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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


47. Die trauernde Laus

Der Floh (achuseth; Flur.: ichurthen -männlich) und die Laus (thilkits, Plur.: thilkfn -weiblich) trafen sich. Der Floh und die Laus heirateten. Eines Tages sagte die Frau (die Laus) zu ihrem Manne (dem Floh): "Geh auf den Markt und kaufe Fleisch ein."Der Floh ging auf den Markt und kaufte Fleisch ein. Die Laus tat das Fleisch in einen Topf mit Wasser und stellte den Topf über das Feuer. Die Laus sagte zum Floh: "Nun geh du und sammle Holz. Ich werde inzwischen hingehen und Wasser holen."Der Mann nahm das Beil und dachte bei sich (wörtlich: lach-e-thör [Wort] wul [Herz], also Wort im Herzen, d. h. bei sich denken): "Ich werde schnell hingehen und das Holz schlagen und heimbringen. Ich komme dann früher als meine Frau nach Hause und kann schon (heimlich) etwas von dem Fleisch essen." Die Frau nahm den Wasserkrug und dachte bei sich: "Ich werde das Wasser schnell schöpfen und heimbringen. Ich komme dann früher als mein Mann nach Hause und kann heimlich schon etwas von dem Fleisch essen."

Die Laus lief schnell zum Brunnen. Sie bückte sich schnell über den Rand, um zu schöpfen. In der Hast verlor sie das Gleichgewicht und fiel herein. Der Floh hackte schnell das Holz und trug es heim. Er eilte an den Kochtopf, lüpfte ein wenig den Deckel und bückte sich hinein. In der Hast verlor er das Gleichgewicht, fiel hinein, verbrühte sich und starb.

Die Laus wurde von der Welle an den Rand des Brunnens getrieben. Sie wurde auf eine trockene Stelle in einer Vertiefung gesetzt. Die Laus stieg aus dem Brunnenschacht heraus und kam nach Hause. Die Laus wartete ein wenig auf ihren Mann. Der Mann kam nicht. Die Laus sagte: "Mein Mann bleibt so lange, daß ich nun doch schon ein wenig essen werde." Die Laus öffnete den Topf. Die Laus sah, daß ihr Mann darin tot lag. Da zerschlug die Laus den Topf (eine Trauerbezeugung) und begann zu klagen und zu weinen. Die Laus ging weinend von dannen.

Die Laus ging weinend weiter und traf das Rotkehlchen (äthe; Plur.: eathoau), das saß auf einem Baum. Das Rotkehlchen sah die weinende Laus und sagte: "Was hast du, meine Base (Base = Cousine =am't'iir; Flur.: thémthin) Laus? Was weinst du so?" Die Laus weinte und sagte: "Mein Mann ist gestorben." Das Rotkehlchen begann zu weinen und klagte: "Was, du hast deinen



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Mann, den Floh, verloren?!" Das Rotkehlchen weinte und schluchzte. das Rotkehlchen zitterte vor Schmerz so, daß der Baum, auf dem das Rotkehlchen saß, umfiel und das Rotkehlchen unter sich begrub.

Die Laus ging weinend weiter und traf einen Mann, der zwei bepackte Esel vor sich hertrieb. Der Mann sah die weinende Laus und. fragte sie: "Was hast du, meine Base Laus? Was weinst du so?" Die Laus weinte und sagte: "Der vortrefflichste (wertvoll =ilhen; der wertvollste Mann = argeth [Mann], la'ali [wertvoll]) Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat (vor Schmerz) den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Und die Laus wandert allein." Der Mann sagte: "Also so ist es!" Der Mann lud seine beiden Esel ab; er lud sich die Lasten selbst auf die Schulter und ließ die Esel zurück. (NB. Um seine Anteilnahme am Schmerz zu zeigen und auch zu leiden.)

Der Mann ging schwer beladen weiter und traf seine Tochter, die einen großen Krug trug. Die Tochter fragte den Vater: "Weshalb trägst du die Last der Esel ?" Der Mann sagte: "Ich traf die Base Laus; sie sagte mir, daß der vortrefflichste Mann gestorben ist, das Rotkehlchen den Baum zerbrochen hat und darunter umgekommen ist. Nun will ich auch trauern." Das Mädchen sagte zu seinem Vater: "Dann muß ich auch trauern" (l'hatheu = Trauer im Sinne von Trauerbezeugung). Das Mädchen warf seinen Topf zu Boden, so daß er zerbrach. Dann ging sie mit dem Vater heim.

Der Mann kam mit seiner Tochter heim. Beide waren vor Trauer völlig stumm.

Die Laus ging weinend weiter und traf ein Rebhuhn (thethkurth). Das Rebhuhn sah die weinende Laus und fragte: "Was hast du, meine Base Laus? Was weinst du so?" Die Laus weinte und sagte: "Der vortrefflichste Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich selbst genommen. Und die Laus wandert allein." Das Rebhuhn hörte das. Das Rebhuhn begann zu weinen. Das Rebhuhn warf sich auf die Erde und wälzte sich auf der Erde, so daß es alle Federn verlor.

Das Rebhuhn ging weinend ohne Federn weiter. Das Rebhuhn begegnete dem Schakal (usch'schen). Der Schakal sah das weinende, federlose Rebhuhn und wollte sich auf es stürzen, um es zu verzehren. Das Rebhuhn sprach: "Du schämst (Scham = lahia; du schämst dich nicht = uthetzsathhaäidarar = nicht du Scham



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hast) dich nicht? Der vortrefflichste Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich genommen. Und die Laus wandert allein. Da willst du nun, wo ich hierüber klage, mich verschlingen ?" Der Schakal sagte: "Wir wollen den Löwen (fsun) fragen, ob das mich etwas angeht und ob ich nicht besser daran tue, wenn ich dich töte." Das Rebhuhn war einverstanden.

Der Schakal und das Rebhuhn gingen zusammen zum Löwen. Das Rebhuhn sagte zu dem Löwen: "Du bist der Agelith (Fürst) der Tiere. Untersuche diesen Fall." Der Schakal sagte: "Ich traf das Rebhuhn ohne alle Federn. Das Rebhuhn kann so nicht fliegen. Das Rebhuhn wird so eines Tages vom Felsen herabstürzen und in einem Loche nutzlos sterben." Das Rebhuhn sagte: "Ich habe, um zu trauern, meine Federn verloren. Der vortrefflichste Mann ist gestorben. Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich genommen. Und die Laus wandert allein."

Der Löwe sagte: "Das Rebhuhn hat recht. Seine Federn werden wieder wachsen. Du, Schakal, hast unrecht. Stürze dich zur Strafe den Abgrund hinunter! Komm mit mir an den Abgrund!" (Abgrund = irtha; Plur.: irthar; auch eine Schlucht heißt so.) Das Rebhuhn ging weinend weiter. Der Löwe nahm den Schakal mit sich. Der Schakal sprach zum Löwen: "Man spricht überall auf den Hügeln (thirelt; Flur.: thiraltin) und in den Schluchten von dir und rühmt, daß du der vortrefflichste und tapferste Mann seist." Der Löwe hörte es. Er kam mit dem Schakal an den Abgrund. Er sagte zum Schakal: "Stürze dich dort herunter!" Der Schakal ging an den Abhang und rutschte ein wenig hinab, dann kam er zurück. Der Löwe sagte: "Nicht so sollst du es machen! Stürze dich mit einem Sprunge hinab!" Der Schakal sagte: "Das kann ich so nicht. Ich bitte dich oder sonst ein großes, tapferes Tier, es mir vorzumachen."

Der Löwe ging einige Schritte zurück. Er rannte vor und sprang in den Abgrund herab. Der Löwe zerbrach alle Knochen. Der Löwe war tot. Der Schakal lachte. Der Schakal rief alle seine Brüder und Verwandten. Die Schakale fraßen den toten Löwen auf.

Die Laus ging weinend weiter. Die Laus kam an einen Fluß. Die Laus konnte nicht über den Fluß kommen. Die Laus saß am Flußufer, weinte und sprach: "Der vortrefflichste Mann ist gestorben.



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Das Rotkehlchen hat den Baum zerbrochen und ist darunter umgekommen. Der Mann hat die Esellasten auf sich genommen. Der Löwe ist in den Abgrund herabgesprungen, seine Leiche fraßen die Schakale auf. Und die Laus wandert allein."

Die Laus sprang in das Wasser. Die Wellen trugen die Laus ein wenig. Die Wellen begruben die Laus.


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