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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


50. Die Kluge

Ein Agelith (vornehmer Dorfherr) versammelte eines Tages alle seine Dörfler und sagte zu ihnen: "Ich verlange, daß mir einer von euch bis morgen früh für fünf Kupferstücke Schatten (thili) kauft, oder ich schlage euch allen miteinander den Kopf ab."Der Agelith war als gewalttätig bekannt. Die Leute erschraken sehr. Sie sagten: "Wie soll man ,Schatten' kaufen können!" Sie gingen auseinander.

Ein Alter kam zu seiner Tochter nach Hause und sagte: "Bereite uns noch einmal ein gutes Essen, denn morgen wird der Agelith uns allen die Köpfe abschneiden lassen." Das Mädchen sagte: "Ho! Ho! So schnell geht das nicht. Weshalb hat der gestrenge Agelith denn diesen Befehl erlassen?" Der alte Vater sagte: "Entweder es kauft ihm jemand bis morgen mittag für fünf Kupferstücke Schatten, oder uns allen wird der Kopf abgeschlagen. So hat er erklärt." Das Mädchen lachte und sagte: "Das ist doch sehr einfach. Mein guter Vater, nun geh erst einmal zu ihm und sage ihm, er solle dir die fünf Kupferstücke geben, damit du seinem Befehle gemäß den Schatten kaufen kannst. Dann werden wir das Weitere sehen." Der Vater ging hin und ließ sich vom Agelith die fünf Kupferstücke geben. Er bändigte sie seiner Tochter aus und diese ging auf den Markt und kaufte dafür einen Hut. Den Hut brachte der Vater am anderen Mittag und sagte: "Hier ist für fünf Kupferstücke Schatten." Der Agelith sagte: "Das hast du gut gemacht."

An einem anderen Tage sammelte der Agelith seine Dörfler und sagte: "Entweder einer von euch kauft mir bis morgen mittag ein Paar falscher Maulesel, die mich tragen können, oder ich schlage euch allen die Köpfe ab." Die Leute gingen wieder recht niedergeschlagen auseinander und der Alte ging zu seiner Tochter. Er erzählte ihr, was der Agelith heute verlangt hatte, und die Tochter lachte wieder und sagte ihm, er solle nur hingehen und sich die zehn Kupferstücke geben lassen, damit er dafür morgen auf dem Markte gleich das Paar falscher Maulesel, das ihn tragen könne, kaufen könne. Die Tochter ging dann auf den Markt und kaufte ein Paar hoher Holzpantoffeln (aghebghab, Plur.: ighebghaven -jene stelzigen Holzpantinen, mit denen Ost- und Nordafrikaner bei schlechtem Wetter über die schmutzigen Wege gehen, werden von den Arabern auch in den Bädern getragen). Die bändigte der Alte dem Agelith am anderen Tage ein und der erklärte sich damit zufrieden.

Der Agelith versammelte wieder einige Zeit später seine Dörfler



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und sagte: "Es gibt einen Baum, der hat zwölf Zweige, jeder Zweig hat dreißig Blätter und jedes Blatt fünf Samenkörner. Bis morgen mittag könntet ihr mir sagen, was für ein Baum das ist, oder ich lasse euch allen den Kopf abschlagen." Die Dörfler hörten es. Sie verabschiedeten sich von dem Alten und riefen ihm nach: "Wir verlassen uns darauf, daß du bis morgen den Baum, den der Agelith meint, ersinnst!" Der Alte ging darauf nach Hause und sagte seiner Tochter, was der Agelith sich heute wieder ersonnen habe, um die Dörfler zu ängstigen. Die Tochter sagte: "Aber mein Vater, das kann doch jeder erraten. Der Baum ist das Jahr, die zwölf Zweige die zwölf Monate, die Blätter daran die Tage und die fünf Samenkörner die täglichen fünf Gebete." Der Alte sagte: "Du hast recht, meine Tochter." Er sagte die gleichen Worte am anderen Tage dem Agelith und der sagte: "Du hast recht, mein Alter."

Nach einigen Tagen versammelte der Agelith wieder alle seine Dörfler und sagte: "Morgen ist Markttag. Wenn ich nun nicht wenigstens einen von euch auf dem Markt treffe, der weder nackt noch angekleidet ist, so lasse ich euch allen miteinander den Kopf abschlagen." Die Dörfler gingen. Sie sagten zu dem Alten: "Nun, du wirst ja wohl morgen diese Sache regeln. Wir anderen gehen lieber erst nicht auf den Markt." Dann gingen sie auseinander. Der Alte ging zu seiner Tochter und berichtete ihr sogleich, was der Agelith für den kommenden Markttag verordnet hatte. Die Tochter sagte: "Auch das ist nicht schwer! Binde ein Leder um die Lenden, so daß deine Blößen bedeckt sind, so bist du weder nackt, noch bist du angekleidet. Gehe in diesem Aufzuge auf den Markt und da alle anderen Leute sowieso wegbleiben werden, aus Furcht, in ihrem Kleide den Wünschen des Agelith nicht zu entsprechen, so wirst du den Herrn ganz allein treffen und brauchst dich vor anderen nicht zu schämen." Der Alte sah das Geschickte im Vorschlage seiner Tochter ein, schlug am anderen Tage ein Leder um die Lenden und ging so auf den Markt. Auf dem Markte traf er denn auch zunächst keinen Menschen, da alle Leute sich fürchteten, in ihrem Kleide dem Agelith zu mißfallen.

Nach einiger Zeit kam aber der Agelith. Er sah, daß nur der Alte gekommen war, und betrachtete dessen Anzug. Der Agelith sagte: "Mein Alter, du hast das, was ich verlangt habe, wiederum erfüllt. Nun warst du es immer, der meine Wünsche und Gedanken verstanden hat, trotzdem ich doch von anderer Gelegenheit weiß, daß du selbst nicht klüger bist als meine anderen Dörfler. Du mußt also



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irgend jemand haben, der dir mit seinem Rate zur Seite gestanden hat. Sage mir, wer das ist." Der Alte sagte: "Der mir immer geraten hat, das ist meine Tochter." Der Agelith sagte: "So, dies ist deine Tochter; gut, so will ich deine Tochter zur Frau nehmen." Der Alte sagte: "Ich fürchte, meine Tochter wird nicht die rechte Frau für dich sein, denn meine Tochter ist nicht schön, sie ist nicht stark, sie ist mager, sie ist schmal und von kümmerlicher Gestalt." Der Agelith sagte: "Es ist mir gleich. Ich werde deine Tochter heiraten, sage es ihr."

Am anderen Tage sandte der Agelith dem Mädchen Kleider (wie dies Sitte ist). Da er der Herr des Dorfes war, nahm er von jeder Art zwei Stücke, packte das Ganze zusammen, gab es seinen Negersklaven zur Überbringung und sandte sie ab. Unterwegs stahlen die Neger von allem die Hälfte; es blieben aber im Tuche, das um das Ganze geschlungen war, einige Fäden von dem entwendeten Stoff hängen, die in der Farbe von der Farbe der abgelieferten Stoffe abwichen. Das Mädchen öffnete das Bündel, verglich die Stücke, erkannte die Fäden der fehlenden Stücke, wickelte sie zu einem kleinen Knoten zusammen und sagte: "Diesen kleinen Fadenknoten gebt meinem zukünftigen Gemahl und bestellt ihm wörtlich folgendes: "Die Stoffe haben sich im Himmel um dieses vermindert." Die Sklaven lachten untereinander.

Die Sklaven kamen beim Agelith an. Der Agelith fragte sie: "Was hat euch meine zukünftige Frau für eine Bestellung gegeben?" Die Sklaven sagten: "Herr, wir fürchten, du hast eine Verrückte zur Frau gewählt. Deine zukünftige Gattin gab uns diesen Fadenknoten und sagte, wir sollten dir bestellen: ,Die Stoffe haben sich im Himmel um dieses hier vermindert'." Da verstand der Agelith sogleich, was das Mädchen damit sagen wollte. Er ließ die Kammern der Sklaven untersuchen. Man fand die entwendeten Stoffe. Der Agelith fragte die Sklaven: "Glaubt ihr nun wirklich, daß ich eine Verrückte heiraten werde?" Darauf ließ er ihnen zur Strafe für den Diebstahl den Kopf abschlagen.

Der Agelith heiratete das Mädchen. Er sagte ihr gleich am ersten Tage: "Du bist klug. Wenn ich nun einmal falsch urteile, so sage es mir nicht, so daß ich in meinem Urteil nicht unsicher werde. Sprich mit mir nur darüber, wenn ich dich frage. Ich werde dich sonst sogleich zu deinem Vater zurücksenden." — Der Agelith war mit seiner jungen Frau einige Zeit glücklich verheiratet.

Eines Tages wurde dem Agelith ein Streitfall zur Entscheidung vorgetragen.



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Ein Mann, der eine Mauleselin ritt, war eines Nachts einem Manne begegnet, der eine Eselin ritt, hinter der das Eselfohlen herlief. Die beiden Männer hatten einige Zeit miteinander geplaudert und sich dann getrennt. Das Eselfohlen hatte in der Dunkelheit aber den Weg verloren und lief statt hinter seiner Mutter hinter der Mauleselin her, und der Besitzer der Mauleselin hatte das kleine Fohlen auch mit in seinen Stall genommen und als sein Eigentum eine Zeitlang gefüttert und verpflegt, so daß das Fohlen sich vollkommen an den neuen Besitzer, den Stall und die stets in ihrer Nähe befindliche Mauleselin gewöhnt hatte.

Der Besitzer der Eselin hatte nun lange nach seinem Fohlen gesucht, ohne es finden zu können, bis er eines Tages hörte, daß das Tier sich im Stall des Besitzers der Mauleselin befände. Da kam er zu dem Agelith und klagte gegen den Besitzer der Mauleselin. Der seinerseits kam mit einem Geschenke zu dem Agelith und erklärte, daß das Fohlen von seiner Mauleselin stamme (eine Unmöglichkeit, da bekanntlich Mauleselinnen unfruchtbar sind). Der Agelith ließ nun die Eselin, die Mauleselin und das Fohlen bringen. Er ließ vor seinen Augen die Eselin und die Mauleselin nach je einer Seite treten und achtgeben, welchem von beiden Tieren das Fohlen folgen würde. Die beiden erwachsenen Tiere wurden nach je einer Seite weggeführt. Das Fohlen blieb einen Augenblick in der Mitte stehen und lief dann, da es sich in der Zwischenzeit an die Mauleselin gewöhnt hatte, hinter dieser und nicht hinter seiner Mutter her, die ihm unbekannt geworden war.

Der Agelith sagte: "Ihr seht alle, daß das Fohlen selbst hinter der Mauleselin herläuft, diese also als seine Mutter bevorzugt. Das Fohlen bleibt also bei der Mauleselin. Ich bestimme, daß der Besitzer der Eselin kein Recht mehr an dem Fohlen hat." Die Leute gingen auseinander. Der Besitzer der Eselin, dem das Fohlen nun genommen war, blieb an die Mauer des Hauses gelehnt stehen und weinte.

Die junge Frau des Agelith schaute zum Fenster heraus. Sie hatte dem ganzen Handel zugehört. Sie hatte gesehen, daß hier das Recht gebrochen wurde; sie hatte Mitleid mit dem Besitzer der Eselin und sprach ihn vom Fenster aus an. Sie sagte: "Ich will dir einen Rat geben. Gehe zum Agelith zurück und erzähle ihm folgende Geschichte: ,Auf einem Ufer des Flusses in meinem Tale baute ein Ackersmann Weizen an, der herrlich aufging und ein einziges Feld voll wunderbarer Ähren bis hinauf zur Hügelspitze bildete. Kurz bevor er zu ernten anfangen wollte, kamen eines Nachts alle Fische



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aus dem Fluß und fraßen den ganzen Weizen ab, so daß ihm nichts zu ernten übrigblieb.' —Erzähle diese Geschichte dem Agelith. Wenn er dir dann sagt, daß dies erlogen sei, weil die Fische nicht aus dem Wasser auf das Land kommen können, so sage ihm, daß sie das ebensogut können wie die Mauleselin, die ein Fohlen wirft."

