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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER BÜSSER

In einem fernen Lande lebte einmal ein edles Ritterfräulein. So schön war die Jungfrau, daß viele wackere Ritter um ihre Hand warben. Aber noch größer als ihre Schönheit war ihre Tugend. Sie hatte ihr Herz dem Heiland gelobt und ihr Leben seiner Liebe geweiht. Demütig wies sie alle Freier ab und entsagte der Ehe auf ewig.

Ein wilder Jüngling aber, der sie mit allen Sinnen zum Weibe begehrte, wollte nicht von ihr lassen, und so heftig war sein Begehr, daß er sich vornahm, nicht zu ruhen, ehe er nicht seine Lust am Leibe der stolzen Magd gestillt. Allerorten lauerte er ihr auf, aber lange gelang ihm sein böses Werk nicht. Einmal aber begegnete er ihr an einem einsamen Orte im Walde und tat ihr Gewalt. Die Jungfrau aber wehrte sich bis aufs Blut und wahrte ihre Keuschheit durch den Tod. Der Mörder begrub den Leichnam am selben Orte und entwich.

Aber am Abend, als er seine Seele erforschte, da roch ihm auf, welch eine Freveltat er verübt, und fortan fand er weder Ruhe noch Rast mehr. Bittere Reue zerfraß sein Herz. Da erkannte er sich harte Strafe zu, und schwere Buße nahm er auf sich: Nie mehr sein Leben lang wollte er nach Art der Menschen gehen und stehen, noch sich nähren und gekleidet sein. «Ich bin wie ein Tier, und wie ein Tier will ich wandeln und auf Hand und Fuß im Wald herum kriechen, so viele Jahre, als es dem Himmel wohlgefällig ist.» Und er floh weit außer Landes in die Fremde. So kam er ins Entlebuch, wo er in der



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Einöde des Waldes das Werk seiner Buße antrat. Nackt, wie er aus der Mutter Leib gekommen, lebte er im Dickicht, niemals sich erhebend, nie Schirm suchend gegen die Witterung, weder Sommers noch Winters, keiner andern Speise genießend als Beeren, Wurzeln und Kräuter. Nach wenigen Jahren schon war sein Leib ganz mit Haaren überwachsen, so daß er einem zottigen Tier gleich sah mit Pranken wie ein Bär.

Viele Jahre waren ins Land gegangen. Ein Landmann zog des Weges daher und unlang gesellte sich ihm ein fremder Landfahrer, der ihm freundlich Gott zum Gruß bot und leutselig mit ihm sprach. Und unbemerkt lenkten sie auf einen anderen Weg ein und waren aufs Mal tief in den Wald geraten. Plötzlich brach aus dem Waldesdickicht ein seltsames Wesen, das einem wilden Tiere gleich sah, und doch scheu vor den Menschen zu entfliehen trachtete. Der fremde Wandersmann gebot ihm: «Steh still !» Das Ungetüm gehorchte und lauschte seinen Worten: «Wisse, isse, sieben mal sieben Jahre hast du nun redlich Buße getan, fern den Menschen, den Tieren des Waldes gesellt. Deine Schuld ist gesühnt. Du bist erlöst. Schüttle die Sünde von dir!» Das Untier schüttelte sich, und in tausend Fetzen und Flocken zerstob die zottige Hülle, in welcher der Büßer beschlossen gewesen. Ein kniendes Knäblein erschien statt des Tieres, holdselig zu schauen, betend die Händlein erhoben. Und alsbald ward es zum weißen Täublein und flog auf gen Himmel.



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Der Fremde enthob den Landmann jählings weit, weit hinweg in ein fernes Land. In einem großen Walde setzte er ihn ab. Und vor sich im Grase, mitten in einem Haufen abgehauener Stauden, schaute der Bauer eine wunderbare Blume, dergleichen er nie in seinem Leben gesehen. Sie duftete wie daheim die feinste Nelke der Berge. Der Führer hieß ihn die Stauden abheben. Und es lag eine wunderschöne Jungfrau da. Die war tot, aber so blütenfrisch, als ob sie eben schlafe. Ihrem Herzen war die wunderbare Blume entsprossen und durch das Gestrüpp zum Licht emporgewachsen. Der Bauer staunte in seinem Herzen ob all den seltsamen Dingen, die sich mit ihm begaben. Aber der Unbekannte sprach: «Vor neunundvierzig Jahren hat jener Büßer dort fern im Walde deiner Heimat, hier dieses Menschenbild schändlich ermordet. Der Jungfrau aber ward der Himmel aufgetan, auf daß sie Wohnung nehme im Kreise der Heiligen. Ihr Leichnam auf Erden aber blieb durch Gottes Gnade bis zur Stunde wunderbar erhalten, und herrlich ist er dem Licht des Tages erschienen durch des Himmels Gerechtigkeit.»


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