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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


VOM LAUFENDEN JUDEN

Der Schuhmacher Ahasver kam eben von einem Gang in die Stadt zurück, ein Paar zerrissene Schuhe über den Arm gehängt, zwischen den Fingern einen Groschen drehend, den er für seine Arbeit von dem Kunden erhalten hatte. Wie er eben über die Schwelle seiner Werkstatt treten wollte, wälzte sich in dichtem Gedränge ein johlender Volkshaufe die Straße herauf. Ein blasser Mann, über und über mit Blut bedeckt, schleppte, von rohen Kriegsknechten mit Flüchen und Fußtritten getrieben, ein schweres Kreuzholz zur Richtstätte. Nahe am Hause des Meisters strauchelte der Gepeinigte und brach unter der Last zusammen. Mit Stockschlägen und Lanzenstößen trieben die Soldaten ihn wieder auf, und die Menge schüttelte die Fäuste und schrie Hohnworte. An Ahasvers Haus vorüberschwankend, sank der Erschöpfte abermals in die Knie, aber mit tastender Hand stützte er sich gegen die Wand und hielt sich am Türpfosten fest. Ahasver, der auf der Schwelle stand, stieß ihn mit harter Faust von der Mauer fort. Da rief eine Stimme: «Wehe, wehe, wandern wirst du, solange die Welt währt, bis ans Ende der Zeiten zum Jüngsten Tag!» Und zur selbigen Stunde trieb es den Juden stehenden Fußes von seiner Heimstatt, ohne Abschied von Weib und Kind. Er hat sein Haus nimmer betreten.

Tag und Nacht lief er ziellos in die Welt hinaus; und nimmer sollte er weder Rast noch Ruhe finden, wohin er auch seinen Fuß setzen mochte, und keine Stätte auf Erden, sein Haupt hinzulegen. Und selbst wenn er einen Imbiß nahm, so schlang er die Brocken hastig im Gehen und Stehen hinunter. Und noch immer baumeln ihm die Schuhe über den Arm herunter, und in der Hand hält er jenen Groschen noch. Der ist sein einziger und letzter Zehrpfennig. Er wechselt ihn nie, und wo er hinkommt, verzehrt er nur diesen. Aber allemal,



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wenn er ihn ausgegeben hat, läuft er dreimal um den Tisch herum, und er klimpert ihm wieder in der Hand. Ururalt ist der laufende Jude zu schauen und riesengroß, mit langem, wehenden Bart, der ihm bis zu den Knien herablampt. Und angetan ist er in einer seltsamen Tracht, ganz zerschlissen und zerrissen, wie kein lebender Mensch sonst sie trägt in keinem Lande. Sein Schatten aber reicht weiter als Menschenmaß.

Auf seinem ewigen Irrgang, ruhelos die weite Welt durchwandernd, kam Ahasver einst auch ins Alpenland. Die Berge übersteigend, wo sie am höchsten sind, ging er über die Grimsel. Rhone und Aare strömten, ihren Quellen entspringend und alle Gewässer sammelnd, vollen Laufes talab, der Ebene zu. An den Bergen zogen sich sonnenhaib üppige Rebengelände. Eichenhaine und Buchenwälder wiegten die Wipfel im Winde, belebt von Scharen zwitschernder Vögel. Weite Gebreite fruchtbaren Ackerlandes und saftige Wiesen dehnten sich in den lieblichen Talgründen, und zwischen Obstgärten versteckt lagen behäbige Dörfer und heitere Weiler in den üppigen Fluren. Fröhliche Menschenkinder mit frischen Gesichtern und glänzenden Augen hausten in den hellen Gehöften. Freundlich boten sie dem scheuen Fremdling Willkomm und hießen ihn niedersitzen an ihren reichlich gedeckten Tischen. Würziges Brot und süßer Wein waren der schlichteste Imbiß, den sie ihm boten. Er aber durfte nicht den Staub von seinen Schuhen schütteln, daß er verweile; stehenden Fußes trieb es ihn weiter unentwegt. Doch aber nach fünfhundert Jahren, nachdem er viele Länder der Erde durchwandert, kam Ahasver desselbigen Weges gegangen. Dichtes Nebelgewölke lag über dem Land, naßkalt nieselte die Luft. Plötzlich zerblies ein Windstoß die Wolken, so daß die Nebelfetzen stoben. Schwarze Tannenwälder deckten die steilen Halden und Hänge bis hinauf an Fels und Fluh. Ächzend knarrten die mächtigen Stämme unter der Wut des chutenden



