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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER VENEDIGER

Zu dem Sennen auf der Alp Chammli im Schächental, der mit Hirt und Knecht sein Vieh sömmerte, kam eines Sommers ein kleines verhudeltes Zottelmannli in weißen löcherigen Strümpfen, verschossenen himmelblauen Sammethöslein mit goldgelben Knöpfen an den Seiten und einem schäbigen zündfeuerroten Feckenkuttli. Es war schwarzbraun im Gesicht wie Tannenborke, und Augen hatte es wie glühige Kohlen. Es komme von Venedig, sagte es und fragte, ob es den Sommer über auf der Alp bleiben dürfe und bei ihnen schlafen und essen könne. Es sei mit dem landesüblichen Gliger zufrieden und mit der gewöhnlichen Sennenkost. Und überdies werde es alles recht und gehörig bezahlen. Der Senn nahm den seltsamen Fremdling gerne auf. Alle Morgen stand nun das Mannli beizeiten auf, stieg, mit einem feinen Hämmerlein versehen, hinauf zu den Wänden und Gräten und blieb den ganzen Tag aus. Am Abend spät erst kam es zurück und brachte allemal eine Menge der schönsten Steine und Strahlen mit, die es in Gand und Gufer sich zusammengesucht hatte. Die verlas es genau und bewahrte sie sorgfältig in verschiedenen Säcken auf. Die Aipler sahen ihm beim Ordnen und Packen zu und schüttelten den Kopf über die absonderliche Hantierung, meinten, der kuriose Geist sei nicht ganz recht unterm Hut: «'S git doch närschi Lüt uf der Welt!»

Zuweilen traf es sich, daß der Hirt, der die Kühe zu hüten hatte, und das Mannli ein Stück des Weges miteinander haldan stiegen. Einmal nahm der Hirt einen Stein auf und warf ihn nach einer ausbrüchigen Kuh. Das Mannli sah scharf hin, wo der Stein zu Boden fiel, lief hin und hob ihn auf, brachte ihn dem Hirten und sagte: «Ja, gelt, Ihr würdet auch nicht glauben, daß dieser Stein mehr wert ist als die Kuh, nach der Ihr damit geworfen.» —«Abbah, solcher Steine hat's hier übergenug!»



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brummte der Hirte und lief der Kuh nach. «Je nun, wie Ihr meint», sagte das Mannli, schoppte den Stein in den Sack und ging seiner Beschäftigung nach. Es klomm die steilsten Wände hinauf so leicht wie die Fliegen die Stubenwand.

Dem Hirten aber wollten des Mannlis Worte nicht mehr aus dem Sinne kommen. Er war ein armer Mann und hatte im Tale drunten Weib und Kind und besaß nur ein kleines Gütlein, das wenig abtrug, und oft genug hatte er schier gar vergessen müssen, daß die Blutzger rund waren. «Wer weiß», dachte er, «vielleicht hat's doch etwas auf sich damit, und wenn der Teufel aus Steinen Brot machen kann, machen ander Leut damit Geld!» und zuletzt griff er dann und wann insgeheim in den einen und andern Sack und füllte sich selber einen Habersack mit den schönsten Stücken. Es seien ja so viele, daß das Mannli es gar nicht merken werde, und überdies finde es ja täglich genug neue. Und in der Tat, das Mannli machte keine Miene, als ob es den Verlust bemerke. Als der Sommer um war, hatte es sieben schwere Säcke mit seiner Ware gefüllt. So jetzt sei seine Zeit um und die Arbeit getan. Es kehre jetzt in seine Heimat zurück. Und es machte seine Rechnung mit dem Sennen, bezahlte, was es schuldig war, und mehr als das, dankte und nahm Abschied von den Alpiern und schaffte seine Säcke ins Tal.

Im Spätherbst, als ausgealpt war und alle Arbeit auf dem Berg für dieses Jahr zu Ende, nahm der Hirt den Habersack mit den gestohlenen Steinen auf den Rücken, stieg über die Berge und wanderte dem Meere zu nach Venedig, um dort sein Glück zu versuchen. Aber in der großen fremden Stadt wurde es dem Manne denn doch bang, er werde sich nicht zurechtfinden und am Ende unverrichteter Dinge heimkehren müssen oder gar belogen und betrogen werden. Denn er konnte kein Wort weisch. Verloren wanderte er in den Straßen umher, um ein Unterkommen zu finden, das seinem mageren



