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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


43. Die Starken

In einem Orte waren zwei Freunde. Der eine hieß Said Ajirasin, der andere Hadj M'hammed. Die beiden waren sehr stark. Die Heiligen hatten ihnen ihre Stärke verliehen.

Eines Tages saßen Said und Hadj M'hammed auf dem Männerplatze und stritten miteinander, wer von ihnen stärker und tapferer sei. Said Ajisarin sagte: "Glaube mir, ich bin stärker und tapferer." Hadj M'hammed sagte: "Getraust du dich auf dem Grabe eines Heiligen die Nacht zu verbringen; auf dem Grabe des Heiligen ein Schaf zu schlachten, zu kochen und zu verzehren?" Said sagte: "Ich bin bereit, es zu tun." Hadj M'hammed sagte: "Tue es also, und du wirst sehen, daß ich noch mehr wage."

Als es Abend war, ging Hadj M'hammed voraus zu dem Grabe des Heiligen. Er machte zur Seite ein Loch und stieg hinein. Er schob die Knochen des Heiligen beiseite und hockte sich neben den Knochen hin. Als es Nacht war, kam Said mit einem Schaf zum Grabe des Heiligen. Said schlachtete das Schaf; er zog dem Schaf das Fell ab und hing es über dem Grabe auf. Dann zündete er auf dem Grabe ein Feuer an und röstete die Leber. Er wollte anfangen, die Leber zu verzehren. Hadj M'hammed streckte aber durch das Opferloch seine Hand aus dem Grabe und sagte (mit hohler Stimme): "Bitte, gib mir davon zu essen." Said sah die Hand. Said hörte die



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Stimme. Said begann zu essen und sagte: "Was, du bist tot, und mußt immer noch betteln? Das ganze Leben hindurch hast du gebettelt, bis du ein Heiliger wurdest, und nun mußt du nach deinem Tode noch die Menschen anbetteln?" Hadj M'hammed sagte: "Ich bitte dich, gib mir nur ein klein wenig." Said sagte: "Ein wenig will ich dir abgeben. Dann aber sei zufrieden und bettle nicht wieder!" Said riß ein Stückchen von der Leber ab und warf sie in die Hand des Hadj M'hammed. Hadj M'hammed zog die Hand durch das Opferloch zurück. Said verzehrte den Rest der Leber.

Said nahm einen Topf, setzte ihn auf das Feuer über dem Grabe, warf das übrige Fleisch hinein und streckte sich auf dem Grabe aus, bis das Fleisch gar gekocht war. Von Zeit zu Zeit erhob er sich und stach mit dem Messer in das Fleisch, um zu sehen, ob es gar sei. Als er fand, daß es gut war, nahm er den Topf vom Feuer, einiges Fleisch aus dem Topf und begann zu essen.

Als Hadj M'hammed hörte, daß Said zu essen anfing, streckte er wieder seine Hand durch das Opferloch aus dem Grabe und sagte mit hohler Stimme: "Bitte, gib mir davon zu essen." Said sagte: "Man soll den Bettlern nichts mehr zum Essen geben, denn wenn sie es soweit gebracht haben, daß sie Heilige geworden sind, können sie von der üblen Gewohnheit nicht einmal im Tode lassen. Nein, ich gebe dir nichts mehr." Hadj M'hammed sagte aber: "Ich bitte dich, gib mir nur ein klein wenig!" Said warf einen Brocken Fleisch in die Hand Hadj M'hammeds und sagte: "Hier nimm dies noch. Nun, mein Heiliger, sei aber still und fange nicht noch einmal mit der Bettelei an!" Hadj M'hammed zog die Hand durch das Opferloch zurück. Said aß sich satt.

Als Said sich sattgegessen hatte, packte er das Fleisch zusammen und sagte: "Dieses werde ich nun morgen daheim essen. Jetzt kann ich nichts mehr essen." Hadj M'hammed streckte wieder die Hand heraus und sagte: "Gib mir noch etwas! Was willst du mit all dem Fleisch zu Hause? Du kannst doch nicht mehr essen und ich bin hungrig." Said sagte: "Mein Heiliger! Du bist tot. Sei jetzt still, sonst töte ich dich noch einmal, und dann können sie dich noch einmal begraben." Said nahm die Sachen auf und wollte gehen.

Hadj M'hammed rief aus dem Grab: "Du willst gehen?" Said sagte: "Ja, ich will gehen!" Hadj M'hammed rief aus dem Grabe: "Bleib doch!" Said sagte ärgerlich: "Schweig, du Toter!" Hadj M'hammed rief aus dem Grabe: "Bleib noch!" Said wurde zornig. Said sagte: "Gut, mein Heiliger, dann will ich bleiben und dein



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Grab zerstören. Du glaubst wohl, ich sei wie die Kinder und glaube alles, was sie sagen. Ich will sehen, ob ich dich nicht zur Ruhe und zum Schweigen bringe." Said begann das Grab auszureißen.

Hadj M'hammed ergriff ein Messer, steckte es zum Opferloch heraus und sagte: "Mein Said Ajirasin, ich bin es. Ich bin Hadj M'hammed, dein Freund. Sieh hier, mein Messer. Es ist dir gut bekannt!" Said nahm das Messer, erkannte es und sagte: "Ich sehe, du bist es. Ich lasse dich aber nicht eher heraus, ehe du nicht schwörst, daß ich ein tapferer Mann sei." Hadj M'hammed sagte aus dem Grabe: "Ich werde das nicht schwören, ehe du mir nicht zusagst, daß ich auch ein tapferer Mann sei."

Beide schworen sich. Jeder schwor, daß der andere ein tapferer Mann sei. Sie gingen dann in das Dorf zurück. Im Dorfe waren die Leute sehr stolz auf die beiden tapferen Leute. Solange die beiden lebten, wagte kein Feind, das Dorf anzugreifen. Kein Dorf hatte zwei Freunde, von denen der eine sein Nachtmahl in, der andere über dem Grabe eines Heiligen gegessen hatte.


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