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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DIE BERGFRAU UND DER HIRTENKNABE

Auf einer Alpweide am Rothorn schlief einst ein Hirtenknabe bei seiner Herde. Da träumte ihm, er höre fernher ein Silberglöcklein klingen. Er wandte sich um und sah eine wunderhelle Frau, die seiner weißen Leitkuh eine neue Schelle umhängte. Dann trat sie auf leisen Sohlen zu ihm hin, neigte sich zu ihm herab und sang ihm eine Weise, darob er nicht erwachen konnte. Als sie ihr Lied beendet, winkte sie ihm mit ihrer blütenweißen Hand. Und der Bube wußte nicht, wie ihm geschah, er mußte aufstehen und ihr folgen. Schwebenden Fußes schritt sie ihm voran gegen die Fluh zu, und dann weiter der gähen Wand entlang auf einem handbreiten Pfade, bis ein Torbogen sich auftat, und sie betraten selbander einen finsteren Gang, der ins Innere des Berges führte. Doch der funkelnde Edelstein im goldenen Stirnreif der Frau leuchtete mit seinem Glanz weitherum wie der hellste Lampenschein. Aber bald wurde der Boden unwegsam, und immer wilder das Gelände; über zackiges Felsgestein und scharfe Eisschründe schritten sie hin, so daß dem Knaben mit jedem Schritte bang und hänger wurde, und zuletzt mußte er sich an dem goldenen Gürtelband der fremden Frau halten, das ihr das schimmernde Faltengewand zusammenhielt. Bald überrieseite ihn Frost, bald glühte ihn Hitze an. Endlich kamen sie in eine großmächtige Halle, die schimmerte so hell, daß er, von all dem Glanz geblendet, die Augen wegwenden mußte. Aber schwer wie Blei fühlte er seine Glieder, daß er sich hätte schlafen legen mögen. Da reichte die Frau ihm einen goldenen Becher dar. Der Knabe trank ihn in einem Zuge aus. Da ging's wie ein Feuerstrom durch seinen Leib. Aber jetzt fiel ihm aufs Mal seine Herde ein und daheim das Mütterlein, und weinend begehrte er wieder hinaus aus dem Berge hinauf an die Sonne. Da sprach die Frau: «Denke nicht, woher du kommst.



Alpensagen-076 Flip arpa

Du darfst künftig nur mir gehören, und alle Schätze dieses Berges sollen dein sein!» Und sie reichte ihm einen zweiten Becher dar. Der Trank daraus machte ihn alles vergessen. Lange war er wie im Traum und wußte nicht, was mit ihm geschah. Die Frau sagte ihm viele Worte, deren Sinn er nicht verstand. Da aber war ihm aufs Mal, als wehe kühle Luft ihn an und würden seine Füße kalt wie Eis. Ein warmer Hauch strich über seine Stirn, und an den Händen spürte er feuchte Berührung. Eine vertraute Stimme sprach leise seinen Namen. Da griff er noch immer wie im Traume nach einem Becher, den die Frau ihm bot, und trank ihn mit geschlossenen Augen aus. Ein lauter Schrei erscholl. Er tat die Augen auf. Dunkel war es um ihn her. Rotes Fackellicht erhellte flackernd das Felsengelaß. Er lag wie tot auf einer Bahre. Neben ihm kniete die Mutter auf dem Eise und küßte ihm die Stirn, und zu seinen Füßen winselte sein treuer Hund und leckte ihm die Hände. Männer vom Dorfe trugen ihn aus der Gletscherhöhle dem Bach nach über die blumigen Staffeln ab durch den Wald in die Hütte seiner Mutter.

Der Knabe ist ein stiller, versonnener Mann geworden. Er ging zu den Kranken und Notleidenden in den Tälern und auf den Bergen und linderte Schmerzen und trocknete Tränen.

Und wenn wo das Leid Menschenmaß überging, beugte er sich mit mildem Lächeln über den Duldenden, strich ihm mit sanfter Hand über die Stirn, indem er jene Worte sprach, die einst die Bergfrau zu ihm gesprochen, und aller Schmerz war ausgelöscht.


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