Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen aus Italien Spanien und Portugal


Illustrationen


von Sabine Wilharm

Märchen europäischer Völker


Von dem frommen Kinde

Es war einmal ein frommer, gottesfürchtiger Bauer. Der fand eines Tages auf dem Felde ein kleines Kind. »Ach, du unschuldiges Würmchen«, rief er, »welche schlimme Mutter hat dich deinem Schicksal überlassen! Ich will dich mitnehmen und großziehen.« Und obwohl er selbst schon viele Kinder hatte, nahmen er und seine Frau den kleinen Knaben zu sich und behandelten ihn wie ihre eigenen Kinder. Und seitdem sie den kleinen Findling bei sich hatten, ging es bei ihnen immer gut, die Bäume trugen reichliche und schöne Früchte, das Korn und der Wein gediehen, kurz, der Bauer und seine Familie hatten ein gutes Auskommen.

Der Knabe wuchs heran und wurde ein braves Kind, das aber ungewöhnlich einfältig blieb, denn sein Verstand wuchs nicht mit seinem Körper. So wußte er auch nichts von unserm Heiland und nichts von allen Heiligen. Da er nun einmal mit Lehm spielte, bildete er daraus größere und kleinere Kugeln und reihte sie zu einem Rosenkranz auf und brachte ihn richtig zustande, und es fehlte auch nicht ein gloria patri darin. Der Bauer, als er das sah, wunderte sich sehr über das Geschick, das der Knabe hier bewiesen hatte, und hoffte, daß sein Verstand doch noch einmal wach werden würde. Indes verging die Zeit, und der Knabe verblieb unverändert einfältig. Eines Tages fragte ihn sein Pflegevater: »Morgen reite ich nach Catania; willst du mit mir kommen?« — »Ganz, wie du willst«, entgegnete das Kind.

So nahm er den Knaben am nächsten Morgen zu sich aufs Pferd und



Bd-12-143_Maerchen aus Italien Flip arpa

ritt mit ihm in die Stadt. Als sie nun in die Nähe des Domes kamen, sprach der Bauer: »Geh ein wenig in die Kirche, während ich meine Geschäfte erledige.«Da ging der Knabe in die Kirche hinein und betrachtete staunend alle die goldenen und seidenen Tücher, die gestickten Altardecken und die prächtigen Teppiche. Er sah die vielen schönen Blumen und Kerzen und gelangte endlich an den Altar, wo das große Kruzifix stand. Er kniete auf den Altarstufen hin und redete den Gekreuzigten an: »Gevatter, warum hat man dich an dieses Kreuz genagelt? Hast du etwas Böses getan?«Da schüttelte der Gekreuzigte den Kopf, und der Knabe fuhr fort, ihn zu fragen und sich mit ihm zu unterhalten. Das dauerte so lange, bis alle Messen zu Ende waren und der Sakristan kam, um die Türen zu schließen. Als er nun das Kind vor dem Altar knien und mit dem Gekreuzigten sprechen sah, wollte er es zunächst aus der Kirche jagen. Aber der Knabe bat, ihn hierzulassen, und sagte zu dem Heiland am Kreuz: »Nicht wahr, Gevatter, du hast es gern, wenn ich hierbleibe und mich mit dir unterhalte?«

Da nickte der Herr mit dem Kopf, so daß der Sakristan erschrak und in seiner Angst zu einem Kanonikus lief, um ihm alles zu erzählen. Als der Priester alles gehört hatte, sagte er: »Wenn du dich nicht getäuscht hast, dann muß es wohl eine sehr heilige Seele sein, wenn sie solche Wunder vollbringen kann. Da der Knabe aber schon lange in der Kirche weilt, so bringe ihm doch etwas zu essen, denn es wird ihn sicher hungern.«Da nahm der Sakristan einen Teller Makkaroni und einen Becher Wein und brachte ihn dem Kind in die Kirche. »Stell es nur dahin!« sagte der Knabe. »Ich werde gleich essen.« Dann wandte er sich wieder an den Heiland: »Gevatter, du bist wohl auch hungrig. Wer weiß, wie lange du schon nichts mehr zu essen bekommen hast. Willst du wohl mit mir speisen?« Dann nahm er den Teller mit den Makkaroni, kletterte auf den Altar und reichte dem Herrn die Speise, und dieser aß sie. Nach dem Essen aber fragte der Knabe: »Nun hast du sicher auch Durst. Wart nur, ich will dir auch gleich den Wein bringen.« Und er holte den Becher mit dem Wein und gab dem Herrn zu trinken. Der Kanonikus aber war mit dem Sakristan in die Kirche gekommen und hatte dem allem aus der Ferne zugesehen. Als er jedoch näher trat, fand er das Kind selig entschlafen, denn Gott hatte seine Seele zu sich genommen.



Bd-12-144_Maerchen aus Italien Flip arpa

Da ließ der Kanonikus alle Glocken des Domes läuten und in der Stadt verkündigen, es sei ein Wunder geschehen und es läge ein Heiliger im Dom. Da kamen alle Leute herbeigeströmt und sahen den aufgebahrten Leib des kleinen, unschuldigen Kindes, und alle lobten und priesen Gott. Unter der Menge war auch jener Bauer, der ihn aufgezogen hatte. Er erkannte sein Ziehkind und dankte Gott, daß er ihm die Gnade erwiesen hatte, das Kind bei sich zu haben. Dann kehrte er in sein Dorf zurück, und was er hinfort unternahm, gelang ihm, so daß er ein reicher Mann wurde. Er aber benutzte sein Geld nur, um den Armen Gutes zu tun, und lebte mit den Seinen ein frommes Leben, so daß er sich das Paradies erwarb. Und so möge es uns auch ergehen.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt