Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DIE GEBURTSTANNE

In dem Dorfe Auenstein an der Aare ward einem Landmann ein Kindlein geboren, und zu eben derselben Stunde pochte eine fremde Frau an die Türe und bat um Obdach und Nachtlager. «Es ist uns leid, aber es geht nicht wohl an. Heut' ist uns ein Kindlein geboren, und der Raum ist so schon eng», meinte der Mann und wollte die Türe wieder zutun. «Ich bin fremd hier und müde vom Wege. Nehmt mich in Gottes Namen auf für diese Nacht!» bat das Weib. «In Gottes Namen, so tritt halt ein», sagte der Mann, «und nimm fürlieb!»

Als die Fremde des andern Morgens früh bei Tag sich wieder auf den Weg machte, dankte sie ihrem Gastgeber gar sehr: «Ich wünsche Eurem neugeborenen Kindlein alles Glück und Wohlergehen für sein ganzes Leben. Doch hört Eines und bergt's in Eurem Herzen: Habt Sorge zu ihm, und hütet es wie Euer Augenlicht! Denn mir hat diese Nacht ein böser Traum geträumt von einer hohen Waidtanne, daran das arme Kind sich erhängen wird, wenn es zwanzig Sommer zählt. So ist ihm von einem dunkeln Schicksal verhängt. Doch Gottes Kraft vermag ihm das Unheil zu wenden und zu wandeln.



Alpensagen-202 Flip arpa

Gewöhnet das Kindlein nur von seinem ersten Spielen und Sprechen an, alles, was es tut, im Namen Gottes zu beginnen !» Mit diesen Worten schied sie, ernst mit dem Haupte nickend.

Die Eltern und alle Leute im Hause blieben der Mahnung eingedenk und versäumten nicht, den Rat der fremden Frau zu befolgen. So wurde das Kind in Gottes Huld und Hut auferzogen und wuchs zur schönen Jungfrau heran. Niemals hatte man es alleine beim Spiel, nie ohne Aufsicht über Feld, nie ohne Begleitung zur Kirche gehen lassen, und ohne Unheil waren ihm neunzehn Lebensjahre vorbeigegangen.

Als nun des Mädchens zwanzigster Geburtstag kam, weckte der Vater sein Kind in blauer Morgenfrühe, hieß es aufstehen und sich ankleiden, damit es mit ihm von Hause fort über Feld gehe, ehe noch jemand erwacht wäre. Diesen Tag sollte die Tochter mit ihm allein droben auf dem einsamen Berge zubringen, wohin kein Mensch zu ihr dringen und Gefahr bringen konnte. Der Vater tat Wein und Brot in seinen Quersack, die Tochter trug ihr Körbchen nach, und so stiegen sie durch die taufrischen Matten bergwärts. Das Mädchen freute sich von Herzen an Blumen und Vögeln und war voller Lust und Fröhlichkeit ob dieser Wanderung. Aber beim ersten Waldbaum, der den Weg verschattete, blieb sie stehen und maß ihn mit freudestrahlenden Augen. Es gelüstete sie, voll Übermut, die rege Kraft ihrer Gieder zu erproben. «Ei, welch eine schöne Tanne!» rief sie frohlockend den gewaltigen Stamm hinauf. «O Vater, den möchte ich ums Leben gern erklimmen!» — «In Gottes Namen, so geh denn und steig hinauf!» sagte der Vater, dem das Herz stille stand. Aber mitten im Sprunge wandte das Mädchen sich um. «Ach Vater», sagte sie ganz verwundert mit erschrockenen Augen, «nun kann ich's nicht mehr!» Der Mann verstand dieses Wort und stille dankte er Gott tief innen in seinem Herzen.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt