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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER STUBETIKNABE ALS ESEL

Am Murgerberge wohnten einmal zwei schöne Mädchen. Aber kein Freier wollte kommen, denn es ging bei ihnen nicht mit rechten Dingen zu. Sie waren insgeheim gar schlimme Hexen, die den Leuten mit ihrer schwarzen Kunst allerhand Böses antaten. Sie verhexten den Bauern das Vieh, so daß die Kühe Blut molken oder keine Milch mehr gaben; sie riefen glaskiaren Frost hervor, just wenn die Obstbäume in vollem Blust standen, so daß die weißen Blüten schwarz wurden, und wenn die grüne Sommersaat auf den Feldern sproß, dann zauberten sie Hagelschlag herbei, der die zarten Halme in den Boden schlug. Und wenn das Heu luftig und duftig auf den gemähten Matten in der Sonne lag, dann rauschten auf ihr Geheiß tagelang Regengüsse wie Geißelschnüre herab, und das Heu wurde brandig und faulte. Und wenn's dann im Herbst kein Obst zu günnen und kein Korn zu dreschen gab, und im Winter das Futter rar war, und die armen Leute unter all der Not seufzten, dann hatten sie so recht ihre Freude dran. Auch allerlei Siechtum und Gebresten sandte ihr böser Blick den Leuten zu. Aber niemand wagte, etwas gegen sie zu sagen oder gar zu tun. Drum waren sie von allen gemieden; nur ein junger stattlicher Bursche ließ sich nicht schrecken. Keck kam er immer wieder zu ihnen zur Stubete, denn die schönen Mädchen gefielen ihm trotz allem gar wohl, und er hoffte, die eine zur Frau zu gewinnen. Sie aber sahen ihn gar nicht gern und trieben auch immer bloß ihr loses Spiel mit ihm und hielten ihn zum Narren. Als er nun wieder einmal auf dem Wege zu ihnen war, da schauten beide gerade zum Fenster hinaus und sahen ihn kommen. Ärgerlich sprach da die eine: «Wenn nur der blöde Tscholi grad ein Esel würde!» Und kaum gesagt, war der böse Wunsch schon erfüllt. Ein graues Eselein mit langen Ohren stand draußen auf dem Hofe und schrie ängstlich



Alpensagen-118 Flip arpa

I—A. Es war der verwandelte Bursche, der in seiner Angst um Hilfe rief. Aber, o weh, niemand kam. Wer hätte ihn auch in dieser Gestalt erkennen können! Die beiden Hexen aber zeigten vor Lachen ihre Zähne.

Verzweifelt trottete der arme Langohr heim ins Vaterhaus. Aber, oha, dort kam er letz an; wie treuherzig er auch dreinblickte und wie zutraulich er die Ohren stellte, und eindringlich I—A machte, niemand beachtete ihn, und als er nicht von selber gehen wollte, jagten sie am Ende das lästige Tier mit einem Knüppel fort. Traurig den Kopf schüttelnd trollte er langsam davon und lief schließlich zur Mühle an den See hinab. Dort werde man wohl einen Esel brauchen können, dachte der Bursche bei sich, stellte die Ohren und schrie laut I—A.

Und so war es auch. Der Müller stellte das herrenlose Grautier noch so gerne ein, und der verwunschene Bursche verrichtete fortan als Mühlesel geduldig und redlich sein schweres Tagewerk zur Zufriedenheit seines Meisters. Des Nachts aber trabte er oftmals heimlich aus dem Stalle oder ab der Weide den Berg hinauf zum Hause der Hexen. Vielleicht, so dachte er, würden sie es des bösen Spieles endlich genug sein lassen und ihn durch ein Zauberwort aus seiner traurigen Gestalt erlösen. Aber nein, die lachten den armen Langohr, der flehentlich vor ihren Fenstern sein I—A schrie, nur aus und trieben boshaft ihren Spott mit ihm. Aber eines Abends, als er wieder einmal traurig mit lampenden Ohren um das Haus strich, da hörte er die eine Hexe sagen: «Der arme Kerl, er ist doch fast zum Erbarmen. Der Narr, er könnte sich selber helfen, wenn er nur wüßte, wie er's anstellen muß.» — «Ja», antwortete die andere, «er braucht ja nur am Fronleichnamstage nach dem Gottesdienst in der Kirche von dem frischen Laube der Myrthenbäumchen ein paar Blätter fressen, dann wäre er erlöst!»



Alpensagen-119 Flip arpa

Was meint ihr, wie's dem Verwunschenen zu Mute war! Hellauf vor Freude schrie er I—A und galoppierte in ausgelassenen Gümpen in seinen Stall zurück, fraß sein Futter und besorgte in der Mühle weiter getreulich seinen Dienst. Endlich war der ersehnte Festtag gekommen. Und als nach dem Gottesdienst das Volk aus der Kirche strömte, drängte sich das Eselein geschwind in die leere Kirche, ehe einer der unwilligen Kirchgänger vor der Tür es hindern konnte, und rupfte rasch ein paar Blättlein ab dem Myrthenbäumchen. Und seht, mit einem Schlage hatte er seine Menschengestalt wiedergewonnen, und fröhlich kehrte er in sein Elternhaus zurück. Was das für ein Wiedersehen gab! Aber erzählt hat er niemandem nichts von allem. Er wußte schon, warum. Er tat, als sei er die ganze Zeit in der Fremde gewesen.

Und die beiden Hexen? Ich glaube, sie haben ein böses Ende genommen. Aber geht selber hin und fragt nach!


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