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Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


Der blühende Brunnenrand

Es war einmal ein Führer einer Räuberbande; wo er mit seinen Leuten hinkam, ließ er nichts an seinem Platz. Aber einmal im Jahre beichtete er. Und gleich am Anfang sagte stets der Beichtvater, daß er ihm keine Absolution erteilen könnte, wenn er nicht von diesem Lasterleben abließe. Dann zückte der Räuberführer jedesmal seinen Dolch und erstach den Beichtvater.

Das sprach sich nun herum, und endlich fand er keinen Beichtvater mehr, der ihm die Beichte abnehmen wollte.

In einem Jahr, um Palmsonntag herum, klopfte er nun bei einem Kloster an und bittet, dort beichten zu können.

Der Laienbruder am Tor erkannte ihn und läuft ganz aufgeregt zum Prior, um es ihm zu erzählen.



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Der verwirrte Prior ruft die Brüder herbei und sagt zu ihnen:

»Da sind wir nun in einer schwierigen Lage.«

»Wenn Ihr wollt, daß ich hingehe«, antwortet einer, »sagt es nur, und Ihr werdet sehen, daß ich schnell mit ihm fertig werde.«

»Aber wißt Ihr denn nicht, daß er Euch tötet?« sagte der Prior.

»Habt keine Angst; ich werde mich schon aus der Schlinge ziehen.«

Der Prior sagte schließlich ja, und der Bruder machte sich gleich auf den Weg. Er führt den Räuber zum Beichtstuhl, läßt ihn niederknien, setzt sich selbst und sagt:

»Also, du kannst dir jetzt dein Herz erleichtern.«

Bis er mit der Beichte fertig war, sagte er kein Wort; dann fragt er ihn:

»Hast du weiter nichts, dessen du dich anklagen mußt?« »Nein, Pater«, antwortete er und hatte schon den Dolch in der Hand, um ihn sprechen zu lassen, wenn die sichere Antwort kommen würde: Ich kann dir keine Absolution erteilen. Aber seine Rechnung ging diesmal nicht auf, weil der Pater nichts weiter zu ihm sagte als: »Es ist in Ordnung; du kannst gehen. Die Buße für dich heißt: >Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.«

Der Pater erhebt sich und geht fort und ließ sein Beichtkind ganz verdutzt zurück, das nicht wußte, was es davon halten sollte, so neu kam ihm diese Form der Buße vor. Schließlich steckt er den Dolch wieder ein und macht sich auf den Weg in seine Höhle.

Er kam in der Höhle an, und die Kameraden merkten gleich, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Sie fragten, ob es etwas Neues gäbe, oder ob er sich nicht wohl fühlte; er aber antwortet nur, sie möchten ihn in Ruhe lassen. Und weiter konnten sie nichts aus ihm herausbringen. An dem Tag faßte er nichts an und sah keinem gerade ins Gesicht.

»Wollen wir heut nacht nicht los?«fragten die Kameraden, als die Dämmerung hereinbrach.

»Ich bin für nichts mehr zu haben«, sagte er, »macht, was ihr wollt, aber laßt mich in Frieden.«

Und das sagte er, weil er überall, wo er auch immer ging und stand, leuchtend wie mit Feuer geschrieben die Worte sah: >Was du nicht



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willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.< Das hatte ihm jeden Mut genommen.

>Wie soll ich anderen ihr Hab und Gut wegnehmen, wenn ich nicht will, daß sie meines anrühren?<sprach er bei sich.

Seine Kameraden machten sich auf den Weg, um einen Überfall auszuführen, den sie seit längerer Zeit geplant hatten. Als er nun allein in seiner Höhle war, wurde ihm ganz traurig zumute. Die Sünden seiner Verbrechen und Räubereien, die er in den langen Jahren als Haupt der Räuberbande begangen hatte, setzten ihm so sehr zu und nagten so sehr an seinem Gewissen, daß er nicht mehr ein noch aus wußte. Schließlich suchte er Zuflucht in dem Kloster, in dem er gebeichtet hatte.

Bei Tagesanbruch kommt er dort an, klopft an das Tor, und es wird ihm aufgemacht. Er fragt nach dem Beichtvater, und als er vor ihm steht, sagt er zu ihm:

»Ihr habt mir als Buße dieses: >Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu<gegeben. Aber ich sehe mit dem besten Willen nicht, wo das hinaus soll. Ich denke hin und denke her und habe mir diese Worte so sehr in den Kopf gesetzt, daß ich sie nicht wieder herausbekomme und sehe, daß ich ihnen nicht folgen kann, solange ich mein Räuberdasein nicht aufgebe. Mir ist so jämmerlich zumute, daß ich schon gestorben wäre, wäre ich nicht aus der Höhle geflohen und hätte ich nicht diesen Teufelsberuf schon ganz und gar aufgegeben. Ich bin gekommen, um eine wirkliche Beichte über mein ganzes Leben abzulegen, bevor das Gericht seine Hand auf mich legt und mich bestraft, wie ich es verdient habe.«

Der Beichtvater ließ ihn hereinkommen und geht zum Prior, um ihm die Geschichte zu erzählen, und sie kamen überein, ihn ein paar Tage versteckt zu halten und ihm Zeit zu geben, sein Gewissen gut zu erforschen und über seine Sünden zu weinen.

So taten sie es auch, und der Mann beichtete sein ganzes Leben und verschwieg nichts. Als der Beichtvater so viele Sünden und so schwere und grausige Verbrechen hört, rief er aus:

»So, wie es möglich ist, daß auf dem Brunnenrand Blumen wachsen, so möglich ist es, daß Gott dir vergibt.«

Dem Räuber prägten sich diese Worte so ein, daß er den ganzen Tag weder aß noch trank. Am nächsten Tag um die Mittagszeit merkten



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die Brüder, daß seine Zelle verriegelt war. Sie klopften an, aber er antwortete nicht.

Da öffneten sie und fanden ihn tot im Bett liegen. Der Schmerz, den er empfunden hatte, Gott mit so viel Sünden beleidigt zu haben, war so stark und gewaltig, daß er ihn getötet hatte. Was werdet ihr nun aber sagen? Da geht ein Laienbruder hin, um Wasser aus dem Brunnen zu holen, und findet den Brunnenrand voller Blumen mit den frischesten und erlesensten Blüten und einem Duft, der wie himmlischer Balsam anmutete. Da erinnerte sich der Pater, der die Beichte abgenommen hatte, daß er zu ihm gesagt hatte: »So, wie es möglich ist, daß auf dem Brunnenrand Blumen wachsen, so möglich ist es, daß Gott dir vergibt.«

Und Gott hatte ihm vergeben.


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