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Schweizer Märchen Sagen und Fenggengeschichten


Neu mitgeteilt von Curt Englert-Faye

1984

ZBINDEN VERLAG BASEL


Der blaue Vogel

Es war einmal ein armer Mann, der machte Vogelbauer. Aber bei dem Gewerbe verdient man grad soviel, daß man nicht ganz verhungert. Eines Tages kehrte er vom Jahrmarkt in Pruntrut zurück und hatte wieder kein Stück verkauft, und doch hatte er so schöne Käfige feil. «Nein», sprach er unterwegs zu sich selber, «jetzt sitz ich ein wenig ab und



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ruhe mich aus von dem Weg, den ich vergeblich gemacht habe und auf der nächsten Waldblöße saß er unter einer alten Buche ab und beschaute betrübt seinen leeren Geldbeutel und fing vor Kummer zu klöhnen und zu stöhnen an; denn er wußte nicht, was er anfangen sollte. Da kam plötzlich ein winzigkleines Männlein auf ihn zu, nicht viel größer als ein Tannenzapfen, und sagte: «Tu doch einen Vogel in deinen Käfig, dann kannst du ihn sicher verkaufen!» «Ja, das ist schon gut und recht», antwortete der Mann, «ich hab aber keinen und weiß auch nicht, wie ich einen bekommen soll». und stöhnte weiter. Da pfiff das Männlein, und ein schöner blauer Vogel kam herbeigeflogen. Er fing ihn und steckte ihn in den Käfig des armen Mannes und sagte: «Schau her, guter Mann, man sieht's den Federn an, was für ein Vogel das ist. Hör zu: Wenn dir irgend etwas fehlt, so brauchst du bloß zu sagen:» «Blauer Vogel, tu, was du sollst!» Aber allemal, wenn er dir verschafft, was du begehrst, dann vergiß nicht zu sagen: «Heiliger Espontin, von Herzen danke ich dir!» Und damit war das Männlein verschwunden. Der blaue Vogel in dem Käfig aber sang so schön, daß es den Mann deuchte. so schön hab er noch keinen singen hören, und es war ihm ganz warm ums Herz.

Aber da er heftigen Hunger hatte, wollte er gleich erproben, was der seltene Vogel könne, und er sprach: «Blauer Vogel, tu, was du sollst!» Und siehe, da stand auf der Stelle ein reich gedeckter Tisch vor ihm mit den leckersten Speisen und feinsten Weinen. Er aß zuerst die Suppe und das Gesottene samt der Zukost und trank einen guten Schluck dazu. Dann sagte er: «Heiliger Espontin, von Herzen danke ich dir!» Dann machte er sich an den Braten und das Gemüse und trank wieder einen guten Schluck dazu. Dann sagte er wieder: «Heiliger Espontin, ich danke dir von Herzen!» Zuletzt verzehrte er den Nachtisch, köstliche Früchte und süßen Kuchen. Und wie er nun die ganze Mahlzeit beendet



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hatte, da rief er zum dritten Mal hocherfreut: «Heiliger Espontin, von Herzen danke ich dir!» Dann hängte er den Käfig mit dem Vogel an seinen Stock über die Schulter und nahm den Weg wieder unter die Füße, und bald kam er in das nächste Dorf. Da ging alles drunter und drüber. Alle Leute liefen in ihren Sonntagskleidern hin und her; es war ein Gewimmel wie in einem Ameisenberg. Der Mann stand still und stellte seinen Käfig ab und schaute dem Treiben eine Weile zu. Dann fragte er eine Frau, ob hier Kilbi sei. «Nein», sagte die Frau, «du kommst wohl auch von auswärts, daß du nicht weißt, daß wir hier heute das Maifest feiern. Da wird allemal das schönste Mädchen vom Dorf als Maienkönigin im Umzug durch's ganze Dorf geführt. Nun aber finden wir kein Kleid, das dem Mädchen paßt, und drum läuft alles von Haus zu Haus, um eines zu suchen.» «Hm», dachte der Mann bei sich, «mein Vogel wird ja da wohl helfen können!» —und er sagte: «Blauer Vogel, tu, was du sollst!» Und im gleichen Augenblick lag das schönste Kleid der Welt da, wie es jeder Prinzessin recht gewesen wäre. So prächtig war noch nie eine Maikönigin angetan gewesen. Das ganze Dorf war hocherfreut, und die Leute wußten nicht, wie sie dem Manne danken sollten, und sie bewirteten ihn aufs beste.

