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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


51. Der Totenbock

(Akeluesch [Bock] neth lachath [Toten])

Ein Mann lebte mit einer Frau verheiratet in einem Hause. Der Mann war ein Narr. Wenn er einen Gegenstand für fünf oder sechs Geldstücke einkaufte, ging er in die Männer versammlung und sagte: "Dies hat mich ein Geldstück gekostet."Sagte dann ein anderer: "Laß es mir ab für zwei Geldstücke, denn du machst dann noch ein Geschäft", so tat er das und antwortete: "Ich finde immer wieder Gelegenheit, mir, was ich brauche, billig zu kaufen." Mit diesem Gerede vom billigen Einkaufen verbrauchte er aber nach und nach sein ganzes Vermögen, so daß er zuletzt so gut wie nichts mehr hatte. Der Mann war ein Narr.

Eines Tages sollte das Fest Laid begangen werden. Alle Leute gingen hin und kauften ihr Opferschaf. Nur der Mann, der so billig einkaufte, tat es nicht. Die Leute sahen das sehr wohl, und als er auf den Männer platz kam, sagten sie zueinander: "Der da hat sein ganzes Vermögen vertan und nun kann er nicht einmal mehr ein Schaf für das Fest kaufen." Der Mann hörte, was die anderen sagten. Er sagte: "Ich schwöre, daß ich morgen ein Schaf kaufen werde!"

Am anderen Tage ging der Mann auf den Markt. Er hatte einen halben Duro bei sich. Das war alles, was er besaß. Er ging von einem Händler zum anderen und fragte nach einem Schaf für einen halben Duro. Alle Händler sagten: "Für einen halben Duro hat kein Händler ein Schaf." Bis zum Abend ging der Mann auf dem Markt umher. Er konnte aber kein Schaf erhandeln. Der Mann ging nach Hause.



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Es war Nacht geworden. Der Mann ging in der Nacht nach Hause. Auf dem Heimweg begegnete ihm der Totenbock. Der Mann ergriff den Totenbock, band ihm eine Schnur um den Hals und führte ihn heim. Er brachte den Totenbock in sein Haus und band ihn an. Am anderen Tage ging er mit dem Totenbock an der Schnur umher und sagte: "Seht, ich habe Wort gehalten! Hier ist mein Opferschaf!" Dann gab der Mann den Totenbock seiner Frau und sagte: "Nun sorge für ihn und bereite den Kuskus."

Die Frau machte sich an die Arbeit. Als sie sich zur Kuskusbereitung niedergesetzt hatte und einmal umwandte, sah sie, daß der Totenbock sich mit dem Fuß den Bart strich und den Kopf schüttelte. Die Frau erschrak und sagte bei sich: "Was, ein Bock, der sich den Bart streicht und mit dem Kopf schüttelt ?" Die Frau rief ihre Tochter und sagte: "Schnell lauf hin zum Vater und sage ihm, daß das Opferschaf sich den Bart streiche und den Kopf schüttele." Das Mädchen lief zum Männer platz und rief zum Vater hinein: "Vater, dein Opferschaf streicht sich den Bart und schüttelt mit dem Kopf." Als die anderen Männer das hörten, spotteten sie und sagten: "Du hast nicht ein Schaf, sondern einen schlimmen Geist (rohani) gekauft."

Der Mann ging nach Hause. Er trat ein. Seine Frau kam ihm entgegen und sagte: "Das Opferschaf hat sich schon wieder den Bart gestrichen!" Der Mann wurde ärgerlich und sagte: "Du bist eine Närrin! Wie kann ein Bock sich den Bart streichen! Du wirst ihm nicht zu trinken gegeben haben und nun ist er unruhig." Die Frau ließ sich aber nicht beruhigen und sagte: "Bei meinem Hals, heute abend esse ich nicht mit dir. Ich gehe mit den Kindern zu meinen Eltern. Du kannst heute allein essen." Damit packte die Frau ihre Sachen zusammen und ging mit den Kindern fort in das Haus ihrer Eltern.

Als es Nacht war, verließ die Frau mit ihren Brüdern aber wieder das Haus ihrer Eltern und kam herüber, um durch eine Ritze in der Türe zu sehen, wie es dem Manne mit dem Bock ergehe.

Der Mann legte sich abends in seinem Hause unbekümmert nieder. Nachts wachte er auf. Der Totenbock wurde zu einem riesengroßen Manne. Der riesengroße Mann kam auf den Mann zu. Der Mann erschrak. Der riesengroße Mann sagte: "Wo soll ich anfangen, dich aufzufressen ?" Der Mann sagte: "Fange mit meinem Kopf an, der meiner Frau nicht folgen wollte." Der riesengroße Mann wollte sich auf den Mann stürzen, da schossen von draußen die Brüder seiner



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Frau durch die Türritze und das Fenster. Sogleich wurde der riesengroße Mann wieder zum Totenbock. Er rannte mit dem Kopf die Tür ein und lief in das Freie.

Der Totenbock war von dem Schießen sehr erschrocken. Er rannte und sah nicht rechts und links. Er kam auf eine Bande von Dieben zu. Die Diebe fingen ihn und töteten ihn. Die Diebe zogen dem Totenbock die Haut ab. Sie wollten ihn nun im Walde kochen und essen. Ein Teil der Diebe ging zum Holzsammeln fort. Ein Teil der Diebe ging zum Wasserholen. Die beiden Diebe, die fortgingen, um Wasser zu holen, wandten sich beim Gehen rückwärts, um zu sehen, ob die Holzsammler auch nicht heimlich und vorzeitig anfingen, von dem Fleisch zu essen. Sie gingen rückwärts sehend weiter und sahen nicht auf die Erde. Sie kamen an den Rand des Brunnens, ohne es zu merken. Sie stürzten in den Brunnen hinein und ertranken.

