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Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


Die Schönheit der Welt

Es war einmal ein König, der hatte einen sehr leichtsinnigen Sohn, und so viele Vorhaltungen ihm auch der König wegen seines Lebenswandels machte, so konnte er ihn doch nicht bessern. Der Vater starb, und der Sohn erbte die Krone. Als er nun frei schalten und walten konnte, verfiel er gänzlich seinen Lastern und spielte viel und mit so wenig Glück, daß er alles verspielte. So kam es, daß er zuletzt, als er nichts anderes mehr besaß, auch die Krone aufs Spiel setzte und auch sie verlor. Da mußte er in die Welt hinausziehen und um Almosen bitten.

Nun war auch ein Herr da, der hatte jeden Tag mit dem König gespielt und fast immer gewonnen. Als der den König so verzweifelt sah, fragte er ihn, ob er wohl Lust habe, mit ihm zu gehen, er werde ihm so viel geben, wie er zum Spielen haben wolle; als Entgelt aber solle er einmal im Jahr arbeiten, und dieses eine Mal müsse er seine Befehle ausführen, wie sie auch immer lauten möchten.

Da der König nichts zu verlieren hatte, willigte er sofort ein, denn er fand es nicht sehr schlimm, nur ein einziges Mal im Jahr arbeiten zu müssen.

Der Herr stellte ihm nun eine Kiste voll Gold zur Verfügung, und er nahm tausend Groschen heraus und verspielte sie. Am nächsten Tag nahm er zweitausend und verspielte sie auch. So spielte er einen Tag um den anderen und vermehrte jeden Tag den Einsatz um tausend Groschen, und das machte er zwei Monate lang; doch da er immer verlor, wurde die Kiste allmählich leer, bis er zuletzt den Boden sah.

Als ihm nun das ganze Geld ausgegangen war, sprach sein Herr zu ihm:

»Hör, der Tag ist gekommen, an dem du arbeiten mußt, denn du hast das Geld mit einer solchen Schnelligkeit ausgegeben, daß jetzt schon nichts mehr da ist und wir neues holen müssen. Geh in den Stall und sattle zwei Pferde, die dort stehen; steck in die Reisesäcke zwei Schinken, zwei Lendenstücke, zwei Weinschlauche und nimm an Brot, Käse und Oliven für den Nachtisch mit, was wir brauchen, denn wir wollen eine Reise machen, die vierzig Tage dauert.«

Nun, das tat er also: Er bereitete alles vor, wie ihm der Herr geheißen



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hatte, und dann stiegen sie jeder auf sein Pferd und machten sich auf den Weg. Sie ritten los, ritten weiter und immer weiter, bis sie vieler Herren Länder durchquert hatten und ans Meer kamen. Da zeigte der Herr mitten aufs Wasser und sagte:

»Siehst du den Punkt dort in der Ferne?«

»Ja, Herr.«

»Das ist eine Burg, die voller Gold und Silber steckt. Wagst du es, dorthin zu gehen?«

»Ja, Herr, wenn Ihr vorangeht.«

Der Herr gab seinem Pferd die Sporen, und als ob es nicht Wasser wäre, das sie betraten, ritten sie los, bis sie den Felsen erreichten, auf dem die Burg lag. Als sie dort angekommen waren, stiegen sie ab, und der Herr sagte zu dem Jüngling:

»Du mußt jetzt auf die Burg steigen!«

»Aber wie denn? Sie hat doch kein Tor!« sagte er.

»Das wirst du schon sehen«, antwortete der Herr, »nimm vier von den Säcken, die wir mitgenommen haben; sobald du oben bist, wirst du einen Haufen Unzen Gold sehen; damit füllst du die Säcke und bindest sie dann fest zu, damit sie nicht wieder aufgehen.« Und er zog ein Buch hervor, das er in der Tasche hatte, und öffnete es. In demselben Augenblick fühlte sich der Jüngling hochgehoben, als ob man ihn an den Haaren zöge, und bevor er noch wußte, was geschah, befand er sich schon oben auf der Burg. Tatsächlich sah er dort einen großen Haufen Unzen Gold, und er füllte die Säcke damit, bis keine Unze mehr übrigblieb. Sobald sie alle voll waren, machte er dem Herrn ein Zeichen, und dieser öffnete von neuem das Buch. Da kamen die Säcke ganz allein herunter, und als der letzte unten war und sie alle auf die Pferde geladen waren, schloß der Herr das Buch und wandte sich an den Jüngling mit den Worten:

