetzt allmählich bergan durch Matten voll herrlich duftender Alpenkräuter und murmelnder Quellen und Bäche, die sich unten im Talgrund in den tosenden Bergstrom ergossen. Immer höher stieg er. Die taufrischen Bergwiesen lagen bald unter ihm, und er kam in Geröllhalden und ins kahle Felsgestein. Die Sonne brannte ihm so heiß auf den Rücken, daß er viel gegeben hätte für einen Trunk aus den klaren Bächen, deren Rauschen von Zeit zu Zeit aus der Tiefe zu ihm hinauf drang.

Während er noch nach einem Trunk lechzte, zeigte sich über ihm auf einem Felskopf eine Gemse, die ihn mit klugen Augen unverwandt anschaute und Anstalten machte, sich auf ihn zu stürzen. Wieder griff er zu Bogen und Köcher und schoß seinen zweiten Pfeil ab; doch das edle Tier setzte in kühnen Sprüngen haldan dem Grat entlang und verschwand. Der Ritter war verzweifelt ob seines Mißgeschicks. denn nun blieb ihm nur noch ein Pfeil, und die Gemse war über alle Berge davon. Allein, er konnte nicht



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anders, er mußte dem Weg folgen, den die Gemse in wenigen Augenblicken zurückgelegt hatte. Mühsam erreichte er endlich die Stelle, wo sie übergesetzt hatte, und da öffnete sich vor ihm ein saftig grüner Talkessel. Eine hohe steile Felswand erhob sich im Hintergrund. Hier führte kein Weg weiter, kein Laut war vernehmbar. Wie er die Wand empor schaute, sah er einen mächtigen Bergadler, der seine weiten Schwingen ausbreitete und sich langsam zur Tiefe senkte. Aus dem Horst hörte er die Schreie des hungrigen Jungen. Der Ritter schoß seinen letzten Pfeil ab. aber auch der verfehlte das Tier und blieb im Felsen stecken. Jetzt wiegte der Adler drohend seine Flügel und spreizte seine Krallen über ihn aus, den Frevler anzugreifen. In dieser Not rief der Ritter den Namen Hulda, der Adler entwich. und es war ihm. als öffne sich vor ihm die Felswand. Auf einer sonnenbeschienenen Alp sah er eine einfache Hütte. Daneben stand ein Kreuz.

Verwundert staunte er über die Verwandlung. Da trat eine liebliche Gestalt aus der Hütte. Blaue Augen voll Engelsmilde blickten aus einem feinen Gesicht und goldblondes Haar fiel ihr auf die Schultern. Die Herrliche schaute ihn an und rief mit einer Stimme, so rein wie Glockenklang: «Ritter, du rufst umsonst nach deiner Zauberin; denn hier hat ihre Macht ein Ende. Nicht freche Sinnenlust, nicht Zauberkünste noch frevles Wesen sollen hier in unserem freien Tal herrschen, sondern Glaube. Liebe und Hoffnung, die drei Tugenden der christlichen Botschaft. Von diesen heiligen Drei prallen alle Künste der Welt ab, wie deine Pfeile von meinen Tieren.»

Als Rabiusa, denn das war sie, mit sanft mahnender Stimme zu ihm sprach, fühlte er die Erinnerung an Hulda verblassen. Sanfte Stimmen, die aus dem Gebirge erklangen, weckten in ihm bisher nie geahnte Empfindungen.

Die Jungfrau in ihrem einfachen Gewand erschien ihm als Engel des Himmels; es däuchte ihn, ihr Haupt sei von



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einem Strahlenkranz umgeben. Sein Leben erschien ihm wie ein wüster Traum, aus dem er jetzt erwacht war. Als nun gar der Bär, die Gemse und der Adler traulich sich der Jungfrau näherten, reute ihn, auf ihre Tiere geschossen zu haben.

Rabiusa bemerkte seine Regungen und sagte: «Ich wußte es wohl, Ritter, daß du noch zu etwas Besserem erkoren bist. als in Unglauben und bösem Tun zu leben. Und da nun dein Herz umgewandelt ist, wirst du auch gutem Rat Gehör geben.» Als der Ritter bejahend nickte, fuhr sie fort: «Zieh denn hin zum Grab des Erlösers, tue dort durch mutige Rittertaten Buße und flehe um Vergebung deiner Sünden. Und kehrst du alsdann zurück, so wirst du in diesem Tal ein neues Leben beginnen. Tue also und Gott wird mit dir sein.»

Nach diesen Worten schloß sich ihm die Felswand und alles war wie zuvor. Der Ritter kam zu sich und ging sinnend von dannen. Nach seiner Burg zurückgekehrt, rüstete er zur Fahrt nach dem Heiligen Land. Er gewann einige seiner früheren Gesellen, daß sie sich ebenfalls entschlossen, von ihrem bisherigen Treiben zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Sie zogen mit ihm fort.

Lange weilten sie im Heiligen Land und kämpften mutig und siegreich gegen die Sarazenen. Danach kehrten sie zurück und begaben sich ins Tal, in welchem Rabiusa wohnte. Die Jungfrau war inzwischen gestorben, aber ihr Andenken lebte in den Herzen vieler Bewohner dieser Gebirgsgegend. Nicht nur hatte sie durch ihr Beispiel und ihren Rat gar viele Menschen auf den rechten Pfad geleitet, Kranke gepflegt und geheilt, sondern auch viele barmherzige Stiftungen zum Wohl der Armen nach Kräften unterstützt.

Der Ritter von Rotenbrunn und seine Gesellen zogen in die Wildnis jenes Tales und siedelten sich dort an. Tag für Tag arbeiteten sie, um die Wildnis zu roden und zu lichten. Zum Gedächtnis Rabiusas errichteten sie eine Kapelle. Mit ihren Schwertern schützten sie fortan die Reisenden. welche auf Saumpfaden nach Italien zogen, und die Hirten und



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Herden vor Räubern und Raubtieren. Den wildschäumenden Bergstrom aber, der das Tal niederstürzt, nannten sie zur Erinnerung an die edle Jungfrau Rabiusa, und so heißt er heute noch.

Aus der Wildnis, in der Rabiusa gewohnt, blühte nach Jahren ein Dorf nach dem andern auf, und das ganze Tal ward nach und nach zum gesegneten Wohnsitz friedlicher und arbeitsamer Menschen.


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