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Schweizer Märchen Sagen und Fenggengeschichten


Neu mitgeteilt von Curt Englert-Faye

1984

ZBINDEN VERLAG BASEL


Das Märchen von den drei Winden

Es ist lange, lange her, so lang, daß man's gar nicht ausdenken kann, da lebten in einem einsamen Tale hoch oben im Bündnerland ein Mann und eine Frau. Die waren gar arm und brachten sich nur hart und kümmerlich durch. Armut aber stiehlt frohen Mut. Und da konnte es denn nicht fehlen, daß das freudlose Leben die guten Leute mitunter verdroß. so daß sie mit Gott und der Welt haderten, weil ihnen



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nicht ein besseres Dasein beschieden sei, wo doch so viele andere vollauf zu Leben hätten, die nicht besser wären als sie. Denn wer leidet, der neidet. Vor allem sehnte sich das junge Weib nach besseren Tagen. Aber armer Leute Reden gehen viel in einen Sack, und Arg wird davon nicht besser.

Eines Abends nun, als die Frau wieder einmal auf dem Bänklein vor der Türe saß, um ein Fürtuch voll Holzkohlen zu verlesen, und sich schier gar scheel sah an dem stattlichen Hause des reichen Nachbarn, da trat plötzlich im Zwielicht ein fremder Mann vor sie hin. Der war grasgrün gekleidet, und eine rote Feder stak an seinem spitzigen Hute. Aus Augen, die wie glühende Kohlen funkelten, blickte er sie so scharf an, daß ihr ein Schauder über den ganzen Leib fuhr. «Hört, gute Frau», sprach der Fremde mit heiserer Stimme, «ich weiß, wo euch der Schuh drückt, und wenn ihr nur wollt, so könnte ich euch helfen aus eurer Not. Gebt mir das, was ihr im Schoße tragt, und ihr sollt alle Tage einen runden Golddukaten haben.» «Ei», dachte die Frau. obwohl ihr das Herz bis in den Hals hinauf schlug, denn die Menschen sehen das Gold lieber als die Sonne, und sein Glanz macht sie blind. — «Ei, blanke Dukaten für ein paar handvoll schwarzer Kohlen ist ein Gewinn, der nicht alle Tage sich bietet, also greif zu!» Und sie schlug ein. Da warf ihr der Fremde einen prallen Beutel in den Schoß und sagte, was ihm gebühre, werde er sich später holen. Und damit war er verschwunden, wie er gekommen.

Als die Frau abends im Schlafgaden das seltsame Begegnis ihrem Manne erzählte, lachte der hell auf ob dem närrischen Fremden, der sein gutes Geld dergestalt wegwerfe. «Ja», sagte er, «es ist ein altes Wort: Man soll mit Weisen weise und mit Dummen dumm sein!» Und es war eitel Freude in dem Haus bis spät in die Nacht.

Nach einigen Monden genas die Frau eines gesunden Knäbleins. Ein alter ehrwürdiger Waldbruder, der in der Wilde hauste, und die Edelfrau des Schlosses, zu dem das



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Dorf gehörte, standen Pate bei der Taufe im Kirchlein. Am Abend desselben Tages pochte es beim Zunachten an die Türe der Hütte, und der grüne Herr trat ohne Gruß herein, warf einen großen Beutel auf den Tisch, so daß die Goldstücke über die Tischplatte auf den Boden rollten und sagte mit heiserer Stimme: «So, das wird euch einstweilen langen! Heute in vierzehn Jahren werde ich euren Knaben holen, denn er gehört rechtens mir unserem Handel zufolge.» Und damit war er verschwunden. Jetzt erst verstand die Frau, was die Worte, die der Fremde an jenem Abend zu ihr gesprochen, zu bedeuten hatten, und beide, sie und ihr Mann, weinten vor Leid und wußten sich nicht zu lassen und zu fassen.

In ihrer Not gingen sie zu dem alten Einsiedler, denn, wenn wer auf der Welt, so werde der vielleicht Rat wissen. Sie fanden ihn mitten im Walde, wie er in tiefem Nachdenken vor seiner Hütte stand. Und sie erzählten ihm alles, was sich zugetragen hatte. Der Alte schüttelte zwar bedenklich das Haupt, hieß sie aber doch gutes Mutes sein und auf Gott vertrauen. Sie sollten ihren Knaben nur recht erziehen, und, wenn er sein siebentes Jahr vollendet habe, ihm übergeben.

