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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


53. Der Gast Gottes

Ein Mann war mit einer Frau verheiratet und dieses Paar hatte jahraus, jahrein tagtäglich ein Brot und nie mehr und nie weniger. Nachdem das nun lange Zeit so gegangen war und der Mann und die Frau sich immer gerade recht und schlecht von dem täglichen Brot genährt hatten, sagte der Mann eines Tages zu seiner Frau: "Ich will zu Gott gehen. Ich will ein Gast Gottes* werden und dann zu Gott gehen und ihn fragen, warum er meinen Brüdern so viel zu essen gibt, daß sie es gar nicht alles genießen können, mir aber nur täglich ein Brot." Der Mann machte sich also auf den Weg und wurde ein Gast Gottes.

Der Gast Gottes kam auf seinem Wege eines Tages zu einem Manne, der hatte seit neunundneunzig Jahren gebetet und alle Leute sagten: "Das ist ein sehr frommer Mann und er wird sicher einen herrlichen Platz im Paradiese erhalten." Der Gast Gottes kam zu diesem Manne und bat ihn um ein Abendessen. Gott gab dem großen Beter an diesem Tage aber ein Weizenbrot und ein Gerstenbrot. Als es nun Abend war, lud der große Beter den Gast Gottes zum Mahle ein und er gab ihm das Gerstenbrot zu essen, verzehrte selbst aber das Weizenbrot, denn dieses war auch für ihn eine seltene Speise, die er sehr liebte. Gott aber erzürnte darüber, daß der große Beter sich selbst das Bessere genommen hatte.

Der Gast Gottes verließ den großen Beter am anderen Tage, bedankte sich und sagte: "Ich will weiter wandern auf meinem Wege zu Gott." Der große Beter sagte ihm: "Wenn Gott dich anhört, so frage ihn auch, welchen Platz im Paradiese er mir bestimmt hat."

Der Gast Gottes kam auf seinem Wege eines Tages zu einem Manne, der hatte neunundneunzig Menschen getötet und die Menschen sagten von ihm: "Das ist ein ganz schlechter Mensch, den Gott in die Unterwelt werfen wird." Der Gast Gottes kam zu dem großen Würger, bat ihn und sagte: "Ich bin auf dem Wege zu Gott. Ich bin ein Gast Gottes." Der große Würger sagte: "So hast du nichts zu essen?' Der Gast Gottes sagte: "Nein, ich habe heute nichts zu essen und keine Stätte, mich zum Schlafen niederzulegen." Der große Würger sagte: "Wenn es dir so schlecht geht, will ich dir wenigstens einen guten Tag bereiten, denn ich bin imstande dazu." Und der große Würger schlachtete einen feisten Hammel und hieß seine Frauen



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das beste Essen bereiten. Er aß mit dem Gast Gottes, er gab ihm aber die besten Stücke und sagte: "Du hast selten etwas Gutes. Dir soll dies ein Festtag sein." Nachher machte er dem Gast Gottes das eigene Lager zurecht und warf sich auf das Stroh und sagte bei sich: "Ich kann es ja alle Tage gut haben." Als Gott das sah, lachte er und sagte bei sich: "Und diesen halten die Menschen für einen ganz Schlechten!"

Am anderen Tage bedankte sich der Gast Gottes und wollte gehen. Der große Würger sagte aber zu ihm: "Du bist auf dem Wege zu Gott. Sprich, wenn du zu ihm kommst, nicht von mir, denn ich werde seinerzeit in die Unterwelt geworfen werden, und wenn du vor Gott meinen Namen erwähnst, wird er nur ergrimmen und gegen dich übel gesinnt sein, weil du mit mir Verkehr übtest."

Und der Gast Gottes ging weiter und weiter und kam zuletzt zu Gott und er sprach zu Gott, und er sagte alles, was er auf dem Herzen hatte. Gott aber antwortete: "Jeden Tag, solange du denken kannst, hast du von mir ein Brot erhalten, das genügte, um dich und deine Frau zu ernähren. Da du hiermit nicht zufrieden warst, wirst du auch nie mehr erhalten, solange du auch noch leben wirst. Du hast auf deinem Wege zu mir einen großen Beter getroffen, von dem die Menschen glauben, er werde nach seinem Tode in das Paradies versetzt werden. Diesen großen Beter werde ich aber in die Unterwelt werfen. Du hast von dem großen Würger gesprochen, der dich reichlich bewirtet hat, und hast gezeigt, daß du dankbar bist. So will ich dir denn auch sagen, daß dieser große Würger, den die Menschen für sehr schlecht halten, von mir in das Paradies gesetzt werden wird. Kehre heim."

Der Gast Gottes machte sich auf den Heimweg und kam wieder zu seiner Frau, und er hatte wie früher tagtäglich ein Brot. Eines Tages ward seine Frau aber guter Hoffnung und sie schenkte ihren) Gatten einen Sohn. Nachdem der aber einige Tage alt war, saß die Frau mit dem Kinde eines Tages in der Sonne, und als sie den Fuß aufhob, lag darunter ein großer Reichtum an Gold. Sie rief ihren Mann und zeigte ihm den Reichtum. Der Gast Gottes schrie vor Freude und er rief: "So hat Gott gelogen, denn Gott sagte mir, ich würde nie mehr als ein Brot jeden Tag haben. Jetzt aber bin ich ein reicher Mann, und ich werde zu Gott gehen und ihm sagen, daß er gelogen hat."

Der Gast Gottes machte sich auf den Weg und kam zu Gott. Gott sah ihn und sprach: "Du irrst, weil du ein Mensch bist. Dieses Gold



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gehört nicht dir, sondern deinem neugeborenen Sohne. Ich habe es diesem geschenkt, weil du damals der Wohltat, die der große Würger dir erwiesen hat, in Dankbarkeit gedachtest und davon sprachst, obgleich du glauben mußtest, ich würde darüber erzürnen. Nun aber hast du an mir gezweifelt und deshalb mußt du alsbald sterben. Kehre heim."

Der Gast Gottes trat den Rückweg an. Als er zu seinem Gehöft kam und die Schwelle überschreiten wollte, fiel er tot zu Boden.


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