»Du hast mir die Dienste, die ich dir erwies, bezahlt; jetzt versuch allein, dich durchzuschlagen! Wenn du das Richtige tust, wirst du glücklich werden, wenn nicht, wirst du sterben.«

Damit stieg er auf sein Pferd und machte sich mit den Säcken voll Unzen Gold davon, ohne die Rufe des Ärmsten zu hören, der ihn anflehte, ihn von der Burg herunterzuholen. Als er den Herrn nicht mehr sehen konnte, begann er über seine traurige Lage nachzudenken und sprach bei sich:



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>Ach, Mutter Gottes im Himmel! Was soll nur aus mir werden in dieser verlassenen Gegend? Ich werde hier auf dem einsamen Fleck Erde, der von allen Seiten von Wasser umgeben ist, vor Hunger sterben müssen.<

Erblickte überall herum, doch konnte er nirgends eine Stelle entdecken, wo er hätte hinabsteigen können, und so beschloß er, sich damit abzufinden und der Güte Gottes zu vertrauen. Da er vorher reichlich gegessen hatte, fühlte er jetzt zwar keinen Hunger, aber einen brennenden Durst; doch so sehr er auch überall umherspähte, er fand nicht ein Tröpfchen Wasser, um seinen Durst zu löschen.

Als er so suchte, bemerkte er ein wenig feuchten Sand, der aufgeworfen zu sein schien, und da er annahm, daß darunter eine Quelle wäre, begann er, die Erde eifrig mit den Händen wegzuscharren. Doch sie war feucht und hart, und der Ärmste bekam viele Risse an den Händen, aber Wasser fand er nicht. Als er müde wurde, setzte er sich auf eine Weile nieder, um auszuruhen; dann begann er die Arbeit wieder mit neuer Kraft, denn jede Stunde, die verstrich, verschlimmerte seinen Durst.

Als er noch ganz in seine Arbeit vertieft war, merkte er schließlich, daß der Sand allmählich aufhörte und zuletzt eine Tür freiließ. Er blickte durch ein kleines Loch hindurch und sah, daß es drinnen ganz hell war. Er faßte wieder Mut und scharrte weiter, bis er die Tür hochheben konnte und eine Treppe fand. Da der Durst ihn immer noch quälte, hielt er sich nicht damit auf, darüber nachzudenken, was wohl da unten sein könne, und ohne den Schutz Gottes oder des Teufels anzurufen, stieg er die Treppe hinab.

Er staunte nicht wenig, als er sich in einem großen Saal befand; in der Mitte sah er einen herrlichen Brunnen und an der einen Seite einen prächtigen Tisch. Darauf standen die auserlesensten Speisen. Zuerst ging er an den Brunnen, um zu trinken, dann packte ihn bei all den schönen Sachen, die auf dem Tisch standen, der Appetit, und er begann zu essen, was ihm gerade schmeckte. Aber trotz alledem beunruhigte es ihn, daß in dem Saal kein Leben war und niemand erschien, wenn er deswegen auch nicht die Lust zu essen verlor und sich sagte: »Wenn man schon stirbt, soll man wenigstens satt sterben. Essen wir jetzt, dann mag Gott entscheiden.« Er aß, bis er nicht mehr konnte. Dann stand er auf, um sich alles anzusehen.



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Er war schon fast durch alle Gemächer des Schlosses gegangen (und es war ein sehr schönes Schloß) und hatte immer noch keine lebende Seele gefunden. Schließlich kam er in die Küche, da traf er eine Alte, die ihn erstaunt ansah und zu ihm sprach: »Wer will dir so übel, Jüngling, daß er dich hierhergebracht hat?«

»Mein Unglück, Mütterchen«, antwortete er ihr.

Dann setzte er sich hin und begann, ihr alles zu erzählen, was er erlebt hatte.

»O weh! Das Schlimmste, was dir geschehen konnte, war, hier hereinzukommen«, sagte die Alte zu ihm, »dies ist ein verzaubertes Schloß, und es ist verboten, es zu betreten. Ein Neger bewacht es, der ist beauftragt, jeden, der hier einzudringen wagt, zu töten. Doch du bist jung, ich sehe deine Unerfahrenheit, und ich will versuchen, ob ich den Neger milde stimmen kann, nur mußt du mir versprechen, ihm in allem zu gehorchen, was er dir sagt.«

Der Jüngling versprach es ihr, und bald darauf sagte die Alte zu ihm, er solle sich in einem Zimmer verstecken, denn der Neger komme, und wenn er ihn sähe, bevor sie mit ihm gesprochen hätte, werde er ihn ganz sicher töten. Kaum hatte er sich versteckt, da trat ein entsetzlicher Neger ein, der war so furchtbar anzusehen, daß er selbst der Angst noch einen Schreck einjagen konnte.

Er sah sich nach allen Seiten um und blickte dann die Alte fest an und sagte:

»Ich rieche Menschenfleisch, wenn du es mir nicht gibst, töte ich dich.«

»Ach, hör doch«, antwortete die Alte, »hier ist ein armer Kerl, den ein gemeiner Zauberer auf die Burg brachte und dort allein zurückließ; da er nicht fortgehen mochte, fand er die Tür und kam herein.« »Gut, er soll sich zeigen«, sagte der Neger.

Kaum hatte der Neger den Jüngling erblickt, da fragte er ihn: »Erzähl mir, wie du in dieses Schloß gekommen bist.«

Da begann der Jüngling noch einmal alles zu erzählen, was er der Alten schon gesagt hatte. Der Neger, der erkannte, daß er die Wahrheit sprach, fuhr fort:

»Gut, du weißt schon, daß alle, die hier eintreten, erbarmungslos sterben müssen: doch ich habe Mitleid mit dir, denn du bist noch so jung, und wenn du mir versprichst, hierzubleiben und zu tun, was



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ich dir sage, will ich dir dein Leben schenken, doch ich mache dich darauf aufmerksam, daß du nie von hier fortgehen darfst. Wenn du annimmst, was ich dir vorschlage, wirst du glücklich werden, denn es wird dir nichts fehlen außer der Freiheit. Vergiß nicht, daß du beim ersten Versuch zu fliehen unweigerlich sterben mußt.«

Der Jüngling, der nun wußte, daß es keinen anderen Ausweg gab, und der nun merkte, daß er noch gut davongekommen war, nahm den Vorschlag des Negers an und bedankte sich bei ihm. Da holte der Neger ein Schlüsselbund hervor und führte ihn durch alle Räume des Schlosses. Einer war voll von Kichererbsen, ein anderer von Speckseiten, der dritte von Blutwürsten, ein weiterer von Bratwürsten, ein anderer von Schinken, noch einer von Lendenstücken, der nächste von Weinen, kurzum, es war von allem vorhanden, was es zum Essen gab, und zuletzt zeigte er ihm noch ein Gemach, das war voll von Gold, und ein anderes voll von Silber und ein drittes voll von Kupfer. Nur eine Tür blieb übrig, auch von der gab ihm der Neger den Schlüssel und sagte:

»Nimm, ich mache dich zum Herrn von allem, damit es dir an nichts fehlt, aber hüte dich wohl, diese Tür hier zu öffnen, denn dann wird dir ein Unglück zustoßen. In jenen Gemächern liegt die Schönheit der Welt verzaubert, und sie wird so gut bewacht, daß es unmöglich ist, zu ihr zu kommen. Siehst du dort die Tür? Hinter ihr stehen zwei Löwen, die über den Unvorsichtigen herfallen und ihn zerreißen würden, wenn er die Tür öffnete. Und wäre es ihm wirklich möglich, den Löwen zu entkommen, so müßte er noch eine Tür öffnen, dahinter hängen zwei Hämmer, die unaufhörlich niedersausen und ihn zertrümmern, wenn er hindurchgeht. Dann ist da noch eine Tür, dahinter wird der Eintritt durch einen Mühlstein verhindert, der sich unaufhörlich um seine eigene Achse dreht und so den Durchgang versperrt; die letzte Tür aber wird von einer giftigen Schlange verteidigt. Du siehst also die Gefahren, denen man sich aussetzt, wenn man dort eindringen will.«

Der Jüngling versprach, auf alles achtzugeben, und das tat er auch und flößte damit dem Neger allmählich ein großes Vertrauen ein; so vergingen Tage um Tage, ohne daß sich der Neger im Schloß sehen ließ. Doch der König, der gewohnt war, zu tun, was er wollte, konnte sich mit diesem Leben und dem Geheimnis jener Gemächer



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nicht abfinden, und er beschloß nachzusehen, was dort eingeschlossen war, und die Gefahr herauszufordern, die der Neger ihm ausgemalt hatte. Er nahm den Schlüssel und schloß die Tür des ersten Gemaches auf. Sobald er sie geöffnet hatte, sah er zwei wütende Löwen mit aufgerissenem Maul auf sich zukommen. Schnell nahm er seinen Hut ab und warf ihn den Löwen hin. Die beiden stürzten sich darauf und begannen sich so um den Hut zu streiten, daß sie sich gegenseitig fast zerfleischten. Da tötete er sie. Nun öffnete er die nächste Tür, hinter der er zwei Hämmer erblickte, die so schnell herniedersausten, daß es unmöglich war, an ihnen vorbeizukommen, ohne zertrümmert zu werden. Da zog er seine Jacke aus und warf sie unter die Hämmer, die sich darin so verwickelten, daß er die Hämmer zum Stehen bringen konnte. Dann ging er weiter und öffnete die dritte Tür. Da sah er einen Mühlstein vor sich, der drehte sich mit so rasender Geschwindigkeit, daß man nicht daran denken konnte, an ihm vorbeizukommen, ohne von ihm erfaßt zu werden. Da zog er seine Weste aus und warf sie auf den Stein, der sich darin verfing und, da er sie nicht wieder abrollen konnte, auch stehenblieb.

Da war nun der Jüngling glücklich; er sprang auf den Stein und begann darüber nachzudenken, wie er der Schlange beikommen könnte.

Als er genug überlegt hatte, öffnete er die Tür. Da sieht er eine furchtbar große Schlange auf sich zukommen, die zischte so laut, daß alles erbebte. Er geht auf sie zu, und was tut er nun? Er zieht die Schuhe aus und wirft sie ihr hin. Die Schlange stürzt sich darauf und verschlingt sie in einem Nu. Aber da die Schuhe aus Leder und sehr hart waren, konnte sie sie nicht hinunterschlucken und erstickte daran. Da zog er ein Messer heraus und tötete sie. Nun hatte er alle Hindernisse überwunden und öffnete die letzte Tür; da fand er einen prachtvollen Saal, der war überall mit Gold, mit Seide und Edelsteinen ausgeschlagen, und in einer Ecke stand ein Ruhebett, darin lag ein verzaubertes Mädchen, das war die Schönheit der Welt.

Als er sie sah, wußte er nicht, wie ihm geschah, und er, der bisher noch vor nichts zurückgeschreckt war, hatte Furcht, sie aufzuwecken, und ging hinaus. Doch dann bereute er seine Feigheit und kehrte in den Saal zurück und betrachtete die Schönheit der Welt und konnte nicht widerstehen, ihr einen Kuß zu geben.



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Als er sie küßte, erwachte sie und sprach: »Du tatest gut, denn du hast mich aus meiner Verzauberung erlöst. Doch ich muß fortgehen, und wenn du mich suchen willst, so mußt du weit wandern. In einer Stunde fliege ich als Taube verwandelt weg und werde fünf Tage an der Quelle des Gartens der drei Apfelsinen bleiben. Solltest du mich dort nicht treffen, so nimm dies Tuch, damit ich dich wiedererkennen kann, wo du auch immer bist.«

Und während sie dies noch sprach, gab sie ihm ein sehr feines Tuch, darin war eine Königskrone gestickt.

Inzwischen war die Stunde verstrichen. Da hörte man plötzlich ein entsetzliches Getöse, das ihn erstarren ließ. Als er wieder zu sich kam, befand er sich ganz allein in einer verlassenen Gegend. Burg und Meer waren verschwunden. Er begann über seine Lage nachzudenken, und er wußte nicht, welchen Weg er einschlagen sollte, um den Garten der drei Apfelsinen zu finden. Da entschloß er sich, auf gut Glück loszuziehen, und er machte sich ohne eine bestimmte Richtung auf den Weg.

Und er ging weiter und weiter, bis er nach drei Tagen endlich einen Garten fand, und da er großen Durst hatte, trat er ein und bat um ein wenig Wasser. Der Gärtner war ein Neger, es war derselbe, der im Schloß gewesen war; doch der Jüngling erkannte ihn nicht. Er bat um Wasser, und man gab es ihm.

»Könnt Ihr mir sagen, welcher Garten dies ist?«

»Das ist der Garten der drei Apfelsinen«, antwortete der Neger. »Sagt mir, kommen an diese Quelle auch Tauben, um hier zu trinken?«

»Ja, mein Herr, seit drei Tagen kommen sie, doch vor morgen könnt Ihr sie nicht sehen, denn sie kommen zwischen elf und zwölf Uhr morgens.«

»Würdet Ihr mir vielleicht erlauben, hierzubleiben? Ich habe eine Taube verloren und möchte gern sehen, ob sie mit dabei ist.«

»Ja, mein Herr«, sagte der Neger, »bleibt nur hier und seht sie Euch morgen an.«

Er blieb also die Nacht dort, und am nächsten Morgen zur bestimmten Stunde gingen die beiden an die Quelle. Der Neger begann, einige Feigen zu essen und gab eine davon dem Jüngling, der sofort danach einschlief. Die Tauben kamen und tranken und badeten sich,



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doch als der Jüngling erwachte, waren sie schon wieder fortgeflogen. Er fragte den Gärtner, der sagte ihm, sie seien lange Zeit geblieben, aber er habe so fest geschlafen, daß er ihn nicht wecken mochte.

Da nun schon vier Tage verstrichen waren, so kam der letzte Tag, an dem die Tauben noch kommen wollten, und er nahm sich vor, nicht wieder einzuschlafen. Am Nachmittag ging er hinaus und machte einen Spaziergang; da sah er einen Brief zu seinen Füßen niederfallen. Er öffnete ihn und las die Worte: Trau dem Gärtner nicht.

Obwohl er nicht wußte, ob der Brief an ihn gerichtet war, und er auch keinen Grund hatte, dem Gärtner zu mißtrauen, nahm er sich doch vor, auf der Hut zu sein. Der nächste Tag kam, und die beiden gingen wieder an die Quelle. Wie sie so miteinander sprachen, zog der Neger einige Zigarren heraus, begann zu rauchen und bot dem Jüngling auch eine davon an. Er nahm sie, doch kaum hatte er einige Züge getan, da schlief er fest wie ein Klotz. Die Tauben kamen, und es geschah dasselbe wie am vorigen Tag: Die Stunde war verstrichen, als er aufwachte.

Er begriff, daß dies das Werk des Negers war, und weil er wußte, daß die Tauben nicht wiederkommen würden, denn die fünf Tage waren schon vergangen, verabschiedete er sich vom Neger und ging fort. Als er aus dem Garten trat, sah er einen Brief herunterfallen. Er nahm ihn auf, öffnete und las:

»Du hast dich vom Gärtner betrügen lassen und hast dadurch die Zeit unserer Trennung verlängert; wenn du mich finden willst, such mich im Schloß der drei goldenen Mandeln.«

»Wo kann ich dieses Schloß nun wieder finden?«sprach der Arme nachdenklich bei sich. »Wenn ich wenigstens wüßte, wo es wäre, hätte ich das größte Übel schon beseitigt. Doch suchen wir es; was viel wert ist, kostet viel, und wo ich den Garten gefunden habe, werde ich das Schloß wohl auch finden!«

Er zog los und ging weiter und immer weiter, einmal über Wege, ein andermal über Pfade, bis er schließlich in eine Felsengegend kam; und als er sich schon ganz verloren glaubte, sah er ein Haus und bat um Unterkunft für die Nacht.

Die Hausherrin fragte ihn, was er denn in dieser Felsengegend suche, in die sonst keine menschliche Seele komme.



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»Ach, liebe Frau«, antwortete er, »ich suche das Schloß der drei goldenen Mandeln, und ich weiß nicht einmal, wo es sich befindet; nun habe ich mich auf gut Glück auf den Weg gemacht und hoffe, daß der Zufall es mir zeigt.«

»Ja, mein Lieber, hier in diesem Hause versammeln sich alle Vögel der Welt, und es ist leicht möglich, daß einer von ihnen weiß, wo sich das Schloß befindet, selbst wenn es im verborgensten Winkel der Welt liegt, falls es das Schloß überhaupt gibt.«

Als es dunkel wurde, kamen die Tauben hereingeflogen, und die Hausherrin fragte sie, ob sie wüßten, wo jenes Schloß sei, doch sie sagten, sie kennten es nicht. Und es kamen andere Vögel, doch keiner konnte die richtige Antwort geben. Und es kamen die jungen Adler, doch auch sie wußten es nicht; nur einer fehlte noch, der war noch nicht gekommen, und als es schon sehr spät war, hörte man ein lautes Flügelschlagen. Burr . . und sie sahen den Adler kommen, der war beinahe so satt wie ein Zicklein mit zwei Müttern. »Wie kommt es, daß du heute so spät kommst? Wo warst du?«

