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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


55. M'hemd Lascheischis Flöte

Ein Vater hatte drei Söhne; der älteste und der zweite waren fleißige Burschen, die jeden Morgen zum Acker zogen und dort bis zum Abend arbeiteten. M'hemd Lascheischi, der dritte, war aber ein fauler Mensch. Er war so faul, daß er niemals mit auf den Acker ging. Er pflegte eine lange Tabakspfeife (assumsfn; Plur.: essumsfjen) anzuzünden und daraus ei kif (und auch mit französischem Akzent hrar oder arar genannt, ist Rauchkraut von einem Baum, und ursprünglich nicht etwa Hanf!) zu rauchen. Den ganzen Tag verbrachte er mit Rauchen.

Eines Tages wurden die beiden ältesten über die Nichtstuerei ihres jüngsten Bruders so ärgerlich, daß sie zu ihrem Vater gingen und zu diesem sagten: "Entweder M'hemd Lascheischi, der jüngste unter uns dreien, arbeitet von jetzt ab täglich wie wir und mit uns oder wir, deine ältesten beiden Söhne, die immer fleißig waren, werfen den Jungen heraus." Der Vater erschrak. Die ältesten beiden Söhne gingen auf den Acker. Der Vater rief den Jüngsten und sagte ihm, was seine ältesten Söhne ihm erklärt hatten. M'hemd Lascheischi sagte: "Mein Vater, ich werde es versuchen."

Am anderen Tage ging der Jüngste mit auf den Acker und suchte nach dem Vorbilde seiner beiden Brüder zu arbeiten. M'hemd Lascheischi versuchte es. Nach einigen Stunden warf er sich in das Gras und weinte. Die Brüder sagten: "Heule nicht, arbeite!" Da sprang M'hemd auf und lief nach Hause. Er ging zu seinem Vater und sagte: "Mein Vater, ich habe es versucht, aber ich kann nicht arbeiten wie meine Brüder. Ich würde bald sterben. Ich weiß nicht, warum ich es nicht ebensogut kann wie meine Brüder, aber ich würde eben sehr bald sterben. Ich will in die Ferne gehen. Ich will hier nicht mehr ein Ärgernis sein. Lebe wohl mein Vater!" Der Vater versuchte, seinen jüngsten Sohn von seinem Vorhaben zurückzuhalten. Der Vater bat ihn, die Arbeit noch einmal zu versuchen. M'hemd sagte: "Wenn ich es auch noch einmal versuchen würde, so würde ich doch wieder ebenso unglücklich werden wie heute; ich würde es nicht wieder können und meine Brüder würden mich zuletzt



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doch hinwegjagen. Deshalb gehe ich heute gleich selbst. Lebe wohl, mein Vater!" Der Vater sagte: "So nimm wenigstens einiges Geld mit." M'hemd sagte: "Ich danke dir. Ich habe aber bisher nichts verdient und will deshalb auch meinen Brüdern nichts wegnehmen." M'hemd Lascheischi ging.

M'hemd Lascheischi ging seine Straße hin. Er kam am gleichen Morgen noch in eine andere Gegend (heißt Gegend eines anderen Stammes) und begegnete zwei Burschen, die dieselbe Richtung eingeschlagen hatten. Die Burschen sagten zu ihm: "Wir haben kein besonderes Ziel. Wir können also, wenn es dir recht ist, zusammen gehen." M'hemd sagte: "Ich habe gar kein Ziel; ich kann mit euch gehen, wohin ihr wollt." Sie gingen zu dreien weiter.

Als es Essenszeit war, setzten sie sich. Die beiden fremden Burschen sagten: "Wir wollen essen!" M'hemd sagte: "So eßt ihr." Er zog seine Pfeife und Rauchkraut hervor, setzte sich ein wenig abseits hin und rauchte. Die fremden Burschen sagten untereinander: "Dieser M'hemd scheint kein Essen bei sich zu haben. Wir wollen mit ihm teilen." Sie riefen ihn heran, gaben ihm und er aß mit ihnen. Dann brachen sie wieder auf.