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Sturmes, und der Luft bog die Äste und zerzauste die Wipfel. Heiser krächzten die Krähen, und lichtscheue Eulen schrien aus dem Gefelse finsterer Klüfte. Nirgends waren Dörfer zu sehen, nirgends ein einsam Gehöft, nichts als blauende Wälder, soweit das Auge reichte. Endlich sah Ahasver weitweg einen Rauchstreifen aus dem Walde aufsteigen. Er ging darauf zu und kam zu einer Hütte. Dort hielten einige Köhler Haus, ernste schweigsame Leute, die boten ihm altbackenes Schwarzbrot und Bier, aus den jungen Sprossen der Tannen gebraut. Er aber zog weiter ohne Rast.

Doch aber nach fünfhundert Jahren kam Ahasver wieder in jene Täler. Der Pfad, den er einstmals durch dichte Wälder gegangen, war verschüttet von Gand und Gufer. Kein Busch noch Baum war mehr zu sehen, ringsum nur kahles Gestein. Hier und da nur wuchs ein spärlich Gräslein. Totenstille war es, nur vereinzelte Bergdohlen flatterten hin und wieder, und dann und wann pfiff gell ein Murmeltier. Von den Bergen herunter



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hingen bis tief ins Tal die grünblauen Eiszungen der Gletscher und aus den weißen Firnen ragten schwarz die scharfen Nüssen und Tossen verwitterter Felsen, und eisig fegte der Wind von den Höhen. Keine lebende Seele begegnete ihm in der Ode. Da setzte sich Ahasver auf einen Stein in der Tiefe des Tales. Ringsum ragten jäh die Wände und Gräte empor. Da saß er und weinte. Dann zog er weiter. Und wenn er das nächste Mal wiederkommt, dann werden auch die lieblichen Talgelände, die grünen Matten und grasreichen Triften der Alpen vom Schnee bedeckt und vom Eise begraben sein. Dann aber wird er alida die Stätte finden, wo er endlich seinen müden, ausgezehrten Leib wird ausstrecken dürfen zur ewigen Ruhe.

An manchen Orten ist der laufende Jude vorübergekommen, und viele Leute haben ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Einmal kehrte er bei strömendem Regen zu Visp im Haus einer armen Witwe ein, ganz zerzaust von Wind und Wetter. Die Frau stellte ihm einen Sitz ans Herdfeuer, damit er sich und seine Hudeln an der Glut trocknen möge. Er aber blieb nur einen Augenblick an der Wärme stehen, dann lief er eilig um den Tisch herum. Die Frau, die eben am Käsen war, bot ihm Molken an, die waren aber süttig heiß. Der Jude nahm den Napf und schüttete, nein schleuderte die heiße Brühe, damit sie erkühle, mit solcher Wucht von einer Gebse in die andere, daß der Sprutz bis ans Dach fuhr und wieder in die Gebse zurückfiel, aber kein Tröpfchen ist nebenausgegangen. Dann schlürfte er gierig die Milch hinunter. Plötzlich erblickte er das Bild des Gekreuzigten in der Ecke. Da packte ihn die wilde Wut, daß er am ganzen Leibe lottelte, und aufstampfend stürzte er mit einem wüsten Fluche zur Türe hinaus, so daß es der Frau grauste. Er aber enteilte, wie vom Sturmwind getrieben, taleinwärts und klomm die hohe Bergwand hinan und war verschwunden.


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