»Ich komme vom Schloß der drei goldenen Mandeln, wo ich die Eingeweide der Hühner gefressen habe, die mir köstlich bekommen sind, denn da morgen die Tochter des Königs heiratet, wird ein großes Fest stattfinden.«

»Hast du den Mut, morgen den Jüngling hier in das schöne Schloß zu tragen?«

»Ja, aber er muß als Nahrung für mich das Fleisch von einem Hammel mitnehmen, denn das Schloß ist weit entfernt, und ich werde Hunger bekommen.«

So machten sie es denn auch; sie töteten einen Hammel, und ganz früh am nächsten Morgen flog der Adler los und trug den Jüngling und den Hammel in seinen Fängen. Als sie eine große Strecke zurückgelegt hatten, wandte der Adler den Schnabel zur Seite und bat um Fressen. Der Jüngling gab ihm ein Stück vom Hammel, und der Adler flog weiter. Nach kurzer Zeit bat er um mehr und wollte immer mehr haben, bis er den Hammel aufgefressen hatte. Da sagte der Jüngling:

»Du hast das Fleisch jetzt aufgefressen, wenn du aber noch Hunger hast, pick dir ein Stück aus meiner Hinterbacke heraus, aber trag mich ins Schloß.«



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»Nein«, antwortete der Adler, »ich will alle meine Kräfte zusammennehmen, und wir werden hinkommen, denn ich sehe das Schloß schon; glücklicherweise ist das Hinunterfliegen leicht.«

Er flog weiter, und kurz darauf sahen sie die Türme des Schlosses. Der Adler kam schnell hinunter, und als er seine Last auf den Boden setzte, sagte er:

»Es war höchste Zeit, einen Augenblick länger und wir wären nicht angekommen, denn die Kräfte hätten mich verlassen. Im Schloß ist genug, womit ich mich stärken kann.«

Der Jüngling ging an das Schloßtor, aber da er durch den Flug so verwildert aussah, glaubten die Wächter, er wäre ein Bettler, und verwehrten ihm den Eintritt. Als er sah, daß man ihn nicht hineinließ, zog er sich betrübt zurück und ging an die Kirche, die neben dem Schloß stand, und setzte sich an die Tür und wollte warten, ob die Prinzessin sich vielleicht aus einem Fenster lehnte und er sie dann sehen und sprechen könne.

Als er kurze Zeit dort saß, sah er aus dem Schloß einen Festzug kommen, der auf die Kirche zuschritt. In der Mitte war das Brautpaar: Sofort erkannte er, daß die Braut die Schönheit der Welt war. Gern hätte er sie gesprochen. Er wollte näher treten, damit sie ihn bemerkte, aber da er so verwildert aussah, war anzunehmen, daß sie ihn nicht erkannte. Da dachte er an das Tuch, das sie ihm gegeben hatte, und er zog es aus der Tasche und entfaltete es in dem Augenblick, als das Brautpaar vorbeischritt, damit sie die Krone sehen sollte, die darauf gestickt war.

Sie sah es und erkannte es sofort, doch sagte sie nichts, und alle traten in die Kirche ein. Als der Geistliche sie trauen wollte, sprach die Prinzessin: »Als Heiratsversprechen habe ich einem Manne ein Tuch gegeben, in das mein Namenszug und meine Krone gestickt sind, und nur diesem Manne will ich meine Hand geben: Wenn einer der Anwesenden das Tuch hat, möge er es vorzeigen.«

Alle sahen sich an, doch keiner zog das Tuch heraus. Da sagte die Prinzessin zu ihrem Vater:

»Mein Vater, an der Tür steht ein Bettler, der hat das Tuch, denn er ist der Mann, der mich aus der Verzauberung erlöst hat, und nur mit ihm will ich mich verheiraten.«

Da gingen sie hinaus und suchten den Jüngling, der das Tuch zeigte



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und sich mit der Prinzessin verheiratete. Dann gewann er mit Hilfe seines Schwiegervaters sein Reich zurück, das er verloren hatte, und sie lebten glücklich ihr Leben lang.


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