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Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


Das seltsamste Ding der Welt

Es war einmal ein König, der war Witwer und hatte drei Söhne. Und in einem andern Reich lebte eine Königin, die war Witwe und hatte eine sehr schöne Tochter. Und der König und die Königin



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lernten einander kennen und heirateten sich. Und da die Tochter der Königin fast ebenso alt war wie die Söhne des Königs, verliebten sich die drei in sie, und jeder wollte sie heiraten. Da gingen die drei zu ihrem Vater, und der älteste sagte zu ihm: »Hört, lieber Vater, wir möchten alle drei unsere Stiefschwester heiraten, und da es doch nicht angeht, daß sie sich mit dreien verheiratet, so bitten wir Euch, Ihr möchtet entscheiden, wer von uns sie heiraten soll. Mit dem, was Ihr sagt, werden wir uns zufriedengeben.« Und der Vater sagte zu ihnen: »Meine Söhne, es ist eure Stiefschwester, und da scheint mir, keiner sollte sich mit ihr verheiraten; aber da ihr ja wollt, daß sich einer mit ihr verheiratet, so macht euch denn auf den Weg und seht zu, daß ihr mir das seltsamste Ding der Welt bringt, und wer von euch mit dem seltsamsten Ding der Welt zurückkommt, der mag die Stiefschwester heiraten.«

Nun gut; die drei Brüder zogen also in die Welt hinaus und machten sich auf die Suche nach dem seltsamsten Ding. Und als sie an eine Wegkreuzung kamen, da schlug jeder eine andere Richtung ein. Und der älteste kam in eine sehr große Stadt und begann sogleich, überall herumzusuchen und auszuspähen, ob er nicht etwas sehr Seltsames fände. Und als er schon den ganzen Markt und alle Plätze abgesucht hatte, fand er plötzlich einen Teppich, der hatte eine Sprungfeder, und wenn man darauf stieg, so ging die Feder los, und man konnte so hoch fliegen, wie man wollte. Und er sagte zu dem, der ihn verkaufte: »Wieviel wollt Ihr für diesen Teppich haben?« Der antwortete ihm, daß er tausend Taler koste. Und da gab er ihm die tausend Taler und ging mit dem Teppich fort.

Nun gut; indessen war der zweite in ein Dorf gekommen, wo ein Mann war, der verkaufte ein Fernrohr von einer halben Ellenlänge. Und er geht zu ihm hin und sagt: »Lieber Mann, ich habe überall herumgesucht, ob ich nicht ein sehr seltsames Ding finde. Sagt mir, was verkauft Ihr denn da?« Und er antwortet ihm: »Nehmt es und schaut hindurch. Was wollt Ihr sehen?« —»Ich will meinen Bruder sehen.«Und der Mann sagt zu ihm: »Dann braucht Ihr nur durch das Fernrohr zu sehen, und Ihr werdet ihn finden.« Und der Jüngling blickte durch das Fernrohr und sah seinen Bruder mit dem Teppich dahinwandern. Nun gut; er sagt darauf zu ihm: »Wieviel wollt Ihr für das Fernrohr haben?« —»Ich, nun



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ja, mit tausend Talern gebe ich mich zufrieden.« Da gab er ihm die tausend Taler und zog mit dem Fernrohr ab.

Inzwischen hatte der dritte auch eine Stadt erreicht und suchte ebenfalls auf dem Markt und allen Plätzen nach einem sehr seltsamen Ding. Und da sieht er auf einem Platz einen alten Mann stehen, der bot Äpfel feil. Und der Jüngling geht zu ihm hin und sagt: »Was ist denn Besonderes an diesen Äpfeln?« Und der Alte sagt ihm: »Diese Äpfel können Kranke wieder besser und ganz gesund machen, wenn man ihnen damit über das Gesicht streicht und sie den Apfel riechen.«Darauf sagt der Jüngling: »Gut, so einen Apfel will ich kaufen und ihn mit nach Haus bringen.« Und er fragt den Alten: »Wieviel wollt Ihr für den Apfel haben?« — »Tausend Taler«, antwortet ihm der andere. Da gibt er ihm die tausend Taler und geht mit dem Apfel fort.