Die Eltern taten also, und der Knabe gedieh und wuchs schlank und rank wie ein Tännlein. Und als er das siebente Jahr vollendet hatte, wurde er in den Wald gebracht zu dem alten Einsiedler. Dieser lehrte ihn fremde Sprachen und in einem uralten Buche mit ganz vergilbten Blättern lesen.

Als der vierzehnte Jahrestag herankam, befahl der Waldbruder dem Knaben sich auf einem Kreuzweg aufzustellen und in dem alten Buche zu lesen und nicht aufzublicken, weder nach rechts noch nach links, was immer geschehen möge. Der Knabe tat, wie ihm geheißen, und las mitten im Kreuzweg stehend, ruhig in seinem Buche. Da aber klang und sang es aufs Mal um ihn herum so wunderbar, es war grad, als musizierten alle Engel. Wie im Traum



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verloren lauschte er den Tönen und wähnte sich im Himmel. Aber, ehe er sich's versah, stieß ein gewaltiger Adler, grau wie blankes Eisen, mit rauschenden Schwingen herab, ergriff ihn mit seinen Fängen und trug ihn hoch empor über alle Wipfel und Gipfel. Aber unentwegt las der Knabe im Buche des Einsiedlers fort, und da mußte der Adler die Krallen öffnen und ihn fallen lassen.

Der Knabe fiel sanft auf den höchsten Grat des Julierberges



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auf einer blumigen Alpweide nieder und versank in tiefen Schlaf. Da kamen auf leisen Sohlen drei lilienweiße Jungfrauen herbei in Gewändern, die waren wie aus allen Farben der Alpenblumen gewoben, und trugen den Schlafenden tief in den Berg hinein, in ihre Behausung, einen Palast, der war ganz aus Kristallen gebaut.

Dort lebte der Knabe fortan in lauter Herrlichkeit und Freuden, und die Jahre schwanden, als wären es Stunden. Als nun der erste Flaum ihm Kinn und Wangen deckte, entbrannte er in heißer Liebe zu der jüngsten der drei Schwestern, die deuchte ihn die Schönste von allen, und er begehrte sie zur Frau. Denn die Liebe ist wie der Tau, sie fällt auf Rosen und Disteln und füllet die Welt und mehrt den Himmel. Und die holde Jungfrau, die auch im geheimen längst schon Gefallen an dem schmucken Jüngling gefunden hatte, gab ihm ihre Hand und ihr Wort. Aber wie's so geht auf der Welt: Lieb ist Leides Anfang. Als der Tag der Hochzeit festgesetzt war, erbat der Jüngling sich Urlaub bei seiner Braut. um Eltern und Paten zu besuchen, daß sie auch Teil hätten an seinem Glück. In der letzten Stunde streifte ihm die Jungfrau einen goldenen Ring mit einem funkelnden Edelstein an den Finger und sprach: «Drehst du diesen Ring in der Richtung des Julierberges, dann muß ich auf der Stelle vor dir erscheinen, wo immer du sein magst. Aber hüte dich, die Kraft des Ringes zu mißbrauchen!» Der Jüngling gelobte hoch und teuer, das Kleinod heilig zu halten und nahm weinend Abschied.

Ehe er sich's versah, stand er auf der Schwelle des Vaterhauses, und nachdem er seine Eltern, die ihn kaum wieder erkannten, umarmt hatte, ging er zur Burg seiner Patin. Die Edelfrau mußte nur staunen ob des Jünglings Schönheit und sie beschloß, ihn mit ihrer Tochter, einem bildschönen Mädchen, zu vermählen. Aber da stach den Jüngling der Übermut, denn wen das Glück zärtet, den verdirbt es. Er lachte bloß über den Antrag und rief: «Ei, ich brauche deine



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Tochter nicht, habe ich doch schon die schönste Braut der Welt! Da schau sie mit eigenen Augen, wenn du's nicht glauben magst!» Mit diesen Worten drehte er den Ring an seinem Finger, und vor ihm Stand liliengleich die Jungfrau vom Julierberg. Aber aller Glanz und alles Glück war von ihr gewichen. Traurig schaute sie ihn aus ihren Sternenaugen an, nahm ihn bei der Hand, und indem sie ihm den Ring vom Finger zog, sprach sie, doch ihre silberhelle Stimme war ohne Klang: «Du hast dein Wort gebrochen und die Kraft des Ringes mißbraucht! Nur bin ich dir auf ewig verloren.» Und ehe der Jüngling wußte, wie ihm geschah, da war die Jungfrau verschwunden. Er wäre vor Scham und Schmerz schier vergangen.

Trostlos in seinem Jammer lief er in die weite Welt, um nach seiner Braut zu suchen. Allüberall fragte und forschte er nach der lilienweißen Jungfrau mit dem goldenen Ring aus dem kristallenen Schlosse auf dem Julierberg. Aber die Leute lachten und spotteten, als wäre er nicht recht bei Sinnen. Er aber schweifte Tag und Nacht durch die Wälder und Weiden in den Schlüften und Klüften und suchte und suchte.

Also ging er eines Abends durch einen finsteren Forst von schwarzen Tannen. Und wie er ganz erschöpft auf einem Steine saß und sein Schicksal bejammerte, da kam aufs Mal ein uralter Mann von großmächtigem Wuchs, mit schlohweißem Haar und Bart des Weges gegangen und fragte ihn, was sein Herz bedrücke. «Ach», erwiderte der Jüngling, «ich suche den Julierberg und die drei lilienweißen Jungfrauen in dem kristallenen Schloß und kann sie nicht finden.» «So, so», sagte der Alte, und strich sich den Bart, «das ist nicht leicht, aber ich will dir helfen.» Und er gab dem Jüngling ein paar Filzschuhe. Das waren aber nicht gewöhnliche Schuhe wie sie jedermann trägt, sondern diese Schuhe brachten den, der sie an den Füßen hatte, bei jedem Schritte drei Meilen weit. «Wisse», sagte der Greis weiter,



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«ich bin der Nordwind.» —Und er blies, und der Jüngling ward auf den Flügeln des Oberwindes sieben Meilen tiefer in den Wald getragen. Dort stand vor einer Höhle wieder ein alter Mann, der hatte grauen Bart und graues Haar. «Ich weiß», sprach er, «warum du kommst, und ich will dir helfen. Ich bin der Südwind. Hier nimm diesen Hut, der hat die Eigenschaft, daß er den unsichtbar macht, der ihn auf dem Kopfe hat.» Sprach's und blies, und der Unterwind trug den Jüngling abermals sieben Meilen tiefer in den Wald. Da aber stand wieder ein Greis vor dem Jüngling, von riesenhafter Gestalt, wild und struppig mit funkelnden Augen, und sein Rust war wie rollender Donner. «Was du suchst», rief er, «liegt über jenen Bergen, über die dich weder Oberwind noch Unterwind zu tragen vermögen. Ich, ich bin der Föhn, und mir ist alle Macht eigen in den höchsten Bergen. Nimm hier diesen Stab, schwing ihn hoch in die Lüfte, und du wirst dein Ziel erreichen!» Der Jüngling warf den Stock in die Höhe, und vom heißen Hauch des Föhns emporgetragen, sah er alsbald den kristallenen Palast weit, weit unten in der Sonne gleißen, so hell, daß seine Augen den Glanz kaum ertrugen. Mit eins stand er vor dem Tore und trat in die schimmernden Hallen. Da schlug der Lärm eines fröhlichen Festes an sein Ohr. Und wie er in den Saal trat, sah er, daß da eine Hochzeit gefeiert wurde. Und seine Braut war es, die an der Seite eines fremden Mannes beim Mahle saß. Ihm war es, als müßte er vor Weh vergehen. Er setzte den Hut aufs Haupt und war unsichtbar. Aber als es am lautesten zuging, trat er hinter die Braut und nahm ihr unversehens die Speisen weg, die vor ihr lagen. Erschrocken sprang sie von ihrem Sitze auf und eilte in ihr Schlafgemach. Er ging ihr nach, zog den Hut ab und stand leibhaft vor ihr. Da fielen sie einander um den Hals und zusammen gingen sie in den Saal zurück. Erstaunt schauten die Gäste auf. Da fragte die Braut: «Sagt mir, ihr Freunde, was täter ihr wohl, wenn euch der Schlüssel zu einem Schrein verloren



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gegangen war, und ihr hattet einen neuen machen lassen, fandet aber den alten plötzlich wieder?» Eines Mundes hieß es, es sei der alte zu gebrauchen und nicht der neue. Da nahm die Jungfrau den Jüngling lächelnd bei der Hand, steckte ihm den Goldring an den Finger und sprach: «Nun wohl, so wisset, daß dieser mein wahrer Bräutigam ist, der mir zum Manne bestimmt war. Drum fahret fort, das Fest zu feiern und seid fröhlich und guter Dinge!»


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