Als er weiter wanderte, kam er nach einer Weile in ein Schloß. Der Herr des Schlosses, ein junger Graf, wollte eben seine Braut heimführen, die schönste Jungfrau weit und breit. Aber es war alles wie verhext: sie konnte ihre Kleider nicht finden: das eine Mal fehlte die Bluse, das andere Mal der Rock, und als sie endlich die Strümpfe an hatte, so mußte sie die Schuhe noch lange suchen. Das ganze Schloß war z'underobsi, die Lakeien und Zofen rannten treppauf, treppab durch alle Räume von Keller bis zum Estrich. Aber es half alles nichts. Da dachte der Käfigmacher wieder: «Den Leuten ist bald geholfen!» und er sagte: «Blauer Vogel, tu, was du sollst!» Und kaum gesagt, war alles beieinander



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und die Braut stand bereit in vollem Putz und Staat. Aber nun fand der Bräuter, seine Braut sei viel schöner gekleidet als er, und der blaue Vogel mußte auch ihm erst noch ein prächtiges Gewand schaffen von Samt und Seide und mit köstlichen Spitzen dran. Jetzt konnten die Brautleute zur Kirche fahren. Der Mann aber wurde zur Hochzeit eingeladen.

Nach dem Hochzeitsmahl wollte er weitergehen. Doch der Graf hielt ihn zurück und fragte ihn, ob ihm sein blauer Vogel nicht feil sei, und er bot ihm eine große Summe Geldes. Zuerst wollte der Mann nichts von dem Handel wissen. denn einen solchen Vogel bekomme er niemals wieder. Doch als der Graf ihm alle seine Güter und sein ganzes Geld dafür bot, da sagte er, er wolle es sich bis zum Abend überlegen und ihm dann Antwort geben. Aber der Schlaukopf wußte schon wie er's machen wolle. «Laß mir den Vogel und behalt du die Federn,» dachte er bei sich und ging in den Wald hinaus und sagte: «Blauer Vogel, tu, was du sollst!» Und siehe, da kam ein anderer blauer Vogel herbeigeflogen, der dem ersten ganz gleich sah. Den nahm er und tat ihn in den Käfig und den rechten verbarg er in seinem Sack. Dann ging er aufs Schloß zurück und sagte dem Grafen, ja, er könne den Vogel haben, doch müsse er ihm, um den Preis vollzumachen, zu allem andern auch noch seine junge Frau dafür geben. Das deuchte den Grafen denn doch zuviel geheischen. Aber, dachte er bei sich, hab ich erst den Vogel, dann kann ich mir meine Frau und Gut und Geld ja gleich wieder zurückwünschen. Und so gab er alles für den blauen Vogel im Bauer, alle seine Güter, sein ganzes Geld und seine Frau dazu. Und damit ging der Käfigmacher fort.

Aber sooft der Graf auch sagte: «Blauer Vogel, tu was du sollst!» — es half nichts, denn er hatte ja nicht den rechten blauen Vogel. Und wie er seine Frau nicht wiederbekam, da härmte er sich so, daß er noch in derselben Nacht starb



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vor Gram. Der Narr, warum hat er auch sein Liebstes weggegeben!

Und nun wurde der arme Käfigmacher ein reicher Schloßherr und nahm die junge Gräfin zur Frau, und sie haben noch lange Jahre glücklich und in Freuden miteinander gelebt.


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