Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER TOTENTANZ

Im Walde auf der Eggen im Natisserberge holzte eines Tages Michel, ein junger Bauer, der in der Quatemberzeit geboren war. Quatember-Kinder aber sind geistersichtig. Als Michel nach getaner Arbeit bei einbrechender Nacht in den menschenleeren Weiler zurückkehrte, um dort in seiner Hütte zu übernachten, sah er in dem Hause gegenüber alle Fenster hell erleuchtet, daß die Scheiben blinkten, und Schatten wie von Menschengestalten daran vorüber huschen. Alte fröhliche Tanzweisen tönten in die sternenhelle Nacht hinaus. «Das wird Jungvolk aus Rischinen sein», dachte Michel bei sich selber, «aber die sind nicht wohlbewahrt, daß sie so spät im Jahr und erst noch in den Tämpertagen hier im geheimen tanzen! Will doch gehen und sehen, wer sich da lustig macht. Aber zuerst eß ich zu Nacht.» Er bereitete sich hurtig einen Imbiß und nachdem er gegessen, ging er behutsam hinüber zur Haustüre. Die stand halb offen, so daß er lautlos zur Stubentüre kam. Die war nur angelehnt, und durch den schmalen Spalt sah er in den Raum, von vielen aufgesteckten Unschlittlichtern



Alpensagen-071 Flip arpa

und einigen Lampen taghell erleuchtet, oben am Tisch in der Ecke den Geiger in einem langen Fäckenrock, zum Tanz aufspielend, und einige andere Leute, die er nicht kannte, in alte Trachten aus Urväterzeiten gekleidet. So auch die tanzenden Paare, die in seltsamen Reigen sich hurtig drehten und kreisten, sangen und sprangen. Die schweren steifen Seidengewänder knitterten und rauschten und gaben einen seltsam hellen Ton wie ein feines Klirren und Klingen. Als Michel genauer hinschaute, sah er zu seinem Staunen, daß den Tanzenden allen wie kleine Eiszäpfchen und Eisblättchen, im Kerzenschein blinkend, in den Haaren und an den Kleidern hingelten und dingelten; aber auch die Finger der schneeweißen Hände schienen von Eis zu sein. Aufs Mal gewahrte Michel im Gewoge der kreisenden Paare ein junges, schönes Weib, in der üblichen Landestracht, das allein im Tanz sich drehte, mit einem Antlitz weißer denn Firnschnee. Mein Gott! fuhr's Michel durch die Seele: die gleicht, wie ein Tropfen 'Wasser dem andern, der Angela, die sie im Frühjahr begraben haben! Mein Gott, was ist das für ein Volk! Im selben Augenblick streifte die Gestalt an der Tür vorüber und winkte ihn mit der Hand herein - und ein eisiger Schauer wehte ihn an, wie ein Hauch aus einem Gletscherschrund, so daß ihn fröstelte durch Mark und Bein. Es war Angela, seine tote Geliebte! Aber jäh packte ihn das schwarze Grauen, am ganzen Leibe vor Entsetzen lottelnd stürzte er aus dem Hause und lief in seine Hütte zurück - er spürte den Boden nicht unter den Füßen —schlug die Türe ins Schloß und stieß den Riegel vor, schloff ins Bett und zog die Decke über den Kopf, vom Fieberfrost geschüttelt. So lag er da, und Stunde um Stunde verging, und er lag noch immer wach. Es mochte Mitternacht oder darüber sein, da ging die Hauspforte auf, es klopfte leise an die Tür des Schlafgadens. Michel wollte aufspringen und rufen, aber kein Glied konnte er rühren, und der Laut erlosch ihm in der



Alpensagen-072 Flip arpa

Kehle. Da ging auch die Kammertür wie von selber auf; es trat wer ein. Er hörte das Klirren und Klingen der Eisstücklein, und es näherte sich seinem Bette, zog sachte die Decke weg und legte sich zu ihm. Dem Michel war's, als müßte er vergehen, aber mit äußerster Kraft machte er das Zeichen des Kreuzes und stöhnte halblaut: «Heilige Jungfrau! — wer bist du?» Da neigte sich die Gestalt an seiner Seite über ihn und berührte seine Lippen, von seinem lebendigen Atem schöpfend. Da wich mit einem Schlage alle Angst von ihm, und eine vertraute Stimme sprach: «Ich bin Angela. Ich komme aus dem Aletsch. Mit anderen Toten muß ich im Eise wohnen, bis gebüßt ist, was ich im Leben gesündigt. Allein in diesen Nächten dürfen wir umgehen und unsere Buße den Lebenden kund tun, denn wir bedürfen ihrer Hilfe, um erlöst zu werden, sonst währt unsere Pein ewige Zeiten. Bitt für uns und gedenke mein!» — «Bei Gott dem Allmächtigen und allen heiligen Helfern, ich gelobe es dir!» flüsterte Michel. Da fühlte er abermals einen Kuß auf seinen Lippen, und die Gestalt löste sich von ihm und schwebte zur Tür in einem hellen Schein wie Sternenlicht und entschwand dem Blick.

Seit dieser Nacht war Michel ein anderer geworden. Fortan lebte er einsam und still, immerfort der Toten gedenkend und ihrer Pein, ein Freund und Helfer der armen Seelen und guten Geister.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt