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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER KREUZSTEIN

Vor alten Zeiten war der große Wald zwischen Agaren und Pfyn ein ebener Grund, überwachsen mit schönen großen Fruchtbäumen, so daß die Eichhörnchen die ganze Weite von einem Baum zum andern hüpfen konnten. Auf diesem Boden wohnte zu denselben Zeiten ein Bauer, Carus Edler genannt, mit seinen Söhnen und Töchtern. Er hatte große Herden Kühe, Rinder, Schafe und Ziegen. Er kam nie unter die Leute. Jahraus und jahrein sah er nur die Seinen. Aber das Schönste, das er hatte, das war ein seltsamer Stein, von seinen Ahnen ererbt. Der war wie ein Kreuz gebildet und strahlte alles Licht und alle Farben der Sonne und des Himmels wider.

Da kam ein großer Sterbet ins Land, und alle seine Kinder starben. Hinter dem Hof stand ein schwarzer Kirschbaum. Unter seinem Stamm begrub er sie. Ihm und allen seinen Ahnen aber hatte geträumt, daß dieser Kreuzstein das Wahrzeichen seines Hauses sei in Glück und Unglück. Also stellte er ihn zu Häupten der Toten auf und betete alida jeden Tag.

Nach einer Weile ward auch seine Frau schwer krank, und niemand konnte sie heilen. Da vernahm er, daß in der Burgschaft Leuk ein Mann wohne, der die Himmelssprache kenne und wider alle Krankheiten Rat wisse. Da machte sich Carus Edler auf nach Leuk. Er fand den Wundermann zu Hause und klagte ihm seine Not. Da sagte der Doktor: «Ich will dir ein Mittel geben, das deiner Frau sicher helfen wird.» Und er holte ein Fläschlein hervor mit dem Saft und der Kraft seltener Kräuter. Es koste zehn Taler, ob er Geld bei sich habe. Carus Edler sprach: «Geld? Was ist Geld? Ich lebe von Milch und von dem, was Anger und Acker bringen.» So solle er ihm statt der Taler Vieh geben, meinte der Mann. Freilich, das könne er haben, gab der Bauer zur Antwort, er solle nur kommen und sich zwei schöne Kühe auslesen.



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Das deuchte den Mann ein guter Handel, und er gab dem Bauer gerade einen Knecht mit, der die Kühe holen sollte. Der ging mit auf den Edlerboden, nahm aus der Herde zwei der schönsten Kühe und trieb sie heim. Als er sie in den Stall gestellt hatte, ging er zu seinem Herrn und sagte: «Eine prächtige Herde hat er, der Carus Edler; aber das Schönste ist ein großer Stein, der von Licht und Farben funkelt.» Da fragte der Herr, ob der Bauer ihm auch etwas für den Gang gegeben habe. «Nein», sagte der Knecht, «nur die beiden Kühe für die Medizin.» — «So bleibt er mir das noch schuldig», sagte der Doktor.

Der Bauer gab der Frau den Trank, aber es half nicht. Nach wenigen Tagen starb sie. Da begrub er sie neben den Kindern unter dem Kirschbaum. Er selber aber ging hin und hintersann sich. Er ließ alles liegen und stehen und tat nichts mehr. Das Vieh verdarb, Schafe und Ziegen verliefen sich in den Bergen, erfielen oder wurden von reißenden Tieren zerrissen. Nur eine kohlschwarze Geiß blieb ihm noch. Er nannte sie nur die Faule, weil sie bloß in seiner Nähe weiden wollte.

So gingen einige Jahre. Da kam es dem Doktor in Leuk eines Tages wieder in den Sinn, daß ihm der Carus Edler noch den Lohn für den Knecht schulde. Er ging zum Richter und bat ihn, daß er ihm zu seinem Rechte verhelfe. Der Richter sandte seinen Boten. «Geh hin zu Carus Edler auf den Edlerboden und richt ihm aus, daß er dem Doktor zu Leuk zu zahlen habe die Schuld für den Knecht.» Der Bote sagte: «Herr, schreibt's mir auf, daß ich's nicht vergesse und recht sage.» Da nahm der Richter ein Ziegenfell, schrieb alles drauf und der Bote rollte es auf, nahm's unter den Arm und ging. Er fand den Bauer und las ihm vor, was auf dem Pergament stand. Carus Edler aber sagte, die schwarze Geiß sei alles, was er noch habe; bald werde er sterben, und dann könne



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der Doktor kommen und holen, was noch da sei. Der Bote aber schaute immer nach dem Kreuzstein, der in allen Farben des Himmels schimmerte. Da sagte der Bauer: «Nur diesen Stein auf dem Grab soll niemand anrühren.» Der Bote ging und überbrachte des Bauern Antwort dem Richter und sprach auch von dem sonderbaren Stein auf dem Edlerboden. Das sei kein Stein, sondern ein Wunder.

Der Richter gab dem Doktor Bescheid und redete auch von dem Stein, der den Boten ein Wunder gedeucht. Und sie beschlossen miteinander zu Carus Edler zu gehen und den seltsamen Stein zu beschauen.

Andern Tags stiegen sie auf den Edlerboden und besahen den Block, und sie erkannten sogleich, daß es ein Edelstein war von unermeßlichem Werte. Das aber schien der Bauer nicht zu ahnen, und so sagten sie ihm, sie würden wiederkommen und den Stein holen, da er anders nicht bezahlen könne. Der Bauer bat, den Stein stehen zu lassen, denn sein Leben und das Leben seiner Ahnen sei diesem Stein verhaftet in Glück und Unglück. Darunter lägen ihm Weib und Kinder begraben. Wenn er tot und gestorben sei, sollten sie wiederkommen und alles nehmen, was übrig sei, den Stein aber nicht berühren.

Die beiden sagten nicht ja und nicht nein und gingen heim. Auf dem Wege berieten sie, wann sie den Stein holen wollten. Der Richter sagte: «Morgen habe ich nicht der Weil, da ist Gerichtstag, aber übermorgen wohl.» Und der Doktor sagte: «Morgen habe ich auch nicht der Weil, ich habe ein Tränklein ob, das ich fertig sieden muß, aber übermorgen wohl.» Bei sich aber dachte jeder, er gehe schon morgen in aller Frühe und hole den Stein für sich allein.

Am andern Morgen zogen beide aus. Ein jeder begleitet von vier starken Trägern mit einer Bahre. Der eine aber nahm die Landstraße gegen Agaren, der andere den Weg gegen das



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Vonöischi, jeder, damit der andere nicht merken sollte, was er im Sinne habe.

Als der Richter auf den Edlerboden kam, da war der Doktor schon da. «Du hast doch gesagt, du hättest heute keine Zeit, und jetzt bist du doch da», sprach dieser. «Und du?» erwiderte der andere, «du bist auch da.» Da sagte der Richter: «Ich will den Stein für mich, und du willst ihn für dich, aber meine Männer sind stärker als die deinen; wir werden sie töten, und dann gehört der Stein mir ganz allein.»

Als Carus Edler sah, daß die beiden mit je vier Trägern da waren, um den Stein mit Gewalt zu holen, da warf er sich über den Block, so daß er ihn mit dem ganzen Leibe deckte, breitete die Arme aus zum Kreuz und rief: «Eher laß ich mein Leben als den Stein!» Da stürzten der Richter und der Doktor sich beide über ihn, um ihn wegzureißen. Aber da fuhr ein Blitzstrahl vom Himmel hernieder mit einem gewaltigen Donnerschlag und erschlug alle drei. Starr vor Schrecken standen die Träger und dann eilten sie, was sie laufen konnten, davon.

Einige Tage danach ermannten sich die Leute des Doktors und gingen hinauf auf den Edlerboden, um zu sehen, was aus den Dreien geworden sei. Als sie zu der Stelle kamen, wo Carus Edlers Haus gestanden, da lag da ein großer Felsblock.



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Darauf lag ein weißes Lamm, und zu beiden Seiten des Blokkes schnoben zwei kohischwarze Drachen Feuer und züngelten zu dem Lamm hinauf. Da sprach einer der Träger zu den andern: «Grad wie dies Lamm hat er auf dem Stein gelegen!» Und er machte das Zeichen des Kreuzes. Da verschwand das Lamm und die Drachen fuhren brüllend hinauf in die Berge, und von Tag an ward der Ort wild und öde und von Menschen und Tieren gemieden.


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