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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER GRENZLAUF

Über den Klausenpaß und die Bergscheide hinaus vom Schächentale weg reicht das Urnergebiet am Fletschbache fort und ins Glarnerland hinüber. Einst stritten die Urner mit den Glarnern bitter um die Landesgrenze, und sie beleidigten und schädigten einander täglich. Da ward von den Obmännern der Spruch getan: Zur Tag- und Nachtgleiche solle aus jedem Ort frühmorgens, sobald der Hahn krähe, ein rüstiger Berggänger ausgesandt werden, des Weges kundig, und jedweder nach dem jenseitigen Gebiet zulaufen, und da, wo sich die beiden Männer begegneten, die Grenzscheide festgesetzt bleiben, es möge nun fallen diesseits oder jenseits. Die Läufer wurden ausgewählt, und man dachte besonders darauf, einen solchen Hahn zu halten, der sich nicht verkrähe und die Morgenstunde auf das allerfrühste ansage. Und die Urner nahmen einen Hahn, setzten ihn in einen Korb und gaben ihm sparsam zu fressen und zu sauf en, weil sie glaubten, Hunger und Durst werde ihn früher wecken. Die Glarner dagegen fütterten und mästeten ihren Hahn, daß er frisch und freudig



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den Morgen grüßen könne, und dachten, also am besten zu fahren.

Als nun der Herbst kam, und der festgesetzte Tag erschien, da geschah es, daß zu Altdorf der schmachtende Hahn zuerst erkrähte, kaum wie es dämmerte, und froh brach der Urner Felsenklimmer auf, der Mark zulaufend. Allein in Linthal drüben stand schon das volle Morgenrot am Himmel, die Sterne waren verblichen, und der fette Hahn schlief noch in guter Ruh. Traurig umstand ihn die ganze Gemeinde; aber es galt die Redlichkeit, und keiner wagte es, ihn aufzuwecken. Endlich schwang er die Flügel und krähte. Der Glarner Läufer enteilte, so rasch ihn seine Füße trugen, um dem Urner den Vorsprung wieder abzugewinnen! Ängstlich sprang er und schaute gegen das Scheidegg. Wehe, da sah er oben am Giebel des Grats den Mann schreiten, und schon bergabwärts niederkommen. Aber der Glarner schwang die Fersen und wollte seinem Volke noch vom Lande retten, so viel als möglich, und bald stießen die Männer aufeinander. Und der von Uri rief: «Hier ist die Grenze!» —«Nachbar», sprach betrübt der von Glarus, «sei gerecht und gib mir noch ein Stück von dem Weidland, das du errungen hast!» Doch der Urner wollte nicht. Aber der von Glarus ließ ihm nicht Ruh, bis jener sich erbarmte und sagte: «So viel will ich dir noch gewähren, als du, mich an deinem Halse tragend, bergan läufst!» Da faßte ihn der rechtschaffene Sennhirt von Glarus und klomm mit letzter Kraft noch ein Stück Felsen hinauf, und manche Tritte gelangen ihm noch, aber plötzlich versiegte ihm der Atem, und tot sank er zu Boden. Noch heutigen Tags wird der Grenzbach gezeigt, bis zu welchem der sinkende Glarner den siegreichen Urner getragen hat.


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