Nach einiger Zeit kamen die drei Burschen an einen Fluß, über den ein Bootsmann die Leute in einem Kahne brachte. Die beiden fremden Burschen zogen ihre Münze aus der Tasche, setzten sich in den Kahn und wollten sich übersetzen lassen. Sie sagten zu M'hemd: "Kommst du nicht weiter mit uns?" M'hemd Lascheischi sagte: "Gewiß komme ich weiter mit, wir werden uns auf der anderen Seite des Flusses wieder treffen. Denn ich werde über den Fluß schwimmen." Die fremden Burschen sagten untereinander: "Dieser M'hemd scheint also auch kein Geld bei sich zu haben. Wir wollen mit ihm teilen." Sie hießen den Bootsmann warten, zahlten für M'hemd die Münze, M'hemd Lascheischi stieg ein und dann fuhren alle drei auf das andere Ufer hinüber.

Am anderen Ufer gingen sie noch ein gutes Stück weit. Dann sagten die beiden fremden Burschen: "Hier werden wir nun arbeiten." M'hemd Lascheischi sagte: "Dann lebt wohl; ich ziehe weiter, denn ich kann die Ackerarbeit nicht verrichten." Die beiden fremden Burschen sagten: "Wenn du die Ackerarbeit nicht verrichten kannst, so komm immerhin mit uns. Wir wollen zu zweien schon genug verdienen, und du kannst derweilen daheim kochen und das Haus in Ordnung halten." M'hemd Lascheischi sagte: "Damit bin ich einverstanden und ich will das sehr gern übernehmen. Ich



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fürchte nur, ich werde dabei mehr verzehren, als ihr verdient. Immerhin will ich es erst einmal versuchen."

Die beiden fremden Burschen gingen nun jeden Tag zur Arbeit und verdienten dadurch ein hübsches Stück Geld. M'hemd Lascheischi führte den Haushalt und kochte und rauchte seine Pfeife. Er verbrauchte aber allein mehr Geld, als die Hälfte von dem ausmachte, was die beiden fremden Burschen verdienten. Das merkten die beiden fremden Burschen nicht. Aber M'hemd Lascheischi sagte bei sich: "Diese beiden Burschen jagen mich nicht fort wie meine Brüder. Ich will sie deswegen nicht bestehlen, sondern will selbst etwas tun, zu ihrem Wohlstand beizutragen. Ich möchte wissen, was dabei herauskommt, wenn ich einmal etwas versuche."

Am anderen Tage ging M'hemd Lascheischi mit einer Angel an den Fluß herab und warf die Angel aus. Er warf sie aus und zog sie langsam wieder zurück. Es hatte kein Fisch angebissen. Er warf sie zum zweiten Male aus und zog sie langsam wieder zurück. Es hatte wieder kein Fisch angebissen. Er warf die Angel zum dritten Male aus und zog sie zurück. Da wurde die Schnur etwas zurückgehalten. M'hemd zog sie vorsichtig empor. Er hatte einen kleinen Fisch gefangen. M'hemd Lascheischi sagte: "Das ist kein sehr großer Fang. Aber es ist das erste, was ich in diesem Leben verdient habe." Er nahm den kleinen Fisch, hängte ihn sich über die Schulter und ging damit zum Hause der Burschen zurück.

Unterwegs begegnete ihm ein Jude. Der Jude sah den Fisch. Der Jude rief M'hemd an und sagte zu ihm: "Ich will dir den Fisch abkaufen. Was willst du dafür haben?" M'hemd sagte: "Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen so wertvollen Fisch gefangen; ich kann ihn dir deswegen nicht billig lassen." M'hemd meinte das so, daß der Fisch für ihn so wertvoll war, weil er das erste Ergebnis der ersten Arbeit seines ganzen Lebens war. An etwas anderes dachte er nicht. Der Jude sagte aber: "Daß dies ein sehr wertvoller Fisch ist, weiß ich, und ich würde einen so jämmerlich kleinen Fisch überhaupt nicht kaufen, wenn es nicht etwas ganz Besonderes mit ihm wäre. Ich biete dir deshalb fünfundzwanzig Goldstücke." M'hemd Lascheischi war ärgerlich, weil er meinte, der Jude spotte über ihn und sagte: "Du machst dich über mich lustig. Sage mir den wahren Preis." Der Jude dachte, M'hemd wisse vielleicht, was der eigenartige Fisch wirklich wert sei und sagte: "Dann will ich dir alles bieten, was ich bei mir habe." Er zog eine Tasche mit Goldstücken hervor, zählte M'hemd vor, daß es fünfzig waren, hielt sie ihm hin



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und sagte: "Du siehst, ich gebe dir alles, was ich habe." M'hemd sah, daß es Ernst war. Er gab dem Juden den Fisch und steckte die fünfzig Goldstücke ein.