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Geldsäckel angepaßt wäre. Wie er nachdenklich durch eine schmale Gasse ging, rief ihn aus einem hochgebauten Hause aufs Mal jemand an: «Ja so, Heini, seid Ihr auch hier! Kommt doch herauf!» Dem Hirten fuhr der Klupf in die Glieder, daß er stockstille stand, denn er konnte sich nicht entsinnen, in Venedig einen Bekannten zu haben. Die Stimme aber wiederholte: «Ei, so kommt doch herauf!» Da ging der Hirte in das Haus hinauf und fand dort in einer fürstlichen Wohnung einen kleinen vornehm gekleideten Herrn, den er nicht kannte. Der reichte ihm leutselig die Hand und hieß ihn nochmals freundlich willkommen, wie wenn sie seit alters gute Bekannte wären, und fragte, wie es stehe und gehe, ob die Abfahrt von der Alp gut vonstatten gegangen sei, und wie der Senn und der Knecht sich befänden. «Es ist mir eine Freude, Euch in meinem Hause als Gast zu beherbergen.» Jetzt erkannte der Hirte den fremden Herrn plötzlich wieder: es war der Steinsammler vom Sommer ab der Alp daheim im Urnerland. Verlegen stotterte er einige Worte hervor, denn der Diebstahl fiel ihm schwer aufs Herz, und er wollte sich gleich wieder davonmachen. Doch der Venediger lächelte freundlich und sprach: «Habt keine Sorge, guter Freund, ich weiß schon, was Euch drückt. Wisset, mir ist nichts verborgen. Aber deswegen soll Euch nichts geschehen. Ich bin stadtkundig und werde Euch bei Eurem Vorhaben behilflich sein.» Ob er wollte oder nicht, so mußte der Hirte der Einladung folgen und Quartier und Bewirtung annehmen. Weich war das Bett und üppig Speise und Trank.

Anderntags sagte der Venediger zu dem Manne: «Geht jetzt mit Eurem Sack einige Häuser weiter von hier bis an einen großen Platz. Dort steht ein Gebäude, dessen Marmorstiegen goldene Geländer haben. Da kehrt kecklich ein, zeigt Eure Steine vor, und sagt, sie sollen Euch dafür geben, was sie wert sind!» Der Hirte tat, wie der Herr ihn geheißen, und



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fand den Palast am angegebenen Orte. Man füllte ihm seinen Sack mit funkelnden Goldstücken und entließ ihn. Aber sein Gastgeber war übel damit zufrieden und schickte ihn nochmals zurück: «Sagt ihnen, Ihr habt den vollen Wert noch nicht erhalten, sie sollen Euch den gehörigen Preis blank und bar auszahlen, sonst werde ein anderer kommen und mit ihnen ein Wörtlein sprechen.» Da füllten sie ihm seinen Sack zum anderen Male mit Golddukaten. Aber noch war der Gastgeber nicht zufrieden: «Es ist noch immer nicht der volle Wert! Geht noch einmal hin, und sagt, wenn sie Euch diesmal nicht den vollen Preis erlegen, so kämet Ihr nicht allein zurück.» Da wurde der Sack zum dritten Male voll. Da sagte der Hausherr: «So, jetzt habt Ihr für Euer Leben genug. Kommt jetzt mit dem Gelde mit.» Sie stiegen nun miteinander viele steile Stiegen hinauf und gingen durch dunkle winklige Gänge. Dem Hirten wurde bang und hänger, und scheu schaute er zuweilen den Venediger an. Der aber lächelte bloß freundlich und sprach: «Habt keine Angst. Ich tue Euch nichts zuleide. Die Steine, die Ihr mir entwendet habt, hätten mich nicht reicher gemacht, als die andern, die ich auf Eurer Alp gesammelt habe. Aber Eines muß ich Euch sagen: Tut diese Reise nie mehr! Denn hättet Ihr hier nicht mich getroffen, Ihr wäret nimmermehr aus dieser Stadt lebendig herausgekommen!» Jetzt betraten sie ein fensterloses Gelaß und der Venediger stellte den bestürzten Hirten vor eine Wand hin, die wie der hellste Spiegel war und das Gemach erhellte, und sagte: «Schaut da hinein!» — und jener sah so klar und deutlich, als wenn alles grad hinter der Wand wäre, sein Dorf und sein Heimwesen vor sich; sein Weib saß grad auf dem Bänklein vor der Hütte und wusch und strählte die Kinder. Der Venediger sagte: «Gelt, Ihr wolltet auch, Ihr wäret schon daheim! Aber der Weg ist weit und die Reise mühsam. Aber wer weiß, vielleicht doch nicht so weit und so beschwerlich



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wie der Herweg. Und überdies, so wäre es gefährlich, mit so viel Geld alleine und zu Fuß zu reisen. Das machen wir anders. Nehmt Euren Sack gut auf den Rücken und Euren Stecken fest in die Hand und lauft die ganze Nacht ohne Unterlaß in der Kammer hier herum. Aber bleibt beileibe nicht einen Augenblick stehen. Und wenn Ihr dann denkt, es möchte Morgen geworden sein, dann geht getrost zur Tür dort hinaus, aber erschreckt nicht, wenn's ein wenig rumpelt und poltert. Und somit gehabt Euch wohl!» Ehe der Hirte dem seltsamen Wohltäter Dank und Lebewohl sagen konnte, hatte er ihn schon verlassen, er wußte nicht wie.

Der Mann tat nun, wie jener geboten, und lief die ganze Nacht ohne Anhalt in der Kammer herum. Als er glaubte, jetzt tage es draußen, ging er zur Türe. Die sprang mit einem Donnerklapf auf, so daß er erschrocken mit einem Satz über die Schwelle schnellte - mitten in seine Stube hinein, wo Frau und Kinder noch im Schlafe lagen.

Nun war der arme Hirte unversehens ein reicher Mann geworden. Aber er hat nicht zu seinem Sachli schauen können. Er meinte, er müsse den großen Herrn machen, und das ist allemal letz und gefehlt. In wenigen Jahren hatte er alles verspielt und verloren und war wieder so arm wie zuvor nach dem alten Spruch:

«Liechtli gwunne, Liechtli zerunne.»


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