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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER GANG INS PARADIES

Vor vielen Jahren lebte auf Schattenhalb ein armer Keßler. Nur mühsam ernährte er mit seinem Gewerbe Frau und Kinder. Alle Dörfer auf der Schattenseite hatte er vorlängst durchwandert. Dort gab es keine Arbeit mehr für ihn. Müde und traurig zog er über den Rotten hinüber auf die Sonnenseite nach dem Dorfe Guttet. An vielen Türen klopfte er an, doch nirgends bekam er Antwort. Nur den alten Pfarrer traf er zu Hause. Als er ihn um Arbeit bat, erzählte der ihm, der große Sterbet habe die Bewohner alle dahingerafft, er allein vom ganzen Dorfe sei noch am Leben. «Ich habe genug Kessel und Pfannen, gute und schlechte, ich bedarf deiner nicht!» schloß er. «Aber ich will dir den Weg weisen an einen Ort,



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wo du der Arbeit mehr als genug finden wirst.» Gleich war der Keßler dabei, und auf dem Fuß folgte er dem Pfarrer auf eine hohe Fluh. Von dem Felsgupf ging ein schmaler Pfad, einem Strange vergleichbar, hoch durch die Luft ob Berg und Tal hinüber auf die Spitze des Gliserhorns. Von dort leuchtete ein heller Feuerschein.

Der Pfarrer riet ihm, unentwegt den Pfad zu beschreiten und stetig auf das Licht zuzuwandeln. «Wenn nun der Abend sinkt und es finster geworden ist, dann werden dir die bösen Geister zum Schein große breite Brücken bauen, daß sie dich trügen. Du aber darfst nie und nimmer das Licht aus den Augen lassen. Sonst stürzest du in die Tiefe und fällst zu Tode. Unter der Brücke ist das Meer, dessen Wasser sind erst grün und ruhig zu schauen, dann aber rot wie Blut und wallend und brausend, dann schwefelgelb, strodelnd und brodelnd.»

Der Keßler dankte dem guten Pfarrer, gab ihm die Hand zum Lebewohl, stemmte seinen Stecken ein und betrat getrost den luftigen Pfad. Mit sicherem Schritte wandelte er vorwärts. Tief, tief unter ihm schillerte grün das Meer. Mit eins aber wurde es purpurrot wie Blut, und unsicheren Ganges stapften seine Füße, und er fing an zu schwanken. Aber mit seinem Stabe hielt er sich im Gleichgewicht und schritt unverzagt weiter. Getreu der Lehre und Mahnung des Pfarrers achtete er auch nicht der breiten, prächtigen Brücken, welche die bösen Geister ihm schlugen, damit sie ihn vom Wege ab ins Verderben lockten. Unverwandt schaute er in das Licht hin auf dem fernen Berge. Heller und heller flammte es bei jedem Schritte, den er auf dem schmalen Pfade fürder tat. Endlich langte er auf dem Gipfel des Berges an, müde von der Wanderung auf dem schwanken Stege. Er stand vor einer prächtigen Kirche mit zwölf großen Porten. Zu beiden Seiten des Hauptportals stand je ein Wächter in weißem Gewande.



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Der eine trug auf der Schulter eine Hacke, der andere eine Schaufel. Der Keßler wollte sein Räf voll des schweren Werkzeuges niedersetzen, damit er, wie es sich schickte, aller Lasten ledig in den Dom trete. Jene aber bedeuteten ihm, er solle sein Gerät nur mit hineinnehmen. So schritt er mit der schweren Bürde durch das Portal in die Kirche hinein. Innen war alles hell erleuchtet und voller Seelen, die waren in weiße Gewänder gehüllt. Durch den Raum ging ein breites Mittelschiff, das vorn und hinten einen Ausgang kreuzte. Rechter Hand des vorderen Kreuzganges erblickte er eine Totenbahre. Er stellte seine Werkzeugkiste darauf ab und kniete erschöpft vom rinnenden Schweiße in einen Stuhl und lauschte den wundersamen Klängen einer himmlischen Musik, die aus dem Chore klang. Die Seelen im Kreuzgang saßen, den Rücken gegen das Portal gewandt, und hielten die Hände vor das Gesicht. Die Seelen im Kreuzgang vor dem Chor ruhten, die Arme auf dem Gestühle. Der Keßler staunte und staunte. Aber alles blieb stumm und starr, doch vom Chore scholl heller Jubel und Gesang. «Wie schön muß es erst dort sein», sagte der Keßler bei sich, und er erhob



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sich und wollte dorthin gehen. Aber zwei Meßbuben in weißen Kleidern hielten ihn fest: «Du bist nicht sauber genug, drum mußt du eine Weile noch warten!» So geduldete er sich auf ein Zeitlein. Aber als die Knaben von ihm gingen, da stand er wieder auf und schritt nach vorne. Da traten zwei heilige Männer zu ihm, die waren in rote Festgewänder gekleidet. «Warte!» sprachen sie. «Du bist schmutzig; zuerst wollen wir dich waschen. Erst wenn du rein bist, darfst du zu jenen gehen, die da singen und lobpreisen.» Sie nahmen ihn am Arme und schritten mit ihm durch die Türe des Kreuzganges, erstiegen die Treppe eines hohen Turmes und betraten ein schönes Gemach. Dort erblickte er zwei fest gedrehte Geißeln, zwei große Wasserläufe aus hellem Metall und allerhand Waschgefäße. Die Männer füllten die Zuber mit Wasser, zogen ihm die Kleider ab dem Leib, gossen zuerst laues, dann süttiges Wasser über ihn aus und peitschten ihn mit den Geißeln, daß sein Blut rann und die Haut in Fetzen von ihm fiel. Dann begossen sie ihn mit eiskaltem Wasser; sein Leib bekleidete sich mit junger, weißer, feiner Haut. Die Schmerzen wichen, ein wundersames Wohlbehagen überkam ihn. Dann warfen sie ihm ein neues schlohweißes Hemd über und sprachen: «Jetzt darfst du in den Chor gehen.» Und sie geleiteten ihn selber hin. Dort hießen sie ihn in einen großen schönen Betstuhl knien und geboten ihm: «Nun bitte den himmlischen Vater um eine ewige Wohnstatt, so wie du dir sie wünschen magst!» Er kniete nieder und betete das Vaterunser. Kaum hatte er sein Gebet beendet, da standen die Meßbuben wieder vor ihm und winkten ihm, daß er ihnen folge, um einem andern Raum zu machen. Sie verließen den Dom und wanderten wohl eine halbe Stunde lang auf einer schön gepflasterten Straße bis zu einem Weinberg, der voll reifer Trauben hing.

«Iß, soviel dich gelüstet!» sagten sie. Er tat also. Und jedesmal,



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wenn er eine Beere zupfen wollte, war er schon satt. Als er von allen Sorten gekostet hatte, reichten ihm die Chorknaben einen goldenen Schlüssel an grünem Bande zu dem Hause, das er hinfort bewohnen solle. Sie geleiteten ihn zum Eingang und schlossen die Türe auf. «Aber mit nur einem Schlüssel mag ich kaum alle Türen auftun», meinte der Mann. «Dieser Schlüssel öffnet alle Schlösser», erwiderten die Knaben. Dann schieden sie, und der Keßler wußte nicht, wie ihnen danken. «Wir werden bald wiederkommen und nach dir sehen, wie es dir gefällt», riefen sie noch und schon waren sie fort.

Nach einigen Tagen kamen sie wiederum zurück und fragten, wie es ihm ergehe. «Ich bin wohl und zufrieden», antwortete er, «nur ein wenig langweilig ist's zu Zeiten; man sieht halt hier nie jemand. Darf ich drum nicht meine Leute zu mir nehmen und vielleicht auch die andern Verwandten holen?» «Das geht nicht wohl an», versetzten die Knaben, «aber hab noch ein Weilchen Geduld, dann werden sie schon von selber kommen, freilich nicht gar alle, aber die meisten.» Und sie wiesen zum Dome hin: «Siehst du dort vor dem Portal den Bischof mit der Mütze und dem Krummstab? Der kann lange warten, er kommt nicht hinein!»


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