Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Schweizer Märchen Sagen und Fenggengeschichten


Neu mitgeteilt von Curt Englert-Faye

1984

ZBINDEN VERLAG BASEL


Das Mägdlein ohne Hände

In einem baufälligen Häuslein draußen vor dem Dorfe lebten ein Mann und eine Frau. Die waren bettelarm und vermochten kaum, sich selber und ihr einziges Kind zu ernähren. Und als nun gar einmal das karge Äckerlein nichts eintrug und ihnen dazu noch das einzige magere Kühlem verendete, da ward der Mangel zur Not und der Hunger kam zu Gast. «Ach», seufzte der Mann, «Gott habe ich vergeblich angerufen, woher soll uns da noch Hilfe kommen!» Da trat plötzlich ein fremder Herr in einem grasgrünen Rock in die Stube, grüßte freundlich und sprach: «Guter Mann, ich weiß wohl, wie's um euch steht, und ich komme um euch zu helfen, wenn ihr meine Hilfe annehmen wollt. Hört, ich will für euch und euer Kind aufs beste sorgen, wenn ihr es mir nach zwölf Jahren, von heute ab gerechnet, zu eigen geben wollt an Vaters statt.» Und damit stellte er einen prallen Beutel voller Goldstücke auf den Tisch. «Dieser Beutel ist dein, und er wird nie leer werden, sondern stets von selber sich wieder füllen. Nun bedenkt euch wohl, denn ein solches Anerbieten wird euch nimmermehr zu Teil.» Der arme Mann griff ohne Bedenken zu und schlug ein, und dankte dem fremden Herrn gar sehr für seine Güte. Aber wie jener die Stube verließ, gewahrte er mit Grauen, daß er an einem Bein statt des Fußes einen Roßhuf hatte. Da wußte er, daß er sein Töchterlein dem Teufel verkauft hatte.

Das Mägdlein aber gedieh gar prächtig und wuchs fröhlich



Schw. Maerchen Sagen-038 Flip arpa

heran in Unschuld und ohne Sünde, und wurde mit den Jahren zu einer schönen Jungfrau. Und als nun die Zeit um war und der böse Tag herankam, da trat der Teufel ein und forderte seine Beute. Aber das fromme Kind hatte sich, wie's der Brauch war, mit lauterem Wasser rein gewaschen und das Zeichen des Kreuzes an sich gemacht. Da konnte der Böse ihm nichts anhaben. Zornig sprach er zum Vater: «Schlag ihr beide Hände ab, ehe sie sich wieder wäscht und bekreuzt. und binde sie an einen Baum im Walde! Tust du nicht, wie ich sage, so soll es dir übel ergehen.» Der Vater voller Furcht sagte es ihm zu. Am andern Morgen aber stand die Tochter noch vor Sonnenaufgang auf und wusch und bekreuzte sich. Da kam ihr Vater und hieb ihr mit der Baumaxt die beiden Hände ab, führte sie in den Wald und band sie allda an einem Baum fest, und ging fort. Als bald darauf der Teufel kam, da hatte er doch wieder keine Gewalt über sie und mußte weichen.

Die Jungfrau aber hätte elendiglich verschmachten müssen, wäre nicht von ungefähr ein Königssohn mit seinen Weidgesellen durch den Wald daher geritten. Der sah das schöne Kind und erbarmte sich seiner und löste ihm seine Bande. Er setzte sie auf sein Roß und brachte sie in das Schloß seines Vaters. Und weil sie ebenso fromm und gut war, als schön, so gewann die Jungfrau auch des alten Königs Herz, so daß er seinem Sohn den Segen gab, als er vor ihn trat und das Mädchen ohne Hände zur Frau begehrte. Und bald ward die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert, und das junge Paar lebte in lauter Glück und Freude.

Aber nicht lange darnach mußte der Königssohn in den Krieg ziehen. Er empfahl seine Gemahlin der Obhut seines Vaters und bat, daß man ihm oft Nachricht von ihr sende, denn sie war guter Hoffnung. Der junge König blieb lange aus, und unterdessen genas die Fürstin eines Zwillingspaares. Der alte König sandte alsbald einen Boten an seinen Sohn mit der frohen Märe und der Bitte, er möge doch



