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ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


WIE DAS DORF BELLWALD SEINEN NAMEN BEKAM

In jenen weltenalten Tagen, als die Erde eben erschaffen worden, sprach eines schönen Morgens Gottvater zum Erzengel Michael: «Schnüre dein Bündel und steck hinein, was dir und mir zu einer weiten Reise nötig ist; denn ich will ausgehen und mir beschauen, was ich geschaffen habe, und du magst mich begleiten.» — Das ließ sich der heilige Michael nicht zu zweien Malen sagen, mit Freuden tat er, was ihn der Herr geheißen.

Bald fuhren die beiden himmlischen Pilger die Weite und Breite durch alle Länder der Erde und beschauten das Werk der Schöpfung, und alles schien ihnen wohlgetan. Der heilige Sankt Michael aber war vor übergroßem Wundern und Staunen lauter O und A! So wanderten sie selbander alsgemach durch das blühende Land Italien herauf und stiegen langsam über den Albrun ins Wallis hernieder nach dem armen Gorns. Da klaffte eine baumlose, wilde Klamm jenseits Aernen, an deren nackten Felskanten die Wasser der Rhone sich brachen, und droben dehnte sich eine öde Steinhalde, bar gebrannt von der Sonne. Und hier zum ersten Male auf der ganzen Wanderung verließ den Erzengel sein Staunen und er sprach: «Traun, dieses haben deine Hände nicht vollendet, Herr 1» — Gottvater verzog die Brauen und gab zur Antwort: «Nun, was nicht ist, kann allemal noch werden. Schau !» Und alsobald waren Tobel und Halde mit einem gewaltigen Walde bekleidet. Taufrisch standen die Bäume und rauschten im Morgenwinde. Und der heilige Michael stand still und staunte.

Wie aber die beiden Wanderer gen Aernen kamen, da erschollen in allen Dörfern weit im Rund die Sturmglocken und brüllten die Harsthörner. Aus allen Häusern stürmten schreiend in wildem Lauf bewaffnete Mannen. «Was gibt's, was



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gibt's?» fragte der Herrgott einen Bauer, der eben vorübereilte. «Ja, was gibt's wohl?!» rief jener und rannte zu. «Hast du denn keine Augen im Kopfe, oder siehst du vor lauter Bäumen den Wald nicht, der da drüben aufs Mal aus dem Boden geschossen ist? Der muß unser werden, eh ihn die andern für sich nehmen!» Und fort war er wie's Bisiwetter. «So also pfeift hier der Wind», sprach da Gottvater zum heiligen Sankt Michael, «sieh zu, zuletztamend werden wir zum Dank für das gewirkte Wunder noch müssen richten und schlichten gehen und uns blutige Köpfe heimholen, denn diesem Volk ist's schwer recht zu machen.» Also schritten sie geradenwegs dem neugeschaffenen Walde zu; der widerhallte bereits von Kriegsgeschrei und Kampfgetümmel. Gottvater aber trat mitten unter die Streitenden: «Hört, Leute», sprach er gütig, «ich will euren Streit schlichten zu eines jeden besten.» Die aufgebrachten Bauern murrten und knurrten zuerst noch eine Weile, gaben dann aber Ruhe, und Gottvater waltete seines Amtes als Richter. Er teilte jedweder Gemeinde ein Stück des Waldes zu, wies gerecht war und billig, und alle waren des wohl zufrieden.

Als die beiden Wanderer nach vollbrachtem Werke talaus zogen, da schauten sie bei Lax noch einmal hinter sich ins Tal zurück. Da fragte aufs Mal der heilige Sankt Michael: «Aber was ist denn das für ein Dorf dort oben?» — «Welches?» fragte der Herr. «Das dort ob dem Walde, den du heute erschaffen.» Und er deutete dem Auge des Herrn mit dem Finger den Weg. «Welcher Teil war diesem Dorfe zugesprochen?» — «E, wo bin ich nur mit meinem Kopf gewesen», erwiderte Gottvater und schüttelte bedenklich sein Haupt, «wahrlich, dieses Dorf habe ich übersehen. Aber es sei. Die Leute sind selber schuld, warum sind sie nicht wie alle andern zur Verteilung gekommen? Gewiß aus Faulheit oder Furcht!» Dann aber sann er lange nach und endlich



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sprach er: «Aber gerecht ist's gleichwohl nicht, daß mein Segen allen andern frommen soll, nur einzig diesen nicht. Vom Walde freilich kann ich ihnen nichts mehr geben; der ist und bleibt verteilt. Drum möge ein guter Name den Schaden heilen, den ich im Vergeß ihnen angetan. Ihr Dorf, es heiße fürder: Bellwald.»


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