Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER RABENSTEIN

Es war einmal ein Hüterbube. Der hütete alle Tage auf dem Berge seine Geißen und Schafe. Und dabei sang er wie ein Vogel, und jodeln konnte er, daß man's weit und breit im Tal unten hörte.

Eines Tages bekam er gewaltigen Durst und suchte lange auf der ganzen Weide herum nach einem Trunk frischen Wassers. Endlich fand er unter einer hohen Tanne eine Glunte. Da kniete er nieder und schlürfte begierig das Wasser mit trockenem Gaumen. Indes er aber also über das Weiherlein gebeugt lag und von ungefähr hineinguckte, erblickte er im Wasserspiegel das umgekehrte Tannengrotzli und oben in den Zweigen ein Vogelnest aus Reisern, darin drei junge Raben lagen. Er stand auf und wollte die Raben ausnehmen. Nicht faul, kletterte er flink wie ein Eichhörnchen stammauf und suchte und griff nach dem Ast, den er im Wasser gesehen hatte. Aber von dem Nest und den Raben fand er nicht Staub, nicht Flaub. «Ich werd halt letz gelugt haben», dachte er und stieg herab. Unten schaute er noch einmal in das Wasser, und siehe da, abermals sah er das Nest ganz deutlich noch auf demselben Aste, an der gleichen Stelle wie das erstemal. Was gischt was bescht war er wieder oben auf dem Baume; aber auch diesmal konnte er das Nest auf dem verwünschten Aste nicht entdecken. Das trieb er so zum dritten und vierten Male. Endlich fiel es ihm ein, er wolle am Spiegelbild im Wasser alle Äste zählen bis zum Nest hinauf. Gedacht - getan. Genau merkte er sich jetzt, auf dem wievielten Ast das Nest saß. Er kletterte hinauf, zählte ab, und beim rechten Aste tastete er hin, griff zu und hielt mit eins ein schneeweißes Steinchen in der Hand, und im selben Augenblick ward ihm auch das Nest mit den drei jungen Raben sichtbar. Da, ganz vorne auf dem Aste lag's, und er wunderte sich, wie es ihm so lange entgangen wäre. Das schneeweiße



Alpensagen-107 Flip arpa

Steinchen gefiel ihm gar wohl, er steckte es in den Sack und glitt hinunter.

Am Abend trieb er seine Geißen und Schafe heim und sang und jodelte dazu, wie er immer tat, nach Herzenslust. Aber was geschah? Wie er ins Dorf kam, sperrten die Leute Augen und Maul auf, denn sie hörten ihren Geißbuben wohl singen, aber kein Mensch konnte ihn sehen. Und als er gar vor seiner Eltern Haus kam, stand der Vater unter der Türe und rief: «A der Tüfel hindere, wo chunsch jez du här und wo bisch du, daß me di nüd gseht?» — «A grad vor ech zue stahn ich ja, z'mitts in der Stube, gsehnd-er nüt?» fragte der Bub verwundert zurück. — «I gsehne kei Bitz vo-der!» entgegnete der Vater, dam es nachgerade unheimlich zumute wurde. Zuletzt am End dämmerte es dem Buben, was da ungrad mit ihm sein möchte. «Lueg da, Ätti, wellige Stei han ich da imene Rabenescht ine gfunde!» — «Mach weidli dä Stei use!» riefen Vater und Mutter voller Schrecken wie aus einem Munde. Flugs gab er dem Vater das weiße Steinlein in die Hand. Aber was gab's jetzt? «Herjeses, Ätti, wo bischt?» riefen die Mutter und der Bub. Denn jetzt stand der Bub im Licht, aber der Vater war dafür unsichtbar geworden. Dem aber war's, als ob er eine Kröte in der Hand hielte, und er warf das Steinchen auf den Tisch, und im Augenblick war der Tisch verschwunden. Jetzt fuhr der Vater auf, tappte nach dem Tisch und erwischte glücklich das Steinchen. Wie der Wind sprang er damit zum Haus aus und warf es mitten in den Sodbrunnen hinunter. Aber hei, wie das drunten geblitzt und gedonnert hat, nicht anders, als wenn Himmel und Erde zusammenstürzen müßten!

Was gibst du mir, wenn ich's wieder heraufhole?

Der Bub aber trauerte Zeitlebens um den Stein als um ein Kleinod und war seitdem nimmer so lustig, wie an dem Tage, wo er das Steinchen gehabt.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt