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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER UNGETREUE HIRTE

Eines schönen Tages im Spätherbst warf ein Gemsjäger zu Leuk die Flinte um und stieg zur Bachaip hinauf. Lange war er gewandert, und die Sennhütten lagen weit hinter ihm. Da stieß er in den Felsenklüften auf den Sommerhirten der Bachaip. Der kannte jeden Schritt und Tritt in diesem wilden Gebiete und wußte die Gänge und Örter der Gemsen. Der Jäger fragte den Sennen, ob er mit ihm zusammen das Glück versuchen wolle. Jener war bereit, und so klammen sie von Gand zu Wand, von Fels zu Firn und gegen Abend erlegten sie an einer schroffen Wand einen prächtigen Steinbock. Wohlgemut stiegen sie mit ihrer Beute zu Tal und kamen beim Zunachten oberhab des Staffels der Bachalp an die jähe Geröllhalde, welche Steirischu genannt wird. Noch eine halbe Stunde und sie seien drunten, meinte der Jäger. Aber der Hirte antwortete nicht. Schlaffen Ganges schleppte er sich noch einige Schritte, dann sank er kraftlos zu Boden. «Ich kann nicht weiter, laß mich hier liegen.» Der Jäger aber blieb bei ihm und rüstete sich, die lange Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Sein Gefährte war auf dem Fleck eingeschlafen und lag regungslos da wie ein Toter. Als der Jäger talwärts blickte, die Gand hinunter, da sah er unten einen Mann, eine brennende Kienfackel in der Hand, mit einer großen Last auf den Schultern, langsam haldan steigen. Als die Gestalt näher kam, gewahrte er im Scheine der Fackel, daß der Mann ein schweres Rind trug, und er hörte ihn keuchen und schnaufen und zwischenhinein stöhnen und schluchzen. Und je höher er stieg, desto tiefer beugte ihn die Last, desto schmerzvoller tönte das Gestöhn. Wie der Mann aber oben am Rand des Gerölles steht, da wendet er sich plötzlich und wirft das Tier mit gewaltiger Wucht in die Tiefe. Dumpf hört man's unten aufschlagen. Da jauchzt der Hirte gell auf, daß die Nachtvögel



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jäh aufschrecken und der Laut vielfältig von den Wänden und Gräten widerhallt.

Dem unerschrockenen Weidmann erstirbt das Blut in den Adern und das Herz will ihm stille stehen, denn Gestalt, Antlitz und Gewand der Erscheinung ist des Hirten von der Bachalp, der neben ihm am Boden schlafend liegt. Der Jäger rüttelt und schüttelt und ruft ihn. Der bleibt regungslos liegen, derweil sein Ebenbild im Steingeröll von neuem die Last dumpf stöhnend bergwärts schleppt und sie von oben gell jauchzend wieder hinunterwirft.

Beim ersten Morgengrauen ist die Erscheinung plötzlich verschwunden. Der schlafende Hirte streckt und reckt sich, reibt die Augen aus und blickt sich um. Dann steht er ohne Morgengruß auf und steigt wortlos mit dem Jäger zur Staffel hinab. Am großen Kreuzlärch zieht er sein Messer und ritzt ein kleines Kreuz in den Stamm zum Zeichen, daß ein Weidesommer ohne Schaden für die Alp vorübergegangen sei. Der Jäger, der das seltsame Gebaren des Hirten schweigend betrachtet, sagt: «Gelt, du hast auch nicht alle Sommer ein Kreuz in den Baum ritzen können», und er enthüllte ihm, was



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er die Nacht geschaut. Der Hirte ward weiß wie Kalk und, an allen Gliedern bebend, bekannte er dem Jäger, daß er im vorferndrigen Sommer im Zorn ein unstätes Rind, das ihm viel zu schaffen machte, in der Gand habe erfallen lassen. «Mach' den Schaden wieder gut, so lang du noch lebst», sagte der Jäger und ging seines Weges.

Jahre sind vergangen, der Hirte ist längst tot und begraben, aber noch immer sehen mitunter Jäger und Sennen des Nachts den Hirten das Rind jene Gerölihalde hinauftragen.


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