Der Besitzer der Eselin ging zum Agelith zurück und erzählte ihm die Geschichte vom Weizen und den Fischen. Der Agelith sagte: "Du lügst! Die Fische können nicht ans Land kommen." Der Besitzer der Eselin sagte: "Die Fische können geradesogut ans Land kommen und den Weizen von den Feldern grasen, wie die Mauleselinnen heuer Fohlen zur Welt bringen." Als der Agelith das hörte, sagte er: "Das hast du nicht von dir. So klug bist du nicht. Sage mir auf der Stelle, von wem du die Geschichte hast." Der Besitzer der Eselin sagte: "Dies erzählte mir eine junge Frau, die hier vor dem Tore zum Fenster heraussah!" Der Agelith sagte: "Das habe ich mir gedacht."

Der Agelith ging zu seiner Frau und sagte: "Die Geschichte von den Fischen und dem Weizen war sehr schön! Ich habe dir aber vorher gesagt, daß du mir es nie sagen sollst, wenn ich einmal falsch urteile. Du hast es mir aber durch einen Verurteilten sagen lassen, also gegen meinen Befehl gehandelt. Packe also morgen früh alles, was dir im Hause lieb ist, zusammen und nimm es mit dir in das Haus deines Vaters, in dem du bleiben wirst!" Die junge Frau sagte: "Ich höre und werde diesmal genau deinem Befehle folgen."

Zum Abend bereitete die junge Frau noch einmal das Essen. Sie buk für den Agelith einen Kuchen, wie er ihn sehr gerne aß, tat aber reichlich Skran (Betäubungsmittel) hinein. Der Agelith aß den Kuchen und schlief dann fest ein. Sobald er ganz fest schlief, hob die junge Frau ihn auf und packte ihn in eine Truhe. Die Truhe verschloß sie. Am anderen Morgen ließ sie die Sklaven kommen und die schwere Truhe in das Haus ihres Vaters tragen. Als die Sklaven gegangen waren, öffnete sie die Truhe, hob den Agelith heraus und bettete ihn auf einem bequemen Lager.

Sie setzte sich dann neben das Lager und wartete darauf, daß der Agelith erwachen würde. Nachdem der Agelith eine lange Zeit geruht hatte, schlug er die Augen auf und sah erstaunt um sich. Er sah seine junge Frau neben sich und sagte: "Wo befinde ich mich denn? Ist das hier nicht das Haus deines Vaters?" Die junge Frau sagte: "Gewiß, mein Gatte. Du befindest dich jetzt im Haus meines Vaters, und das ist doch ganz selbstverständlich." Der Agelith sagte: "Wieso



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ist das selbstverständlich ?" Die junge Frau sagte: "Ich habe dir gestern versprochen, genau deinem Befehle zu folgen." Der Agelith sagte: "Welcher Befehl war das?" Die junge Frau sagte: "Du hast mir gesagt: ,Packe also morgen früh alles, was dir im Hause lieb ist, zusammen und nimm es mit dir in das Haus deines Vaters, in dem du bleiben wirst!' Da du mir nun von allem, was du in deinem Hause hast, das Liebste bist, so habe ich dich zuerst eingepackt und in jener Truhe hierhertragen lassen."

Der Agelith dachte eine Weile nach und sagte: "Du bist auch mir an Klugheit überlegen. Wir wollen dem Eselbesitzer sein Fohlen zurückgeben lassen und wenn ich in Zukunft einen Rechtsspruch verfehle, so sage du es mir."


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