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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


54. Das Grauen

Ein Mann verheiratete sich und seine Frau ward die Mutter eines Sohnes. Dieser Sohn blieb der einzige und mehr Kinder hatte der Vater nicht. Als der Junge herangewachsen, kam er zum Vater und bat ihn um ein Gewehr, weil er gern auf die Jagd gehen wolle. Der Vater schenkte es ihm und warnte ihn vor den Gefahren des Gewehres und der Jagd. Und der Sohn versprach alle Vorsicht.

Der Sohn lag der Jagd mit großem Eifer ob. Er hatte anfangs gute Erfolge und brachte alle Tage Beute mit nach Hause. Nach und nach nahm die Beute aber ab und zuletzt ward die Jagd so gut wie ergebnislos. So ging der Sohn denn eines Tages zu einem erfahrenen älteren Manne und fragte ihn, was er tun könne, um wieder einige Beute zu gewinnen. Der riet ihm, sich über und über mit Federn zu bestecken, sich auf die Futterplätze der Vögel zu begeben und dort die Vögel mit den Händen zu greifen. Der Bursche bedankte sich für den Rat. Er besteckte sich über und über mit Federn, ging dann zum Futterplatz der großen Vögel, und wirklich griff er bald einige der größten Tiere. Dieses Spiel erfreute ihn so, daß er, als es Nacht wurde, nicht heimkehrte, sondern nachts auch noch draußen blieb.

Als der Sohn abends und nachts noch nicht heimkam, sagte die Mutter zum Vater: "Höre, es macht mir Sorge, daß unser Sohn noch nicht von der Jagd nach Hause gekommen ist. Zwar hat er sein Gewehr nicht mitgenommen, so daß ihm also mit diesem nichts zugestoßen sein kann. Vielleicht ist er aber gerade dadurch in Not gekommen, daß er ohne Waffe ist." Der Vater lachte die Mutter aus und sagte: "Ihr Frauen habt immer Angst. Ich will aber, wenn es Morgen wird, hingehen und nachsehen, wo unser Bursche steckt."

Als es noch dunkel war, nahm der Vater das Gewehr, das er seinem



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Sohne seinerzeit geschenkt hatte und Pulver und Eisen mit und ging hinaus in das Jagdgebiet. Als das erste Tageslicht dämmerte, sah er im Nebel, der über das Tal hinzog, große Vögel miteinander spielen. Der Vater lud und legte an, er zielte auf den größten Vogel, der in der Mitte der anderen stand. Der größte Vogel stürzte tot hin; der Vater ging hin ihn zu besichtigen; er sah, daß er seinen eigenen Sohn erschossen hatte, und der Sohn lag nun tot zwischen den Leichen der anderen großen Vögel, die er mit den Händen ergriffen und erwürgt hatte. Der Vater sah die Leiche seines Sohnes. Er sah das Gewehr in seiner eigenen Hand. Er sah, daß es das Gewehr war, das er einst selbst dem Sohne geschenkt hatte und vor dessen Gefahren er den Sohn gewarnt hatte. — Der Vater nahm die Leiche seines Sohnes auf. Er trug sie nach Hause. Er legte die Leiche seiner Frau, der Mutter seines Sohnes, hin und sagte: "Ich habe ihn selbst erschossen. Ich will sehen, ob ich das verwinde. Eher komme ich nicht wieder."

Der Vater ging. Der Vater ging weit fort und floh vor seinem Schmerz. Der Vater hatte vor seinem Schmerz Furcht. Der Schmerz verfolgte aber den Vater und ließ ihn nicht frei. Der Vater rannte und rannte immer weiter über die Erde hin. Der Vater schaute nach rechts und links und vorn und hinten. Der Vater horchte nach rechts und links und vorn und hinten. Er sah und hörte aber nichts als seinen Schmerz.