Und der mit dem Fernrohr sagte: »Ich will das Fernrohr doch einmal ausprobieren und versuchen, ob ich meine Brüder sehen kann.«Und er sah durch das Fernrohr und erblickte die beiden. Und da wanderte er dorthin, wo der älteste war, und sagte zu ihm: »Du, hör mal, weißt du, wo unser jüngster Bruder ist?« Und der andere sagte zu ihm: »Ich, nein.« Da zieht er das Fernrohr hervor und sagt: »Wenn du ihn sehen willst, so guck durch dieses Fernrohr.«Und der andere sah durch das Fernrohr und erkannte den jüngsten Bruder, wie er allein auf seinem Weg dahinzog. Und da sagt er: »Dies willst du wohl dem Vater mitbringen?« Und der zweite sagt: »Ja.« — »Nun, sieh her«, sagt darauf der älteste Bruder, »denn ich bring ihm ein sehr viel seltsameres Ding mit, was viel wertvoller ist.« — »Was ist es?« fragt der andere. »Dieser Teppich hier. Sowie man ihn betritt, steigt er hoch und fliegt so hoch, wie man will und wohin man will.« Der zweite sagte darauf zu ihm: »Gut, das wollen wir gleich einmal sehen.« Und sie steigen darauf, und sofort geht der Teppich mit den beiden in die Höhe. Und der älteste sagt: »Nun können wir ja einmal sehen, wo unser jüngster Bruder ist und zu ihm fliegen.« Und sie flogen an den Ort, wo sie den jüngsten Bruder im Fernrohr entdeckt hatten und waren nun alle zusammen. Und sie fragten ihn, was er gekauft habe, und sie sagten, er möge ihnen doch zeigen, was er mitbringe. Und der sagte darauf zu ihnen: »Ich habe hier diesen Apfel gekauft; wenn man damit über das Gesicht eines Kranken streicht



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und er ihn riecht, wird er auf der Stelle wieder gesund.« Nun gut; dann stiegen sie alle drei auf den Teppich, und die Feder ging los, und die drei flogen ganz, ganz hoch.

Und nachdem sie so einige Zeit durch die Luft geschwebt waren, nimmt der jüngste das Fernrohr seines Bruders und sieht hindurch und sagt: »O weh, was seh ich! Ich kann's nicht sagen!« —»Was hast du denn gesehen, junger Bruder?« sagt der älteste. Und er nimmt dann das Fernrohr und sieht hindurch und sagt: »Oh, mein Gott, was hab ich gesehen!« — »Was seht ihr beiden denn da?«fragt der zweite. Und er nimmt auch das Fernrohr und sieht hindurch und erblickt dasselbe. Und zwar sehen sie die Stiefschwester sterbenskrank im Bett liegen. Da sagt der jüngste: »Laßt uns schnell machen.« Und so schnell, wie sie können, fahren sie los und kommen im Nu zu Hause an. Und sie traten ein, als das Mädchen schon in den letzten Zügen lag. Da sagte der jüngste: »Das ist eine Gelegenheit, die Kraft des Apfels zu prüfen, nun können wir sehen, ob das Mädchen gesund wird.« Und er geht mit seinem Apfel hin zu ihr und läßt sie daran riechen, und sogleich wird ihr wohler. Bald trat eine große Besserung ein, und sie war wieder ganz gesund.

Da gehen die drei dann zu ihrem Vater hin und zeigen ihm, was sie jeder mitgebracht haben. Und der jüngste sagt: »Vater, ich werde sie bekommen; denn der Apfel, den ich mitgebracht habe, hat sie wieder gesund gemacht.« Und der zweite sagt: »Nein, ich werde sie bekommen, denn ohne das Fernrohr hätten wir nicht gewußt, daß sie krank war, und wenn wir angekommen wären, wäre sie schon tot gewesen.«Und der älteste sagt: »Aber nein, ohne den Teppich wären wir niemals rechtzeitig angekommen, und darum werde ich sie auch bekommen.« Und der Vater begann, darüber nachzudenken, und sagte dann: »Meine Söhne, mir scheint, daß dem mit dem Fernrohr das größte Verdienst dabei zukommt.« Darauf sagten die beiden gar nichts mehr, und der Vater ging zu der Stiefschwester hin und sagte ihr, daß nach seiner Ansicht der mit dem Fernrohr das größte Verdienst habe. Und das Mädchen sagte darauf: »Mir aber will scheinen, daß das größte Verdienst dem zukommt, der den Apfel brachte, und da ich ihn auch immer am liebsten gehabt habe, so möchte ich mich mit ihm verheiraten.« Und so verheiratete sie sich mit dem jüngsten Bruder.


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