Schw. Maerchen Sagen-039 Flip arpa

recht bald nach Hause kommen. Unterwegs aber rastete der Bote in einem Walde und schlief ein. Da kam eine Hexe. die war des Teufels Magd, und nahm ihm den Brief weg und legte ihm einen anderen unter, darin stand geschrieben, die Fürstin habe zwei Katzen zur Welt gebracht. Wie der Prinz diese Nachricht erhielt, erschrak und betrübte er sich über die Maßen. schrieb aber einen Brief an seinen Vater. man solle einstweilen nichts tun, sondern warten, bis er heimkomme, und seine Gemahlin aufs beste pflegen. Der Bote rastete auf dem Heimweg wieder in demselben Wald. Da kam wieder die Hexe und schob ihm abermals einen anderen Brief unter. Darin stand geschrieben, man solle die Frau mit samt den Geschöpfen, die sie geboren, in den Wald hinausstoßen, damit sie dort elendiglich verderbe.

Als der alte König diesen Bescheid erhielt, weinte er bitterlich, so leid tat ihm die unschuldige Frau, aber niemand wagte eine Einrede. Sie banden ihr die beiden Kindlein an, das eine vor die Brust, das andere auf den Rücken, und so ward die Ärmste hilflos in die Wildnis hinausgestoßen.

Lange irrte sie weinend umher und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Da kam sie im tiefsten Waldesgrunde zu einem Brunnen, der entsprang vor einer Rosenhecke. Sie ging hinzu, um ihren Durst zu löschen. Aber als sie sich bückte, um zu trinken, da entglitt ihr das eine Kind und fiel ins Wasser. Die Mutter fuhr ihm mit den Armstumpen nach, um es zu fassen, und siehe da, sie ergriff es. Die Hände waren ihr wieder gewachsen, denn der Brunnen war ein Zauberquell heilkräftigen Wassers. Voller Inbrunst blickte sie zum Himmel auf und dankte Gott für seine Gnade. Aber wie sie die Augen wieder zur Erde wandte, da erblickte sie, wo eben noch die Rosenhecke gestanden, ein vielzinniges Schloß mit hundert Türmen und Toren und tausend hellglänzenden Fenstern: Sie trat, die Kinder auf den Armen, in die hohen Hallen und weiten Gemächer, und fand alles, was das Herz begehren kann für die Notdurft des



Schw. Maerchen Sagen-040 Flip arpa


Leibes. Aber nirgends war ein Mensch zu sehen, und unsichtbare Diener bedienten sie zu jeder Stunde, wie es einer Königin geziemt. In diesem Schlosses lebte sie nun sieben Jahre lang, täglich das Gemahles harrend.

Als der Krieg zu Ende war und der Königssohn heimkam, um seine Gemahlin zu umarmen, da stand seines Vaters Schloß schmuck und schön wie zuvor, aber wie er nach seinem Weibe fragte, da fing der alte König zu weinen an, und wies ihm den Brief vor, und da kam es an den Tag, daß die beiden Schreiben verfälscht worden waren. Als der



Schw. Maerchen Sagen-041 Flip arpa

Königssohn die Wahrheit erfuhr, sprach er: «Ich will in alle Welt hinausgehen, so weit der Wind weht und die Wolken ziehen, und weder rasten noch ruhen, bis ich mein liebes Weib und meine Kinder wiedergefunden habe. Und so zog er mit seinem Gefolge wieder aus und irrte umher sieben Jahre lang und suchte nach ihnen auf Borg und Bühl, in Wald und Wilde, aber sie fanden sie nicht. Endlich kam er einmal ganz allein, ohne Gefolge und Begleit, in einen Wald zu einem prächtigen Schloß und fand darinnen eine schöne, traurige Frau mit zwei gleichaltrigen munteren Knaben. Die sah seinem verlorenen Weibe wunderbar ähnlich, so daß es ihn deuchte, sie müsse es sein, aber sie hatte zwei Hände. Da ward er ganz wirr und irr und starrte sie an und sagte kein Wort. Sie aber sprach lächelnd: «Sei mir gegrüßt, herzliebster Mann! Sieh hier deine Kinder! Durch Gottes Gnade sind wir vom Tode errettet worden und habe ich meine Hände wieder erhalten.» Da umarmte der Königssohn unter Tränen der Freude sein Weib und seine Kinder. Dann stieß er in sein Horn, das weithin schallend sein Gefolge herbeirief. Die Mannen kamen herbei und huldigten der wiedergefundenen Herrin und geleiteten sie heim. Als aber die Fürstin. wie sie die Stätte verließen, noch einmal danach sich umschaute, da war das Schloß verschwunden, und es stand an seiner Stelle wieder die Rosenhecke an dem Brunnen.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt