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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DER HEILAND IM WALLIS

Als unser Herr noch auf Erden ging und im Morgenlande unter den Juden wandelte, da sprach eines schönen Morgens der heilig Sankt Peter zu ihm: «Ei hör, lieber Meister, du bist denn doch ein rechter Tor, daß du noch immer aller Welt im Judenlande helfen magst. Ubel ist der Dank, den du von diesem Volke erntest; sieh dich nur um, die Ohren der Tauben, die du öffnest, sie sind nur offen, Schmähreden über dich zu hören; die Zungen, die du lösest, sie lästern dich schamlos. Und die Augen, die du helle machst, sie spähen Tag und Nacht nach dir, um Arges an dir zu erblicken, und die lahmen Hände, die du heilest, sie regen sich, um Steine zu greifen, die sie nach deinem Haupte werfen könnten. Traun, wär ich der Wundertaten mächtig, die du verrichtest, längst schon hätte ich den Staub dieser undankbaren Stätte von meinen Füßen geschüttelt, und beträte andere Länder und ließe meine Wunder walten an Menschen, die deiner Wohltat würdig sind in Dankbarkeit.»

Stille vernahm der Herr die Worte des heiligen Sankt Peter und sann eine Weile nach. Dann tat er nach des Jüngers Willen, nahm seinen Stab zur Hand, und so durchzogen sie selbander die weite Welt und taten den Menschen Gutes.

Da kamen sie auf ihrer Fahrt auch in das Alpenland, von Tal zu Berg, von Berg zu Tal, und allerorten machte der Meister die Menschen gesund von allerlei Siechtum und Bresten, und das Volk war dankbaren Herzens.

Aber den heiligen Sankt Peter stach alsbald eitler Hochmut, als er des Volkes Ehrfurcht und Dankbarkeit ersah. Und hinter des Meisters Hand ging er hin und fragte die Leute, welchen Wunsch sie noch hätten, damit er den Herrn, seinen Meister, in ihrem Namen bitte, ihnen denselben zu erfüllen. Die Leute aber hätten in den Tälern statt der Gletscher und



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Firne gar zu gerne Feld, Acker und Matte gehabt, und alsbald taten sie dem Jünger ihren Wunsch kund. Der tat gar gnädig und versprach, ein gutes Wort für sie zu reden bei seinem Meister. Und eilig lief er hin zum Herrn und trug ihm die Bitte vor. Und wieder hörte unser Herr ihn stille an, sann eine Weile, und nickte Gewährung.

Und wo vordem grüne Eisschründe sich getürmt und graues Felsgeschiebe sich gehäuft und dumpf der Firn gebrüllt, da dehnten sich alsbald herrliche Felder aus und grüne Matten, darauf üppige Gräser, duftige Kräutlein und bunte Blumen sprossen.

Bald aber schied der Heiland von den Bergen, um ins Unterland hinabzusteigen. Aber bevor er weiter wanderte, da fragte er das Volk, ob sie noch eine Bitte an ihn hätten. Und also war es auch: neue Plage, neue Klage! Geschwunden waren die kühlen Firne und eisigen Gletscher! jetzt war es viel heißer in Tal und Berg, und die Gräser auf den Matten verdorrten und wurden rot und tot unter den Strahlen der Sonne. Und wider dieses Ubel sollte der Heiland helfen mit seiner Kraft und Kunst. Der Herr aber lächelte und sprach: «Feuchte tut der Erde not! Anger und Acker müssen gewässert werden. Nun saget Leute, was ihr wollt: soll ich es tun, oder wollt ihr es tun?» Und eines Mundes sprachen alle: «Herr, du hast bis anhin weise und wohl an uns getan; du walte deines Werkes weiter!» Nur einer blieb stumm und kam nicht aus dem Sinnen und Minnen: der Walliser.

Der heilig Sankt Peter aber sah's und, abseits von des Herrn Auge, schlich er geschwind zu denen aus dem Wallis, tupfte sie auf die Schultern und sprach: «Ei, ihr guten Leute, laßt nur getrost den Herrn das Ding zu Handen nehmen, denn euch ist er vor allen andern in Gnade zugetan. Wahrlich, er ist ja recht eigentlich auch ein Walliser!» — «Was du nicht sagst! Ein Walliser ist jener?» schrien die aus dem



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Wallis alle voller Zorn. «Was, er ist ein Walliser? Wie will er denn mehr vermögen als wir selber? Nein, nein, wenn dem so ist, dann wässern wir unsern Boden lieber selber!»

Seit dieser Zeit wässert im ganzen Schweizerlande sonst der Heiland allenthalben Äcker und Wiesen, Weiden und Wald; im Wallis aber wässern die Walliser selbst ihre spärliche Erde.


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