Die Holzsammler gingen. Einer blieb aber ein wenig zurück, hielt ein Stück Leber über das Feuer und röstete es. Er sah, daß die Wasserholer sich umwandten. Er steckte das heiße Stück Leber schnell in den Mund und verschluckte es. Das Stück Leber war so heiß, daß der Mann sich das Innere verbrannte und sogleich starb.

Die beiden Holzsammler kamen zurück. Sie sahen, daß sie die einzigen waren, die noch lebten. Sie sagten: "Wir wollen den Bock in zwei gleiche Teile teilen und jeder seines Weges gehen." Sie teilten und gingen jeder mit seiner Hälfte ein Stück Weges gemeinsam. Unterwegs sagten sie aber: "Wir sind aus dem gleichen Dorfe. Wir haben die gleichen Freunde. Es ist ein großer Bock und wir können ihn nicht allein verzehren. Wir wollen unsere Freunde einladen und ihn gemeinsam genießen."

Die beiden Diebe luden ihre Freunde ein. Sie kamen alle in einem Hause zusammen. Sie begannen die Mahlzeit. Die Frau eines Diebes sah, wie der andere Dieb seinem Kinde ein großes Stück Fleisch gab. Die Frau schrie: "Dies Kind hat von seinem Vater mehr Fleisch bekommen als meines." Der andere Dieb rief: "Du lügst! Ich sah vorhin, wie du deinem Kinde ein noch größeres Stück Fleisch gabst." Der Mann der Frau schrie: "Schweig! Meine Frau hat recht." Ein anderer Mann schrie: "Jetzt lügst du auch; mein Freund hat recht." Die Männer ergriffen die Säbel. Sie stürzten aufeinander und kämpften miteinander. Sie kämpften so lange, bis alle tot waren und nur noch einer lebte.

Der eine, der noch lebte, betrachtete die anderen und sagte: "Die anderen sind alle tot. Wie kommt es, daß sie alle starben? Ich blieb



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allein übrig. Ich will mich auch töten. Vorher will ich mich aber noch einmal gründlich satt essen." Der Mann setzte sich nieder und begann zu essen, soviel er nur konnte. Er war schon ganz satt. Er wollte aber noch ein Stück essen. Er mußte aufstoßen. Der Mann hielt ein und sagte: "Was, mein Bauch, du willst aufbegehren?" Der Mann ward über seinen Bauch zornig. Er sagte: "Mein Bauch, ich werde dich strafen." Der Mann zog sein Messer und stieß es sich in den Bauch. Der Mann fiel hin und starb.

Nach einiger Zeit kam ein Händler an das Haus der toten Männer. Der Händler klopfte an das Haus und rief: "Wollt ihr Gewürze kaufen?" Es antwortete niemand. Er klopfte wieder an und rief: "Wollt ihr Gewürze kaufen?" Es antwortete niemand. Er klopfte wieder und rief: "Wollt ihr Gewürze kaufen ?" Es antwortete wieder niemand. Da öffnete er die Tür und trat in das Haus.

Der Händler sah die Männer umherliegen. Der Händler nahm eine Nadel und stach in die Leichen. Die Leichen rührten sich nicht. Der Händler sagte: "Diese Menschen sind alle tot." Der Händler sah umher. Er sah das Fleisch. Er versuchte von dem Fleisch. Das Fleisch war gut. Der Händler stellte seinen Kram beiseite und begann von dem Fleisch zu essen und aß dann so lange, bis er ganz satt war.

Als der Händler ganz satt war, sagte, er: "Jetzt bin ich gut gesättigt. Jetzt werde ich mich draußen in den Schatten eines Baumes legen und ausschlafen. Wenn ich ausgeschlafen habe, werde ich zurückkehren und noch ein Gericht zu mir nehmen." Der Händler legte sich unter einen Baum und schlief ein. Während er schlief, schwoll sein Bauch auf. Eine Fliege setzte sich auf seinen Bauch und kroch darauf herum. Der Händler wachte ein wenig auf und scheuchte mit der Hand die Fliege fort. Der Händler schlief ein wenig ein. Die Fliege kam wieder und kroch wieder auf dem Bauche herum. Der Händler wachte wieder auf und jagte die Fliege fort. Der Händler schlief wieder ein. Die Fliege kam wieder und kroch auf seinem Bauch herum. Der Händler erwachte. Er wurde zornig. Er zog sein Messer und stach nach der Fliege. Die Fliege flog fort. Der Händler traf sich mit dem Messer in den Bauch. Er starb.

Es kamen Leute vorbei, die fanden den toten Händler. Sie wollten ihn in das Haus tragen. Sie fanden die toten Leute. Sie sagten: "Wir wollen die Leichen begraben." Einige Leute sagten: "Hier steht gutes Fleisch. Wir wollen es essen." Andere Leute sagten: "Eßt dieses Fleisch nicht. Vielleicht ist es vergiftet. Denn weshalb wären sonst alle diese Menschen tot. Wir wollen das Fleisch mit begraben.



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Es muß etwas an dem Fleisch sein." Darauf nahmen die Gierigen Abstand. Alle Toten wurden mit dem Fleisch begraben.

Als es Nacht war, kam der Totenbock aus dem Grabe und trottete weiter.


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