M'hemd Lascheischi eilte nach Hause. Die fremden beiden Burschen kamen gerade auch an und fragten M'hemd: "Nun, was hast du heute gemacht?" M'hemd sagte: "Was denkt ihr, was ich gemacht habe? Gearbeitet habe ich, und ich habe das erstemal in meinem Leben etwas verdient. Und wieviel denkt ihr, daß ich verdient habe?!" Die beiden fremden Burschen konnten es nicht raten, bis M'hemd in die Tasche griff und ihnen die fünfzig Goldstücke vorzählte. Danach berichtete er, wie er zu dem Reichtum gekommen war und teilte dann die Goldstücke.

Einige Zeit lebte M'hemd Lascheischi von den fünfzig Goldstücken des Juden, und da sie sich nichts abgehen ließen, so war der Reichtum bis auf zwei Goldstücke verbraucht. Als es soweit gekommen war, ergriff M'hemd Lascheischi eines Morgens wieder seine Angel und ging an den Fluß, um zum zweiten Male zu arbeiten.

M'hemd Lascheischi warf wieder zweimal die Angel aus, ohne etwas zu fangen. Dann warf er sie zum dritten Male und zog wie am ersten Tage einen kleinen Fisch heraus. Er ging mit dem kleinen Fisch wieder der Stadt zu und begegnete abermals dem Juden. Der Jude blieb stehen, sah den kleinen Fisch M'hemds und sagte: "Ich will dir den Fisch wie das erstemal für fünfzig Goldstücke abkaufen." M'hemd sagte bei sich: "Mit meinem kleinen Fisch muß es eine besondere Bewandtnis haben, denn noch niemals hat jemand gehört, daß dieser Jude für eine Sache mehr zahlt, als sie wert ist." Er sagte: "Lieber Jude, ich danke dir für dein freundliches Angebot. Ich will aber den Fisch heute selbst behalten. Wenn ich meinen nächsten Fisch fange, können wir ja wieder miteinander verhandeln."

M'hemd Lascheischi grüßte den Juden und ging weiter. Nach einiger Zeit sagte er: "Der Fisch ist zwar sehr klein, aber er ist sehr schwer, ich will doch einmal sehen, was darin ist. Er schnitt also den Fisch auf und fand darin zwei Beutel, von denen der eine ganz mit Goldstücken, der andere mit Silberstücken gefüllt war.

M'hemd lief nach Hause. Er kam gerade mit den fremden beiden Burschen zusammen an. M'hemd sagte: "Ich habe heute zum zweiten Male gearbeitet. Was denkt ihr, was ich heute verdient habe ?" Die fremden beiden Burschen konnten es nicht sagen. M'hemd zeigte seine beiden Beutel, von denen der eine mit Goldstücken, der andere mit Silberstücken gefüllt war. Die fremden beiden Burschen sagten:



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"Wie bist du heute dazu gekommen ?" M'hemd erzählte es. Die beiden Burschen sagten: "M'hemd, du lügst! Du hast das Gold beim Fürsten gestohlen." Da zeigte ihnen M'hemd, wie die Beutel im Fisch gelegen hatten. Darauf glaubten sie es.

M'hemd kaufte nun eine Farm in der Nähe. Er rief seine beiden Kameraden herbei und sagte: "Ihr habt für mich seinerzeit gesorgt. Jetzt will ich für euch sorgen. Diese Farm habe ich gekauft. Nehmt nun die Farm in Arbeit. Ich lasse euch auch mein Gold zurück, damit ihr die Farm verwalten könnt. Ich selbst will noch etwas in der Welt herumziehen." Damit nahm er von seinen Freunden Abschied, ergriff seine Pfeife, steckte die Angel und noch fünfzig Goldstücke ein und zog von dannen.

M'hemd ging erst in die Stadt und kaufte skram (ein Betäubungsmittel) ein und ließ sich von einer alten Frau dies in ein Brot backen. Das Brot steckte er in die Tasche. Dann ging M'hemd mit seiner Angel an den Fluß und fischte. Beim dritten Wurfe zog er wieder einen Fisch heraus. Mit dem Fisch ging er die Straße zurück und traf den Juden. Der Jude besah den Fisch und sagte: "Den Fisch kaufe ich nicht. Komm aber mit mir zum Essen." Der Bursche sagte: "Ich denke, wir essen gleich hier. Ich will heute noch weit gehen! Gib du mir dein Brot und iß du meines." Der Jude war einverstanden. Kurze Zeit, nachdem der Jude M'hemds Brot verzehrt hatte, fiel er in Ohnmacht. Darauf untersuchte M'hemd die Taschen des Juden und fand darin eine kleine wunderschöne Flöte (sasphar; Plur.: tispharin). M'hemd sagte: "Das also war der Inhalt des ersten meiner Fische. Es muß eine besondere Flöte sein und ich will sie dem Juden wieder abkaufen." Er steckte die Flöte in seine eigene Tasche und tat in die des Juden fünfzig Goldstücke. Er ließ den Juden liegen und ging von dannen. —

Nachdem M'hemd Lascheischi mit der Flöte in der Tasche eine lange Zeit gegangen war, kam er an ein Wasser, das gehörte einem Fürsten. Der Fürst hatte einen Wächter angestellt, der hatte darauf zu achten, daß niemand aus dem Wasser tränke. M'hemd Lascheischi ging zu dem Wärter und sagte: "Rauche einige Züge aus meiner Pfeife. Der kif (Rauchkraut) ist sehr gut. Mittlerweile erlaubst du mir, daß ich mich an dem Wasser etwas erfrische, mich ausruhe und dabei auf meiner Flöte etwas blase." Der Wärter war einverstanden, ergriff die Pfeife und begann zu rauchen.

M'hemd Lascheischi setzte sich aber an den Rand des Brunnens und begann auf der Flöte zu blasen. Er hörte selbst, daß die Töne



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dieser Flöte andere waren als die irgendeiner anderen Flöte. Die Vögel, die in den Bäumen gezwitschert hatten, verstummten sogleich. Die Fliegen hörten auf zu brummen und setzten sich hin. Die Fische steckten die Köpfe aus dem Wasser. Der Wärter ließ die Pfeife M'hemds ausgehen, und in der Stadt hörte es die Tochter des Fürsten.

Die Tochter des Fürsten kam zu M'hemd Lascheischi und bat ihn: "Spiele mir noch etwas auf der Flöte vor." M'hemd Lascheischi sagte: "Das werde ich nicht tun." Die Tochter des Fürsten sagte: "Du hast mir mit deinem Spiel eine so große Freude bereitet, daß ich dir dafür danken will. Ich bitte dich, bei mir zu essen." M'hemd Lascheischi sagte: "Ich will gerne bei dir essen, aber auf meiner Flöte kann ich jetzt nicht noch einmal spielen."

Der Bursche ging mit zu der Tochter des Fürsten. Die Tochter des Fürsten setzte ihm viele gute Speisen vor. Der Bursche aß. Die Tochter des Fürsten mischte ein Schlafmittel in das letzte Gericht. M'hemd Lascheischi genoß es und fiel in Schlaf. Sogleich trat die Tochter des Fürsten zu ihm heran und untersuchte seine Taschen. Sie fand die Flöte und warf sie schnell zum Fenster heraus, so daß sie unten auf den Abfallhaufen zwischen das Unkraut fiel. Dann ging sie aus dem Zimmer.

M'hemd Lascheischi schlief lange Zeit und wachte dann auf. Er erinnerte sich, daß er mit der Tochter des Fürsten gegessen hatte und dann eingeschlafen war. Er griff sogleich in die Tasche, in die er die Flöte gesteckt hatte und fühlte, daß die Flöte ihm genommen war. Er erhob sich und trat aus der Kammer. Er traf einen Sklaven, den fragte er nach der Tochter des Fürsten. Der Sklave sagte: "Was hast du Bursche nach der Tochter des Fürsten zu fragen ?" Er rief andere Sklaven. Die Sklaven warfen M'hemd Lascheischi aus dem Palast.

M'hemd Lascheischi ging in die Stadt hinunter. Er fand niemand, der ihm etwas zu essen gab. Darauf ging er wieder in den Wald, schlug Holz und verkaufte es. Er wurde Holzschläger. Als er in dieser Stadt nach einiger Zeit kein Holz mehr absetzen konnte, zog er in eine andere und erwarb sich auf gleiche Weise seinen Lebensunterhalt.

Sobald M'hemd Lascheischi aus dem Hause des Fürsten herausgeworfen war, ging die Tochter hinab auf den Hof und suchte zwischen den Blättern, die auf dem Unrathaufen gewachsen waren, die Flöte auf. Sie trug die Flöte in ihre Kammer und begann sie zu blasen. Das klang so schön, daß alle Sklaven die Arbeit abbrachen,



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daß die Maulesel im Stall den Kopf hoben, daß die Katzen auf den Dächern stehenblieben und daß der Vater des Mädchens, der Fürst, gelaufen kam und bat: "Schenke mir diese Flöte. Ich muß die Flöte haben." Das Mädchen sagte: "Die Flöte habe ich selbst so gern, daß ich sie nicht weggebe. Die Flöte habe ich so schwer erworben, daß ich sie behalten muß." Der Fürst sagte: "Ich muß die Flöte haben." Die Tochter sagte: "Ich will dir die Flöte nicht geben." Der Fürst stritt sich mit seiner Tochter.

Am anderen Tage blies die Tochter wieder die Flöte. Der Vater wurde noch zorniger als am Tage vorher, denn die Tochter verweigerte die Übergabe der Flöte ebenso hartnäckig wie am Tage vorher. Die Tochter spielte alle Tage auf der Flöte, und der Fürst wurde jeden Tag zorniger.

Eines Tages geriet der Fürst so in Zorn, daß er einige seiner Diener zu sich rief und ihnen befahl: "Reitet mit meiner Tochter in den Wald und tötet sie. Bringt mir als Beweis, daß ihr sie umgebracht habt, ihren kleinen Finger zurück!" Die Leute ritten mit der Tochter des Fürsten in den Wald und sagten zu ihr: "Dein Vater hat uns befohlen, dich zu töten, wir müssen es tun." Sie zogen ihre Messer hervor und wollten die Tochter des Fürsten totstechen. Sie aber ergriff ihre Flöte und begann zu blasen. Da standen die Leute sogleich still und wagten es nicht, ihr Vorhaben auszuführen. Die Tochter setzte die Flöte ab und sagte: "Schneidet mir den kleinen Finger ab." Die Leute schnitten ihr den kleinen Finger ab. Die Tochter des Fürsten sagte: "Nun kehrt sogleich zu meinem Vater zurück, bringt ihm den Finger und sagt ihm, ihr hättet mich getötet. Schwört ihr mir nicht, dies sogleich tun zu wollen, so werde ich nochmals die Flöte ansetzen, euch etwas vorspielen und euch dann befehlen, euch selbst zu töten. Ihr wißt, daß ihr dies dann tun werdet." Da befiel die Leute große Angst. Sie schworen sogleich, dem Fürsten alles melden zu wollen, wie die Tochter es befehle und eilten so schnell wie möglich aus dem Walde.

Die Tochter des Fürsten fürchtete sich. Sie stieg also aus Furcht alsbald auf einen Baum und versteckte sich. Nachdem sie einige Zeit dort oben gesessen hatte, kam ein Reiter ganz dicht an dem Baum, auf dem die Tochter des Fürsten saß, vorbeigeritten. Die Tochter des Fürsten nahm die Flöte heraus und begann zu blasen. Sogleich hielt der Reiter unten an. Die Tochter des Fürsten setzte die Flöte ab. Der Reiter schaute zum Baume hinauf. Er sagte: "Was ist dort oben?" Die Tochter des Fürsten sagte: "Ein einsames Mädchen."



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Der Reiter sagte: "Willst du mit mir aus dem Walde kommen ?" Das Mädchen sagte: "Ja, ich will mit dir kommen, wenn du damit einverstanden bist, daß wir die Kleider wechseln, so daß du als Mädchen gehst und ich als Mann reite." Der Reiter sagte: "Ich bin einverstanden." Die Tochter des Fürsten stieg herab. Sie legte die Kleider ab. Sie legte die Kleider des Mannes an. Sie steckte die Flöte zu sich. Sie sagte : "Nun laß mich das Pferd besteigen und dann folge du mir!" Der Mann war einverstanden. Die Tochter des Fürsten stieg in der Kleidung des Mannes auf das Pferd und ritt eine Weile langsam dahin, so daß der Mann dicht hinter ihr gehen konnte. Die Tochter der Fürsten stieß plötzlich dem Pferde die Hacken in die Weichen. Das Pferd sprang auf. Der als Frau verkleidete Mann rief: "Halt an!" Das Mädchen rief: "Ich bin nun einmal im Reiten!" Sie ritt so schnell davon, daß der Mann ihr nicht zu folgen vermochte.

Am Abend kam das verkleidete Mädchen an ein einsames Haus, das im Walde stand. In dem Haus wohnte eine alte Frau, die war böse und hatte seit vielen Jahren kein anderes Wort als ein schelten- des ausgesprochen. Sie war so schlimm, daß niemand sich in die Nähe ihres Hauses wagte. Das verkleidete Mädchen hielt mit dem Pferde bei dem Hause an und zog die Flöte heraus. Das Mädchen blies. Da schwiegen im ganzen Walde die Vögel, die Quelle hörte auf zu rieseln, die Blätter hörten auf zu rauschen und die alte böse Frau legte das Ohr an die Ritze der Haustür. Das verkleidete Mädchen setzte die Flöte ab. Die alte Frau kam aus dem Hause. Die alte böse Frau lachte und sagte: "Du guter Mann, kann ich dir einen Dienst erweisen ?"Das verkleidete Mädchen sagte: "Bring mir schnell ein wenig zu essen und dann zeige mir den Weg zu der nächsten Stadt." Die böse Alte lief, so schnell sie konnte. Sie brachte das Beste, was sie zu essen hatte, heraus. Sie fragte, ob noch etwas vonnöten sei und eilte dann voraus, um dem verkleideten Mädchen den Weg aus dem Walde und zur nächsten Stadt zu zeigen. Am Rande des Waldes bedankte sich die Alte, die seit vielen Jahren immer nur gescholten hatte, bei dem verkleideten Mädchen für das Flötenspiel und bat es herzlich, einmal wiederzukommen. Die alte Frau sagte: "In der Stadt, die dort liegt, wohnt ein schlimmer Fürst, der alle seine Söhne hat töten lassen; so schlimm ist er. Hüte dich vor ihm."

Das als Mann verkleidete Mädchen ritt in die Stadt. Das Mädchen ritt bis zum Hause des Fürsten und setzte die Flöte an den Mund.



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Das Mädchen blies. Sogleich schwiegen alle Menschen und Tiere. Die Mauern der Häuser neigten sich, um zu lauschen. Der Wind hörte auf zu wehen. Der Fürst aber begann zu weinen und zu schluchzen. Das verkleidete Mädchen setzte die Flöte ab. Da eilte der Fürst an das Fenster und rief über den Platz, daß alle Leute es hörten: "Dieser Mann dort soll mein Sohn und euer Fürst werden. Ich weiß jetzt, daß ich sehr schlecht war. Komm schnell herauf, du guter Mann, daß ich dich noch auf meinen Platz setzen kann, denn ich werde jetzt sogleich sterben, weil ich meine Schlechtigkeit erkannt habe."

Als die Leute das hörten, wurden sie alle sehr glücklich. Viele kamen herauf und standen daneben, als der schlimme Fürst, auf seinem Lager sich streckend, den verkleideten Mann bat, ein besserer Fürst zu werden, als er selbst es gewesen sei. Die Leute waren dabei, als der alte Fürst dann starb. Die Leute waren einverstanden, daß das verkleidete Mädchen als angenommener Sohn des Verstorbenen der Fürst der Stadt wurde. Denn kein Mensch ahnte, daß das Mädchen gar nicht ein Mann, sondern ein Mädchen und die Tochter eines anderen Fürsten war.

Die Tochter des Fürsten lebte einige Jahre als Fürst, ohne daß die Bewohner der Stadt es gemerkt hätten, daß ihr Fürst kein Mann, sondern ein Mädchen war.

In der gleichen Stadt lebte aber auch M'hemd Lascheischi. Um das tägliche Brot zu verdienen, mußte er jeden Tag in den Wald gehen und Holz schlagen und Holz herbeischleppen. Und dann kam es sogar noch vor, daß die Leute das Holz, das er brachte, mit schlechter Münze bezahlten, so daß er auch noch Hunger litt. Eines Tages nun blieb ein wohlhabender Mann ihm den ganzen Betrag schuldig und ließ ihn, als er das Geld für das Holz verlangte, auch noch schlagen und herausjagen. Da sagte M'hemd Lascheischi zu sich: "Das ist so, daß ich meine Klage bei dem jungen Fürsten vorbringen werde, der ein sehr gerechter Mann sein soll." M'hemd Lascheischi ging also zu der als Mann und Fürst gekleideten Tochter des Fürsten jener anderen Stadt. Und als er vor den Fürsten trat und seine Klage vorbrachte, erkannte er nicht, vor wem er stand.

Die verkleidete Tochter des Fürsten erkannte ihn aber und sie gewahrte mit Schrecken, wie abgezehrt und schwach M'hemd Lascheischi ausschaute. Das als Fürst verkleidete Mädchen ließ sich aber alles vortragen. Es erkannte die Schuld des reichen Mannes gegenüber dem armen Holzschläger an und entschied danach. Als die



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Verhandlung beendet war, ließ das als Fürst verkleidete Mädchen den Holzschläger in das eigene Haus führen, ließ ihn baden, kleiden, ließ ihm reichliches Essen vorsetzen und ein gutes Lager bereiten. Einige Tage lebte M'hemd Lascheischi sehr gut so und sagte: "Ich möchte wohl wissen, wie ich dazu komme, so ausgezeichnet gehalten zu werden." Eines Abends, nachdem die Sonne untergegangen war, ließ das als Fürst verkleidete Mädchen M'hemd Lascheischi rufen und hieß dann alle Leute herausgehen.

Als beide allein waren, sagte M'hemd Lascheischi: "Sage mir, bitte, weshalb du mich, den armen Holzschläger, bisher so ausgezeichnet hast leben lassen." Das als Fürst verkleidete Mädchen sagte: "Das tat ich, weil ich dich töten lassen muß und ich dich vorher noch einmal das habe auskosten lassen wollen, was du eigentlich immer solltest genießen können." M'hemd Lascheischi sagte: "So willst du mich töten lassen ?" Das als Fürst verkleidete Mädchen sagte: "Ja, Sich will es." M'hemd Lascheischi sagte: "Mit welchem Recht und mit welcher Macht willst du mich töten lassen?" Das als Fürst verkleidete Mädchen sagte: "Sieh, ich habe es erreicht, daß mitten am Tage alle Menschen und Tiere schwiegen. Ich habe es mit dem Blasen meiner Flöte erreicht, daß die Mauern der Häuser sich neigten und, lauschten. Ich habe es erreicht, daß der Wind aufhörte zu wehen und daß der alte schlechte Fürst dieses Landes aus Gram über seine Schlechtigkeit starb und, um wenigstens noch ein Gutes zu tun, mich zu seinem Sohne ernannte und zum Fürsten einsetzte. Das ist das Recht und die Macht, mit der ich dich jetzt töten lassen werde."

M'hemd Lascheischi dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: "Ich habe das alles sagen und erzählen hören. Ich will dir das Recht und die Macht zusprechen, mich töten zu lassen, wenn es mir nicht gelingt, mit derselben Flöte, die du damals bliesest, noch mehr zu erreichen. Leihe mir also die Flöte!" Das als Fürst verkleidete Mädchen zog die Flöte heraus und gab sie M'hemd Lascheischi. Im gleichen Augenblick erkannte er die Flöte und im gleichen Augenblick erkannte er die Tochter des Fürsten.

M'hemd Lascheischi sagte das aber nicht, er trat nur an das Fenster, setzte die Flöte an den Mund und begann zu blasen. Da wachten in der ganzen Stadt und weit draußen im Lande alle Menschen und Tiere auf und ihre Herzen schlugen laut. Da neigte der Mond, der hoch am Himmel stand, sich mit der ganzen Schar der Sterne zur Erde hinab. Da erhob sich mitten aus der Nacht leuchtend, rot und



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in gewaltiger Größe die Sonne empor, um zu lauschen. Da sank das als Fürst verkleidete Mädchen vor M'hemd Lascheischi nieder und küßte ihm die Füße.

M'hemd Lascheischi setzte die Flöte ab. Das als Fürst verkleidete Mädchen erhob den Kopf und sagte bittend: "M'hemd Lascheischi, ich bitte dich, nimm mich zur Frau, werde du der Fürst und laß nie wieder einen anderen, auch mich nicht, die Flöte blasen!"

So wurde es.


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