So kam der Vater eines Tages zu einem alten Manne, der lebte in einem schönen Lande und hatte sein Haus mit Ranken umgeben, er hatte seinen Brunnen mit Blumen bepflanzt; er hatte auf seinem Antlitz ein freundliches Lächeln. Der Vater sagte bei sich: "Dieser muß ein Mensch sein, dem der Schmerz versagt war; mit ihm werde ich sprechen."Und er erzählte dem Alten die Geschichte seines Sohnes. Der Alte hörte dem Vater zu. Der Alte brachte dem Vater ein gutes Essen. Er legte ihm ein weiches Kissen hin und sagte: "Du glaubst, dein Schmerz sei so groß, daß du ihn nicht verwinden könntest. Du willst deinem Schmerz entfliehen und kehrst bei mir ein, weil du mich für glücklich hältst. So höre denn meine Geschichte. Höre, was mir widerfuhr, als ich noch jung war:

Wir waren zusammen sieben Brüder. Wir hatten zu sieben einem anderen Duar (Stamme) den Tod geschworen. Wir kämpften gegen den anderen Duar. Eines Nachts wollten wir sieben zusammen den anderen Duar überfallen und seine Häuser in Brand stecken. Wir kamen ganz dicht an die anderen Häuser des anderen Duar heran.



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Ich schlüpfte meinen Brüdern voran in der Dunkelheit an der Mauer entlang. Ich stürzte plötzlich in eine tiefe Grube. Der Bruder, der hinter mir ging, fiel auf mich; der nächste stürzte, wir fielen alle sieben in die Grube, die die Leute des anderen Duar als Falle für uns gegraben hatten.

Als der Tag dämmerte, sahen uns die Leute. Alle Leute des anderen Duar kamen heran. Sie spien nach uns, sie beschimpften uns; sie beschmutzten uns. Der eine sagte: ,Wir wollen die sieben Brüder an Stricken erhängen.' Der andere sagte: ,Nein, wir wollen sie verbrennen.' Ein dritter sagte: ,Wir wollen sie wie Bäume in die Erde pflanzen, so daß die Schakale die Früchte ernten können.' Alle Leute lachten. Die Leute waren einverstanden.

Am Abend wurden dann in einer Linie sieben Löcher in die Erde gegraben. Jedem von uns waren die Füße und die Hände zusammengebunden. Dann wurden wir alle sieben jeder in eines der Löcher herabgelassen, so tief, daß gerade der Kopf eines jeden herausragte. Rund um einen jeden wurde Erde geschüttet und um den Kopf herum festgeschlagen. Die Leute des Duar gingen abends dann an der Reihe vorüber und lachten und sagten: "Seht unsere neuen Feldfrüchte. Ho! wie die Schakale sich freuen werden!" Dann gingen die Leute im Dorfe zur Ruhe. Der Mond stieg auf. Es war ein voller Mond und ein ganz klarer. Man konnte überall alles deutlich sehen. Jeder von uns konnte die sechs Schatten der anderen sechs sehen. Jeder hörte die Schakale in der Ferne heulen. Jeder wußte, daß die Schakale kommen würden. Die Schakale kamen.

Ich sah, wie die Schakale anfingen, den Kopf des ältesten meiner Brüder anzunagen. Ich hörte meinen Bruder. Ich sah, wie die Schakale zum zweiten meiner Brüder liefen. Ich sah, wie sie zum dritten, zum vierten, zum fünften, zum sechsten meiner Brüder herankamen. Ich sah die sechs Schädel, deren Augenhöhlen leer waren. Die Schakale kamen auf mich zu; ich riß an meinen Fesseln. Ich konnte die Hände losreißen. Ich streckte mich, daß die Erde herumflog. Die Schakale flohen. Ich konnte aus der Grube steigen und konnte meine Füße befreien. Ich sah noch einmal über das Feld hin und sah die sechs Schädel meiner Brüder. Ich rannte von dannen.

Die Leute des feindlichen Duar hatten mir alle Kleider genommen. Ich lief nackt einher. Ich war weit gelaufen, da sah ich am Wege einen Mann liegen. Er schien mir zu schlafen. Ich wollte ihn wecken, um ihn zu bitten, mir ein Stück eines Kleides zu geben. Ich stieß ihn an. Er war tot. Er war durch den Kopf geschlagen. Er war mit



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einem Schlag einer Hackenspitze so fest an den Boden geheftet, daß sein Kopf unbeweglich war. Ich zog ihm die Kleider aus und kleidete mich damit. Dann rannte ich weiter und kam in ein Gehöft. Als ich klopfte, machte man mir auf und ließ mich herein. Ich bekam etwas zu essen. Ich aß. Eine alte Frau kam herein. Als sie mich sah, schrie sie. Sie schrie: ,Dieser Mann muß meinen Sohn ermordet haben, denn er trägt seine Kleider. Mein Sohn ist heute abend da- und dahin gegangen. Dieser Mann da muß ihn getötet haben.' Die Leute packten mich. Ich wurde wieder gefesselt. Einige ritten fort. Sie kamen zurück. Sie sagten: ,Er hat den Sohn mit einer Spitzhacke an den Boden genagelt. Wir können den Kopf erst morgen lösen.' Dann fesselten sie meinen Fuß mit einem Schloß und einer Kette an den Fuß eines alten Mannes, der nie einschlief und mich stets beobachtete. Als die anderen sich aber niedergelegt hatten, packte ich den alten Mann plötzlich an der Gurgel und erwürgte ihn; dann brach ich seinen Fuß ab und schnitt die Sehne mit einem Messer durch, das ich aus dem Gürtel des alten Mannes zog. Mit der schweren Kette und dem Fuß des Mannes schleppte ich mich fort. Ich kam aber nicht weit. Ich kam nur bis an den Kirchhof.

Als ich auf dem Kirchhof ankam, begann der Morgen zu dämmern und ich verkroch mich in ein altes Grab. Kaum hockte ich da unten, so kamen die Leute und trugen den Leichnam des alten Mannes heran, den ich nachts erdrosselt und dem ich den Fuß abgebrochen hatte. Sie begannen neben mir ein Grab auszuheben und legten die Leiche des alten Mannes da hinein. Ich sah das alles von dem Grabe aus, in dem ich hockte. Die anderen sahen mich aber nicht. Der Fuß mit der Kette und dem Schloß daran schmerzte mich sehr. Als alle wieder in das Dorf zurückgegangen waren, blieb nur noch der da, der gestern abend geraten hatte, man solle meinen Fuß an den des alten Mannes, der nie schliefe, anketten. Der schaute noch eine Weile auf das neue Grab.

Ich konnte mich nicht mehr halten in meiner Stellung. Ich sank um und die Kette rasselte. Der Mann, der an dem neuen Grabe des Alten stand, schrak auf und schrie: ,Die Toten werden wieder lebendig.' Er sank auf die Knie. Ich sagte: ,Nein, die Toten werden nicht lebendig, aber ich Lebender bin noch nicht tot.' Der andere erkannte mich und zitterte und sagte: ,Also du bist es. Du bist es. Und ich bin die Schuld deines Leidens. Denn ich habe den Sohn der alten Frau mit der Spitzhacke am Boden festgenagelt, weil er mit meiner Frau etwas vorhatte. Und ich habe auch den Tod dieses alten Mannes



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zu bezahlen, denn ich schlug vor, dich an ihn zu ketten, und ich habe hier auch den Schlüssel zu seinem Schloß. Ich trage an alledem die Schuld.' Der Mann heulte vor Aufregung, und dann nahm er den Schlüssel heraus, öffnete meine Kette, löste sie und küßte meine Füße, und er weinte wieder und lief von dannen und brachte mir ein schwarzes starkes Pferd. Er sagte: ,Steige hinauf, denn du bist stark. Vergib mir, was ich dir getan.' Er kniete auf dem Grabe des alten Mannes nieder und kratzte die Erde auf und legte den Fuß, den ich dem Alten abgebrochen und abgeschnitten hatte, zu dem Körper. Ich ritt aber von dannen, so schnell ich konnte.

Als es Nacht war, kam ich weit fort von da an ein Gehöft, das sah freundlich aus; es war aber das Gehöft eines großen Diebes und Mörders. Nur wußte ich es nicht. Als ich klopfte, öffnete eine junge schöne Frau und sagte: ,Ho! du schöner Fremder! Binde dein Pferd an und komme herein. Es trifft sich gut, daß mein Mann nicht da ist, da kann ich mit dir, schöner Mann, einiges plaudern.' Ich folgte. Nachdem ich mein Pferd angebunden hatte, führte sie mich in eine Kammer; auf dem Boden lag ein weicher Teppich. Ich dachte bei mir: ,Jetzt schläfst du sogleich ein', und warf mich auf den Teppich. Aber der Teppich gab nach und ich fiel in eine Grube und unten fiel ich wohl weich auf; es waren aber nichts als kalte Leichen, auf denen ich lag. Ich sagte mir: ,Hier soll ich totgestochen werden', und es war mir erst egal. Dann aber sagte ich: ,Versuche es, vielleicht kommst du mit dem Leben davon. Nachher werden sie von oben versuchen, dich zu erstechen. Krieche also unter die anderen Leichen.' Ich deckte die anderen Leichen über mich und lag ganz still.

Nach einiger Zeit klopfte es. Der Räuber kam nach Hause. Er klopfte und als seine Frau öffnete, sagte er: ,Ich habe heute nichts. Was ist das für ein Pferd da draußen?' Die Frau sagte: ,Wenn du auch nichts hast, so habe ich doch im eigenen Hause eine Maus in der Falle.' Der Räuber lachte und kam in die Kammer, in der ich unter den Leichen lag.

Der Räuber sagte: ,Quiekt denn deine Maus noch?' Er stach von oben in die Leichen, die über mir lagen, hinein. Damit er aber den wahren Sachverhalt nicht merkte, stöhnte ich erst etwas und schüttelte eine der Leichen, sodaß es aussah, als krümme sich eine lebende Person. Nachdem ich das eine Zeitlang getan hatte, stöhnte ich noch einmal lang und anhaltend und zitterte an der Leiche über mir. Der Räuber sagte: ,Eben piepst deine Maus zum letzten Male. So, nun gib das Tau und halte es; ich will heruntersteigen und sehen, ob



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das Fell der Maus sich lohnt.' Nun drückte ich mich zur Seite neben die Leichen. Der Räuber kam an dem Tau, das seine Frau hielt, herab. Als er unten war, preßte ich ihm mit einem Griff die Gurgel zu und drückte sein Gesicht in den Unterleib einer alten Leiche. So erstickte er, ohne daß die Frau, die oben das Seil hielt, etwas merkte. Die Frau fragte oben: ,Lohnt sich der Fang?' Ich preßte den Kopf des Mannes zwischen die Leichen und zog das Messer heraus, mit dem ich in der letzten Nacht den Fuß des alten Mannes abgetrennt hatte. Ich stach es dem sterbenden Räuber mehrmals vom Rücken in den Leib, daß das Blut aufspritzte und warm über die kalten Leichen hinfloß, und sagte zur Frau: ,Es ist ein lustiges Geschäft wie immer. Aber sehr viel einbringen wird es nicht. Nun halte den Strick fest, ich komme herauf.' Die Frau hielt den Strick. Die Frau erkannte mich erst, als ich oben war. Sie sank gegen die Mauer. Die Frau stammelte: ,Wo ist mein Mann?' Ich sagte: ,Deinem Manne hat die Katze das Fell abgezogen, diese Maus lebt nicht mehr; sieh, auch die Katze hat noch blutige Tatzen. Aber ich will dir etwas sagen: Ich will mich waschen und dann wollen wir heiraten.' Die Frau zitterte und brachte Wasser und ich wusch mich. Aber es war mir ganz gleich, ob ich trockene oder blutige Hände hatte, ob es Tag oder Nacht war, ob ich auf einer Leiche oder auf einem Kissen saß. Es war mir alles ganz gleich. Ich sagte zur Frau: ,Packe deine Schmucksachen zusammen. Wir wollen alles mit auf das Pferd nehmen, und die Schätze deines Mannes packen wir auf einen Maulesel und reiten in mein Land.' Wir packten alles zusammen. Wir ritten noch in der gleichen Nacht fort. In der Nacht kamen wir durch einen Wald. Ich wußte nicht, ob ich, auf dem Pferd sitzend, wachend oder schlafend war. Ich weiß nur, daß nach einiger Zeit die Frau vor mir auf dem Pferd sagte: ,Und nicht wahr, du erlaubst mir, daß ich mir in deinem Lande auch eine solche Mausefalle baue.'

Das weiß ich noch; aber ob ich dann schon wach war, weiß ich nicht. Ich fühlte nur, daß ich plötzlich meine Zähne in den Hals der vor mir sitzenden Frau biß. Ich biß ihr die Kehle durch und als ich dann das Blut ausspie, erwachte ich wohl erst.

Ich kam mit den Schätzen des Räubers hier an. Ich habe die Ranken über mein Haus gezogen und Blumen um meinen Brunnen gepflanzt. Ich führe ein stilles und fröhliches Leben. Du hörst doch?"

Der Erzähler (üin isaulen, erzählen = ch kiijen) stieß den Vater, der seinen eigenen Sohn erschossen und den Schmerz so lange ohne



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Erfolg geflohen hatte, an. Er sagte: "Du hörst doch?" Der Vater, der seinen Sohn erschossen hatte, sank lautlos um. Er war während des Erzählens gestorben.


Copyright: arpa, 2015.

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